Gesamttext
Alois Schöpf
Zu satt, zu ignorant und zu selbstbezogen
Über das Theater und die Oper der Zukunft
Essay

Aus den Zimmerfluchten seiner römischen Renaissancepaläste rief Papst Franziskus zur Unterstützung der Kulturschaffenden auf: „Die Welt braucht Schönheit, um nicht in Verzweiflung zu versinken.“ Nicht minder deutlich formulierte es Riccardo Muti beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, wenn er meinte, die physische und psychische Gesundheit seien das Höchste, wobei für letztere die Musik unverzichtbar sei. Eher nostalgisch äußerte sich die Sängerin, Regisseurin und ehemalige Intendantin des Tiroler Landestheaters Brigitte Fassbaender, wenn sie in einem Gastkommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 26. November 2020 davon schwärmte, wie hoch unmittelbar nach dem Krieg und inmitten von Trümmern und größter Not der Stellenwert der Kunst gewesen sei und die Menschen Konzerte und Theater besucht hätten, „um dem Überleben Sinn und Ziel zu geben.“ Ganz im Gegensatz zu heute! Da leide kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich mehr unter den Einschränkungen aufgrund der Pandemie als die Kultur und die Kulturschaffenden, deren Nöte fast kein Gehör in der Gesellschaft fänden. Dabei seien, wie Fassbaender in Übereinstimmung mit Muti betont, Musik, Literatur, Malerei, Theater, Galerien und Museen etwas vom Wichtigsten im Leben. Ihr Fazit: Wir seien, um dies zu erkennen, inzwischen „zu satt, zu ignorant, zu selbstbezogen und zu oberflächlich geworden.“

Brigitte Fassbaender ist eine weltgewandte und höfliche Dame. Daher spricht sie elegant von „wir“, um uns, das Publikum, auf das die Kulturschaffenden angewiesen sind, nicht mit einer Stellungnahme zu beleidigen, in der sie um Sympathien für ihr Anliegen wirbt. Sie spricht aber auch von „wir“, weil sie weiß, dass auch Kulturschaffende, die hoffen, uns, das Publikum, zu erreichen und von ihm geschätzt zu werden, zugleich selbst Publikum sind, das sich mit schlechtem Gewissen immer wieder eingestehen muss, zu wenig Zeit und Energie zu haben oder aufwenden zu wollen, also zu satt und zu selbstbezogen zu sein, um die Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen vor allem im Bereich der dramatischen Künste Oper und Theater, die von Covid 19 am massivsten betroffen sind, mehr als nur oberflächlich zu würdigen.

Ihr „wir“ ist also in zweifacher Hinsicht stimmig, insofern es auf ein Publikum abzielt, das anderen Erwerbstätigkeiten nachgeht, aber auch ein Publikum anspricht, das zu einem nicht unerheblichen Anteil aus uns selbst, auch dem Autor dieser Zeilen, besteht. Damit jedoch ist die Frage naheliegend, ob wir, wenn wir schon in unserer Rolle als Publikum zu satt, zu ignorant, zu selbstbezogen und zu oberflächlich geworden sein sollten, dies möglicherweise auch als Künstler und Kulturschaffende wurden?

In diesem Zusammenhang gilt es, Fassbaenders nostalgische Bemerkung von der Bedeutung der Kunst in der unmittelbaren Nachkriegszeit genauer unter die Lupe zu nehmen. Ohne hier billigem Antifaschismus zu huldigen, dürfte inzwischen soweit Einigkeit über die geschichtliche Entwicklung bestehen, dass die Katastrophe der Nachkriegszeit nur dadurch bewältigt werden konnte, dass die noch viel größere humanitäre Katastrophe der Kriegszeit und hier vor allem die Abgründe des Holocaust radikal verdrängt wurden und gleichsam mit unschuldigem Herzen und reinem Gewissen das Ideal des klassischen Bildungsbürgertums vom Geistesadel und einem Volk der Dichter und Denker wieder aufgenommen wurde. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Ideale in Gestalt von kunstsinnigen und zugleich pathologischen Tätern und ebenso kunstsinnigen und karrierebewussten Opportunisten mit nur wenigen rühmlichen Ausnahmen ihre Untauglichkeit bewiesen hatte, der Tötungsmaschinerie einer Diktatur zu widerstehen.

