Corvus Kowenzl
Anlagenbestand
Ostalpenländische Universitätssatiren
Folge 22
Folgende bescheidene Zeilen präsentieren einige der markantesten Erinnerungen meines Berufslebens als Lehrer und Forscher an einer Universität mitten in den Ostalpen, im Lande des Grüß Gott. Die meisten dieser Erinnerungen stammen aus meiner Zeit als Leiter eines Instituts, jedoch war diese Position nicht in jedem Fall ausschlaggebend, sondern ganz einfach die Tatsache, dass ich ein Angehöriger der Universität bin.
Wer glaubt, dass das Tohuwabohu um die Chemikalienliste nicht zu toppen ist, dem sei in Erinnerung gerufen, dass vorliegende Satiren von der Universität erzählen, die ja schon nach ihrem verbalen Anspruch universitas unbedingt nach Höchstem strebt.
Die Chemikalienliste wird also locker übertroffen von einer anderen: der Anlagenbestandsliste. Und natürlich ist wiederum der Institutsleiter für alles direkt verantwortlich bis hinunter zu jedem Kaffeelöffel und jedem USB-stick, dem es allda im Bereich seiner herrschaftlichen Machtentfaltung gestattet ist herumzuliegen.
Der Angriff der Anlagenbestandsliste wird gänzlich anders vorgetragen als der laute, schreiende, aber letztlich verpuffte der Chemikalienliste. Nicht so! Die Inventarliste arbeitet wesentlich subtiler.
Es beginnt wie alle Unbill in diesen Zeiten mit einer Email plus Anhang. Die Email fordert zur Aktualisierung des gesamten Inventars – in der Fachsprache lustigerweise ‚Anlagenbestand‘ genannt – auf.
Zuerst dachte ich, na das kann ja wohl nicht viel sein, das schaffen wir locker an einem Tag! Doch je mehr ich die Bedeutung des Wortlauts der Email auslegte, desto mehr ging mir auf, dass es vielleicht zwei Tage dauern könnte. Und als ich schließlich das pdf-attachment aufmachte, ließ ich alle Hoffnung fahren: da öffnete sich eine Liste, nein, was sage ich – ein Abgrund, ein kafkaeskes unendliches Archiv, Seite um Seite um Seite um Seite um Seite um Seite um Seite. . . irre lachend scrollte ich die Liste bis zum letzten Eintrag am Ende hinunter.
Dort stand: „Kaiserlich-königliches Official-Sitzbehülfsmittel, Modell Zenith“ (ein Sessel, wie ich vermute), Anschaffungsjahr 1884. Von dort ging die Liste nach oben. Ich schaute auf das Datum: 8. November. Der Karneval beginnt aber erst am 11.11. Vielleicht irrtümlich verfrüht verschickt?
Ich telefoniere mit dem zuständigen Herrn von der Infrastruktur-Abteilung. Er ist sehr freundlich, nein nein, das hat nichts mit Karneval zu tun, hi hi, er hat Verständnis, aber die Liste ist gefälligst zu aktualisieren, und immerhin läuft die Frist erst am 13. Jänner des Folgejahres ab. Kleines Zuckerl vom Vizerektorat für Infrastruktur sozusagen.
Was tut der gewiefte Institutsleiter in einem solchen Fall? Er schreibt seinerseits eine Email. Ich trommle die Mitarbeiter zu einer Besprechung am Folgetag zusammen. Dort sitze ich dann einer Riege von misstrauischen und bereits vorbeugend mürrischen Laborantinnen gegenüber. Sie ahnen, dass wieder Extra-Arbeit im Busch ist.
Ich erkläre ihnen, dass jede in ihrem Wirkungsbereich den Inventar- pardon Anlagenbestand überprüfen sollte, so gut das eben rekonstruierbar ist, und mir die entsprechend aktualisierte Liste schickt. Ich führe diese Einzellisten dann zusammen in eine einzige (kommt mir irgendwie bekannt vor). Ich weise noch darauf hin, dass die MitarbeiterInnen davon Abstand nehmen sollten, die Liste auszudrucken, da dies mit einem Schlag unseren gesamten Vorrat an Druckerpapier aufbrauchen würde und das Budget jetzt im November schon verlocht genug sei, also bitte im pdf arbeiten. OK Chef, wird gemacht, die Versammlung löst sich auf. Ich bin erleichtert.