Ganz in diesen psychischen Überlebensprozess des Verdrängens passen denn auch die Pultstars der philharmonischen Konzerte, die nach oberflächlicher Entnazifizierung gleichsam den Führerkult statt vor der Wehrmacht nunmehr als Kulturschaffende vor dem Orchester zelebrieren durften. Es genügt an dieser Stelle auf die spektakuläre Verfilmung einer Aufführung der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven unter der Leitung von Herbert von Karajan zu verweisen, in der suggeriert wird, der in seiner Allgewalt fuchtelnde und mit Stenz-Frisur aufgeschmückte Maestro habe aus den Tiefen seiner schamanistisch-vulkanischen Seele heraus das Werk selbst komponiert und die armen Musiker der Berliner Philharmoniker seien lediglich seine Exekutiv-Marionetten. Die Sehnsucht, statt eines politischen Führers zumindest zu großen Dirigenten und mit ihnen zu den hehren Werten der Kultur aufblicken zu dürfen, führte denn auch in Folge zur Bereitschaft Deutschlands und Österreichs, sich zwecks Entlastung des schlechten Gewissens mittels massiver öffentlicher Subventionen zu Kulturnationen umzudeuten, ein eigenartiges posthöfisches Amalgam, das, wie etwa an der Entwicklung der Salzburger Festspiele abzulesen ist, speziell in Österreich zu einer neuen, kulturtouristisch äußerst gewinnbringenden Identität führte, die den Wiederaufbau und das beginnende Wirtschaftswunder durch den Glauben an das Wahre, Gute und Schöne psychologisch und kommerziell unterfütterte.

Dass diese heile Welt, der Brigitte Fassbaender etwas zu naiv nachtrauert, auf einer zwar psychohygienisch verständlichen, jedoch langfristig unhaltbaren kollektiven Lüge aufbaute, an den Untaten des Naziregimes gar nicht oder nur am Rande beteiligt gewesen zu sein – dies zu dekonstruieren blieb der sogenannten 68er-Generation vorbehalten, die, in der reinen Luft der unbefleckten Humanismus-Ideale aufgewachsen und erzogen, plötzlich deren die Vergangenheitsbewältigung verhindernde Funktion durchschaute: als Kulisse des Schönen zur Vertuschung des Allerschrecklichsten zu dienen, für das die Verantwortung zu übernehmen sich die Elterngeneration in eisernem Schweigen weigerte. Nicht nur politisch, sondern vor allem kulturell sollten die Folgen dieser Erkenntnis dramatisch ausfallen. Denn so effizient sich in der Politik ein starker Staat gegen den Terror von Dilettanten in Gestalt der Roten-Armee-Fraktion zu wehren wusste, so lange dauerte es, die utopischen Idyllen des Marxismus, Kommunismus, Leninismus, Trotzkismus und Maoismus als bestialische Alternative zu einem immer mehr Bürger miteinbeziehenden Wirtschaftswunder bloßzustellen. Noch im Jahre 1968 ließ ein windschlüpfriger Hans Magnus Enzensberger in seinem Kursbuch einen Peter Weiss von seiner schwedischen Holzhütte aus dazu aufrufen, es sei Zeit für die Kollegenschaft, nunmehr ihre Schreibtische zu verlassen und zum Gewehr zu greifen. Die klammheimlichen Heilserwartungen an eine Revolution sind das Myzel geblieben, von dem der Schimmelbefall des Regietheaters bis heute lebt. Eine ganze Generation ursprünglich durchaus zu Recht rebellierender Kulturschaffender verstand es, ihre Karrierechance zu nützen und sich auf den Sesseln jener breit zu machen, die zuerst von den Nazis vertrieben und wohlweislich aus dem Exil nicht mehr zurück geholt wurden oder die aufgrund von Mittäterschaft zumindest eine Zeit lang aus dem Verkehr gezogen werden mussten und anschließend mit den Fährnissen eines fragwürdigen Rufes zu kämpfen hatten. Mit dem Furor von ihren Eltern hinters Licht Geführter und dem Fortschreiten der Geschichte Verpflichteter stellten sie das Abendland als Ganzes unter Faschismusverdacht und bürsteten die je nach Lust und Laune zur Exekution freigegebenen Werke der Oper oder des Theaters im Sinne antifaschistischer Hygienemaßnahmen gegen den Strich.

Es seien hier nur einige der besonders anpassungsfähigen Persönlichkeiten und paradigmatischen Karrieren im Bereich der Musik und des Theaters erwähnt. Sie stehen für eine Entwicklung, zu einer so nachhaltigen Verärgerung und Abwanderung des Publikums geführt hat, dass es nicht weiter verwundert, wenn ausgerechnet die Nöte jener, die früher stolz die Spitzen der Hochkultur repräsentierten, heute einer breiten Bevölkerung vollkommen gleichgültig geworden sind.


Für die Musik:
Pierre Boulez und Konsorten

Richard Strauss schrieb im Jahre 1948 als eines seiner letzten Werke „Vier letzte Lieder“, die mit Eigenzitaten und Zitaten aus dem „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms nicht nur einen Abgesang auf das eigene Lebensende darstellen, sondern auch als letzte melodische Morgengabe nach der Finsternis des Naziterrors eine Jahrhunderte währende Entwicklung der abendländischen Musik abschließen. Die Uraufführung des Liederzyklus fand 1950 in London statt, Richard Strauss war zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben. Wilhelm Furtwängler, wie Strauss der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt, leitete das Konzert.

Zwei Jahre später besuchte ein gewisser Pierre Boulez zum ersten Mal die „Internationalen Ferienkurse für Neue Musik“ in Darmstadt, deren Anliegen es war, die während der Nazizeit aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit entschwundene internationale Entwicklung der zeitgenössischen Musik in Deutschland nachzuvollziehen. So wurden Werke von Arnold Schönberg, Anton Webern, Igor Strawinsky und Béla Bartók zum ersten Mal aufgeführt, noch viel wichtiger jedoch als diese Konzerte war der Aufmarsch von Großtheoretikern, unter ihnen auch Theodor W. Adorno, der bekanntlich den Jazz als ein nicht ernst zu nehmendes Trivialprodukt der Kulturindustrie und Dimitri Schostakowitsch, eines der größten Genies des 20. Jahrhunderts, als epigonalen Neoklassizisten abqualifizierte. An der Seite der Großdenker, die von nun an den Komponisten vorschreiben sollten, wie ihre Werke zu klingen hätten, kamen auch Komponisten wie Edgard Varèse, Olivier Messiaen, Ernst Krenek oder John Cage. Letzterer vor allem berühmt durch sein Stück „4‘33‘‘, über das in Wikipedia zu lesen ist: „Da während der gesamten Spieldauer der Komposition kein einziger Ton gespielt wird, stellt ihre Aufführung die gängige Auffassung von Musik in Frage. „4′33″“ wurde so zu einem Schlüsselwerk der Neuen Musik und regt dabei Zuhörer wie Komponisten und Interpreten gleichermaßen zum Nachdenken über Musik und Stille an.“

Vor dem Hintergrund solcher Verschrobenheit wundert es nicht, dass der rührige und marketingbewusste Pierre Boulez, der mit Unterstützung der französischen Regierung im Centre Pompidou in Paris ein Forschungsinstitut für Akustik/Musik (IRCAM) gründen konnte, seine berühmte Forderung erhob, die Opernhäuser der Welt in Flammen aufgehen zu lassen. Diese radikale Absage an die neben den Kirchen bedeutendsten sakralen Zentren der abendländischen Kultur hinderte Boulez jedoch nicht, ab den 1960-er Jahren zuerst als Gastdirigent, dann als Chefdirigent die Leitung bedeutender klassischer Orchester wie des Cleveland Orchestra, des BBC Symphony Orchestra und als Nachfolger Leonard Bernsteins das New York Philharmonic Orchestra zu übernehmen. Höhepunkt seiner Karriere waren als geradezu grotesker Kontrast zu den Sprüchen vom Beginn seiner Laufbahn allerdings seine Dirigate in Bayreuth, dem absoluten Zentrum großbürgerlicher Hochkultur, wo er neben „Parsifal“ musikalisch jenen „Jahrhundertring“ betreute, in dem der junge französische Regisseur Patrice Chéreau der festlich gekleideten deutschen Plutokratie marxkompatibel ihre eigene Verkommenheit vor Augen führte.

Die Kompositionen von Pierre Boulez sind hochkomplex, verkopft und nur für Personen genießbar, die über eine große Hörerfahrung in Sachen klassischer bzw. zeitgenössischer Musik verfügen. Über die Eigenschaft großer Musik, die in der Lage ist, grundlegende menschliche Emotionen auszuformulieren, weshalb sie immer wieder angehört werden möchte, verfügen die Werke von Boulez nicht. Sie müssen ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung auf die liebende Zuwendung eines breiteren Publikums immer noch verzichten und werden diese Zuwendung auch niemals finden. Sie repräsentieren vielmehr paradigmatisch eine Musik, die sich vom Anspruch verabschiedet hat, nicht nur emotionaler Echoraum einer kulturell interessierten, ästhetisch gebildeten Gesellschaft zu sein, sondern auch in der Breite der Populär- und Volkskultur die Herrschaft über die gerade aktuellen Hits und Gassenhauer ihrer Zeit innezuhaben.