Wochen verstreichen, ich bekomme keine einzige Liste. Ich kenne das, und verschicke eine Email mit dem subject ‚Erinnerung Anlagenbestand Aktualisierung‘. Die einzige Antwort, die ich nach einigen Tagen bekomme, ist eine Mail mit der knappen Frage „Was ist damit gemeint?“
Mir beginnt zu dämmern, dass dies wieder einer jener Vorgänge ist, die individuelle Betreuung benötigen. Also mache ich mich zwischen Besprechungen, meetings und Emails beantworten, Emails schreiben und Versuchen, Leute am Telefon zu erreichen, die per Email nicht erreichbar sind oder nie waren, auf einen Rundgang in die Labors. Wir haben recht viele Labors, und da die Mitarbeiterinnen nicht alle dieselben Arbeitszeitpläne haben, erstreckt sich so ein Vorhaben über mehrere Tage.
Schließlich hatte ich mit wenigstens den meisten geredet. Es zeigte sich, dass sie sehr unsicher über die Art und Weise waren, wie sie die Aktualisierung angehen sollten. Sie trauten sich nicht, aus Angst, etwas falsch zu machen oder etwas zu übersehen. Ich spendete Trost und sagte, mit ein wenig Hausverstand, Mut und Frische kann man diese Liste vielleicht nicht perfekt, aber doch wenigstens soweit stimmig machen, dass Gegenstände wie ein „Kaiserlich-königliches Official-Sitzbehülfsmittel, Modell Zenith“ gestrichen würden. Oder habt ihr das „Modell Zenith“ noch irgendwo herumstehen sehen? Nein? Na also! – raus aus der Liste. So einfach ist das.
Erleichtert gingen sie an die Arbeit. In den folgenden Wochen bekam ich tatsächlich einige Listen. Doch eine grobe Prüfung zeigte, dass der bisherige Rücklauf unmöglich ausreichte, um die Gesamtliste einigermaßen stimmig zu aktualisieren. Die Fröhliche Weihnacht rückte inzwischen bedrohlich nahe. Nicht, dass ich den MitarbeiterInnen ihren Urlaub neide oder abspenstig machen wollte, aber die Erfahrung zeigt, dass von Weihnacht bis Dreikönig sagen wir mal: wenig geschieht!
Sogar die Börsen haben geschlossen und somit legt vermutlich auch die Erde auf ihrem Umlauf um die Sonne eine Pause ein. Ich wusste, was nun kommt. Zuerst Rücksprache mit der einzig Möglichen. Hast du vielleicht eine Liste bekommen? Nein! Welche Liste? Nach meiner Erklärung war sie entrüstet darüber, dass noch immer so viel ausständig war: die faulen Mädels in den Labors! Nein nein, du musst Verständnis für sie haben. Nun, also ich werde wohl oder übel über die Weihnachtszeit versuchen, diese Liste so gut als möglich zu aktualisieren. Ich helfe dir dabei, so ihre sofortige Reaktion. Das ist sehr nett, danke, aber ich werde erstmal alleine . . . nein nein nein, auf keinen Fall, das machen wir gemeinsam.
23. Dezember, zweiter Tag des gemeinsamen Sichtens. Es wird bald Abend. Ich bin erschöpft vom Inventarsichten, prüfen, die unendliche Liste auf und ab, unter dem ständigen Hin- und Herspringen und Gezwitscher der Sekretärin (aus welchen Tiefen holt sie eigentlich diese Energie?), die recht froh zu sein scheint, so eine gemeinsame Aufgabe ganz mit mir allein abarbeiten zu können.
Irgendwann fällt mir zwischendurch wieder ein, dass morgen ja dieses sogenannte Weihnachten ist und dass ich noch immer kein Geschenk für meine Partnerin habe. Wird morgen schnell erledigt, jingle bells nochmal! Ich merke, wie ich langsam einknicke, ich mag nicht mehr, ich will nach Hause. Da erscheint einer der früheren Dozenten des Instituts am Plan. Wieso ist der ausgerechnet heute hier? Damit die Frau den Christbaum ungestört schmücken kann?
Hager, angetan mit einem weißen Labormantel, der sein Markenzeichen seit je ist, dicke Brille im Gesicht, wie ein Geist steht er da. Reflexartig schaue ich auf die Anlagenbestands-Liste, finde ihn aber nicht.
„Was macht ihr da?“ so seine mit feierlichem Ernst vorgebrachte Frage. Ich lasse die Sekretärin die Antwort zwitschern in der Hoffnung, dass er sie nicht versteht. Aber wie das manchmal so ist, er versteht alles ganz genau. Sofort mischt er sich ein.
„Wollt ihr das alles rauswerfen? Was? Das habt ihr bereits ausgemustert? Aber das war ja noch gut!“ Ich erkläre ihm, dass heute kein Schwein mehr einen Gesteinsanschliff mit einer Reflexionslicht-Makrophoto-Anlage Modell „Osiris 3A Helios“, geschätztes Gewicht 160 kg und etwa 1.5 x 2 x 1 m in den Außenmaßen photographiert.
„Aber die ging noch, die war noch gut!“ insistiert er. „Hättest du sie in deine Wohnung genommen?“ frage ich. „Nein, in meiner Wohnung habe ich doch keinen Platz“, antwortet er ganz ernsthaft. „Siehst du, uns geht hier auch der Platz aus, wenn wir nicht immer wieder mal etwas ausmustern“. „Nein, nein, sowas darf man doch nicht weggeben!“ brüskiert er sich wieder. „Wir sind ein Institut und kein Museum. Übrigens hatte auch das Museum kein Interesse, wir haben sogar nachgefragt.“ „Nein, also ich würde die niemals weggegeben!“ beharrt der alte Sack, „niemals, sowas ist Raubbau. Was macht ihr nur mit meinem Institut?“
Er war vor grauer Vorzeit auch einmal Institutsleiter. Ich antworte ihm jetzt nicht mehr, es ist vergeblich. Er steht uns im Weg, blickt um sich, stets etwas zu langsam, um unseren Bewegungen rechtzeitig zu folgen. Ich unterdrücke eine Regung, ihn aus dem Weg zu schieben.
Endlich realisiert er, dass er sich hier nicht durchsetzen kann und schlurft schimpfend zurück zu seinem akademischen Ausgedinge, einer kleinen Arbeitskoje mit einem prähistorischen Mac, der unter Sammlern ein Vermögen wert wäre.
„Ich geh jetzt heim“, sage ich zur Sekretärin. Normalerweise widerspricht sie dieser Aussage mit dem Hinweis, ich müsste noch irgendein Formular unterschreiben. Sie spürt wohl, dass für heute der Ofen aus ist, kein Verhandlungsspielraum.
„Bist du morgen da?“ ihre Frage.
„Halbtags, aber ich muss noch Geschenke kaufen, morgen ist ja Weihnachten“, antworte ich.
„Ach ja, stimmt. Aber nach Stefani bin ich wieder da. Bist du auch da?“
„Wohl oder übel“, antworte ich, „wir werden noch ein paar Tage brauchen, bis die Liste einigermaßen stimmt.“
„Ja, und denk dran, du als Institutsleiter haftest persönlich mit deiner Unterschrift für die Richtigkeit der Liste“, rezitiert sie; sie hat manchmal derartige moralinsaure Anfälle, ich kenne das bereits.
„Danke, weiss ich. . . es ist ein Wunder, dass ich nicht auch für Weihnachten verantwortlich bin, mein persönliches Weihnachtswunder sozusagen. . . bist du auch ganz sicher, dass ich da nicht doch irgendwo unterschreiben muss?“
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