Die zeitgenössische Musik wurde unter dem Diktat ihrer avantgardistischen Herrscher, die bis heute über ihre Theoretiker und Kulturredakteure die Claims subventionierter Überlebensnischen verwalten, zu einer Angelegenheit abgehobener und distinktionsgeiler Spezialisten, die ihren Selbstwert daraus beziehen, Klänge genießen zu können, vor denen das breite Publikum, zwar beschämt ob seiner Dummheit umso konsequenter die Flucht ergreift. Die Klage über die pandemiebedingte Not ihrer Tonschöpfer rührt die Öffentlichkeit umso weniger als der künstlerische Hungertod einer im Greisenalter erstarrten Avantgarde als Silberstreifen am Horizont die Hoffnung aufkommen lässt, der sogenannten neuen Musik könne doch noch irgendwann eine neuere folgen, die sich auf den päpstlichen Traum von der Schönheit, was immer das sein mag, besinnt und der schon viel zu lange dominierenden Kakophonie in den Konzertsälen ein Ende bereitet.


Für das Theater:
Peter Handke, Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard

Jeder Musikliebhaber soll selbst beurteilen, wie ihm die Werke eines Pierre Boulez gefallen. Über YouTube sind sie jederzeit mit wenigen Klicks zugänglich. Dies gilt in abgewandelter Form auch für die literarischen Werke eines Peter Handke, einer Elfriede Jelinek und eines Thomas Bernhard, die in zahlreichen Publikationen vorliegen bzw. im Falle von Elfriede Jelinek sogar über eine eigene Homepage abgerufen werden können.

Es geht hier also weniger darum, die literarische Qualität der genannten Autoren zu beurteilen. Dies soll den Leserinnen und Lesern selbst vorbehalten bleiben. Es geht vielmehr um die Auswirkungen, welche die eigenartigen Karrieren der Genannten und ihre oft unverdaulichen und beleidigenden Werke auf das Image der Kulturschaffenden speziell im Bereich des Konzertlebens, der Oper und des Theaters hatten und haben. Denn nur wer zu begreifen imstande ist, in welchem Ausmaß, unterfüttert mit der Macht staatlicher Subventionen und einzementiert im Sendeschema staatlicher Rundfunk- und Fernsehanstalten ein breites und im Prinzip gut- und lernwilliges Publikum durch Leute wie Boulez, Handke, Jelinek, Bernhard und ihre zahllosen Replikanten vor den Kopf gestoßen wurde, kann nachvollziehen, dass die Corona-bedingten ökonomischen Nöte vieler Kulturschaffender, die nicht das Glück hatten, ein Angestelltenverhältnis zu ergattern, auf wenig Empathie stoßen und daher gesellschaftspolitisch nicht wahrgenommen werden.

Dennoch sei, was die literarischen Qualitäten eines Peter Handke betrifft, auf den Beitrag Egyd Gstättners verwiesen, der am 28.10.2020 im vorliegenden schoepfblog von seinen quälenden Leseerfahrungen berichtet, denen er bei der Lektüre der ersten 28 Seiten des Romans „Die Obstdiebin“ ausgesetzt war. Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle auch meine eigene Analyse von „Versuch über den Stillen Ort“, ein ziemlich groteskes Büchlein, in dem sich der Autor seinen auch in diesem Fall äußerst dürftigen und verschrobenen Erfahrungen auf oder in verschiedenen Toilettenanlagen der Welt widmet. Die Analyse erfolgte in meinem Buch „Wenn Dichter nehmen“, einer Darstellung des korrupten österreichischen Literaturbetriebs und hier insbesondere des Handels mit sogenannten Vorlässen, also Nachlässen zu Lebzeiten des Dichters, aus denen Handke, als einer der tüchtigsten von allen, bereits vor der Zuerkennung des Nobelpreises in Deutschland und Österreich an die 700.000 € an öffentlichen Mitteln lukrierte.

Damit sind wir jedoch bei der zentralen Qualifikation nicht nur dieses Dichters angelangt. Was Handke betrifft, so bewies er sein Marketinggenie bereits im April 1966, als er bei Erscheinen seines ersten Romans „Die Hornissen“ in Princeton die älteren Schriftstellerkollegen der Gruppe47 anflegelte und der Beschreibungsimpotenz bezichtigte. Besonders im Fokus stand dabei Hans Werner Richter, Initiator und graue Eminenz der Gruppe 47, von dem ich aus persönlicher Leseerfahrung nur sagen kann, dass er mich mit seinem Kriegs-Roman „Die Geschlagenen“ wesentlich nachhaltiger beeindruckte, als es je einem der Werke Peter Handkes gelungen ist, die biedere realistische Erzählung über die Mutter des Autors „Wunschloses Unglück“ miteingeschlossen. Handkes Auftritt verursachte im Feuilleton jedenfalls genau jenen Sturm im Wasserglas, der notwendig war, um seiner im Juni desselben Jahres erfolgenden Premiere „Publikumsbeschimpfung“ die notwendige Resonanz zu verschaffen. Ab diesem Zeitpunkt war Handke als der dichtende Schatten einer ganzen Generation inthronisiert. Stammelnd, narzisstisch, sprachzweiflerisch, sprachverzweifelt und ununterbrochen auf der Suche nach sich selbst nahm er es von nun an gleichsam als ein Christus der 68-er Revolutionäre auf sich, mitten im Wirtschaftswunder und somit durch die Gnade der Geburt vom Kreuzestod befreit, über Frauen, Beziehungskisten, Scheidung, den Status des alleinerziehenden Vaters, des seine ursprüngliche Heimat Wiederentdeckenden, als Diktatorenfreund Missverstandener und Wütender den Marsch seiner Generationskollegen und Generationskolleginnen durch die Institutionen bis zuletzt als immer versponnenerer, esoterischerer Gartenlaubeautor zu begleiten.

Wenn man schon bei Peter Handke nur noch ungläubig den Kopf schütteln kann, wie ein solch mittelmäßiger Autor jemals den Nobelpreis zugesprochen bekommen konnte, ist das Erstaunen bei Elfriede Jelinek noch größer. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, wie auch in der Wiener Zeitung vom 1.1.2020 festgestellt wird, dass die präzise recherchierte Reportage der schwedischen Autorin Matilda Gustavsson „Klubben“ (deutsch: Der Club) bislang noch keinen deutschsprachigen Verleger fand, wird darin doch ein Blick hinter die Kulissen einer Schwedischen Akademie geworfen, in der bis zu ihrer Reform im Jahr 2019 sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung waren und die Nominierung von Preisträgern von den Intrigen besonders dominanter Jurorinnen und deren Gatten abhängig war. Nur wer diesen korrumpierten Sumpf einer offenbar vollkommen abgehobenen schwedischen Literaturszene miteinberechnet, ist nicht weiter über Entscheidungen erstaunt, aufgrund derer Schriftsteller und Schriftstellerinnen den höchsten literarischen Preis erhielten, deren Format etwa im Verhältnis zu einem Alexander Solschenizyn, der den Preis im Jahre 1970 zugesprochen bekam, nur noch als zwergenhaft eingestuft werden kann. Wer dies im Hinblick auf Elfriede Jelinek bestreitet, möge von einem ordentlichen Gericht dazu verurteilt werden, 100 Seiten von einem jener Texte zu lesen, die als Mahnmal manifester Logorrhö unter https://www.elfriedejelinek.com/ einsehbar sind.
Jelinek Karriere entwickelte sich aus den zeitgeistigen Freifahrscheinen Kommunismus, Antifaschismus, Feminismus und professionelle Selbstpräsentation als aparte, um nicht zu sagen schöne deutsche Dichterin und endet zunehmend aufgrund der Wertminderung des ersteren und letzteren in immer größerer Verbitterung. So bedeutungslos sie am Buchmarkt wurde, für das Theater taugt sie noch immer, sind ihre Textflächen und Montagen doch willkommene Benefits für Regisseure, die entweder nicht in der Lage oder zu faul sind, sich ihre Stücke selbst zu schreiben, es zugleich jedoch als Zumutung empfinden, sich als erhabene Geistesgrößen der logisch voranschreitenden Handlungsführung eines Autors, der sie nicht selbst sind, unterzuordnen. Das politisch korrekte Gebrabbel der Dichterin bietet Ihnen die willkommene Gelegenheit, den Fundus aller inzwischen bis zum Abwinken bekannten Trivialitäten des Regietheaters noch einmal auf ein Publikum loszulassen, das, linksliberal, spießig, siebengescheit und sich für gebildet haltend, vor allem um Zwecke des Get-togethers und Distinktionsgewinns im Zuschauerraum sitzt und nicht, um irgendetwas Neues über die Welt und ihre meist ohnehin als rechtsradikal abqualifizierten Zeitgenossen zu erfahren.

Wenn Thomas Bernhard aufgrund seiner Krankheit nicht viel zu früh gestorben wäre, hätte wohl er und nicht Handke oder Jelinek den Nobelpreis erhalten. Er hätte ihn jedenfalls mehr verdient. Durch seine unglaublich musikalische Sprache und sein kreisförmiges Insistieren auf existenziellen Problemen, dieses In-sich-selbst-verbohrt-sein, das die meisten Menschen von jenen Wachträumen her kennen, mit denen sich etwa eine Grippekrankheit ankündigt, oder von denen viele Menschen auch untertags gequält werden, wenn sie etwa mit einer gefährlichen Krankheitsdiagnose konfrontiert wurden und nun plötzlich in einer Mischung aus Abwehr und Zurkenntnisnahme dem eigenen Lebensende gegenüberstehen: dieser aus großem sprachlichen Können, oberösterreichischer Melancholie und einer durch die eigene lebenslängliche Krankheit gekennzeichneten Selbstbefragung und Selbstbeobachtung entwickelte unverwechselbare Duktus ließ Bernhard zweifelsfrei zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der letzten Jahrzehnte im deutschsprachigen Raum aufsteigen. Was ihn zudem von Handke und Jelinek unterscheidet, ist sein Humor und seine Selbstironie, durch die etwa ein Roman wie „Holzfällen“ nicht nur zu einer gnadenlosen Abrechnung mit einer läppischen, eitlen Kulturszene wird, sondern auch zu einem humoristischen Meisterwerk, in dem sich der Autor selbst genauso wenig schont wie die übrige feine Abendgesellschaft.

Dennoch liegt es auf der Hand, dass Bernhard, der im Grunde ein ganzes Leben lang nur einen einzigen Monolog fabrizierte, den er je nach Bedarf mit der Schere durchtrennte und für den Verkauf als Roman oder für die Bühne freigab, kein einziges Stück geschrieben hat, das auch nur ansatzweise die üblichen und über Jahrhunderte bewährten dramaturgischen Bedingungen eines Theaterstücks erfüllt. Es ist auch nicht bekannt, dass er mit seinen Stücken eine auch für andere Schriftsteller gültige Revolution einleiten wollte. Nein, in gleicher Weise wie Handke, der inzwischen nur noch Anleitungen dafür gibt, in welcher Weise sich Schauspieler unter welchem esoterischen Aspekt und mit welcher Körperhaltung von links nach rechts auf der Bühne zu bewegen haben, und in gleicher Weise wie Jelinek ihre Textflächen abliefert, um einem Regisseur die Gelegenheit zu bieten, sich auszutoben, in genau dieser Weise kreierte auch Bernhard Schwatzköpfe, die sich einen ganzen Abend lang über die Kunst oder über das angeblich immer noch nationalsozialistische Österreich auszulassen hatten, eine unendlich sich dahinziehende Qual, der ich mich bei der Uraufführung des Stücks „Die Jagdgesellschaft“ am Burgtheater in Wien 1974, von Fernsehübertragungen abgesehen, zum ersten und letzten Mal unterzog. Dass Bernhard angesichts solch qualitativer Mängel in gleicher Weise ein charakterlich angreifbarer und ganz bestimmt geldgieriger Karriereplaner und Marketingstratege war, – bekannt ist die Anekdote, dass ihm zum Tod Heimito von Doderers lediglich der Ausspruch einfiel: Gott sei Dank, jetzt bin ich der Erste! – geht nicht nur aus dem Briefwechsel mit seinem Verleger Siegfried Unseld hervor. Auch der Immobilienmakler und Ferkelhändler Karl Ignaz Hennetmair schildert in seinem Buch „Ein Jahr mit Thomas Bernhard“ eindrucksvoll, wie bei der Uraufführung des Stücks „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ am 29. Juli 1972 im Salzburger Landestheater im Rahmen der Salzburger Festspiele durch die Forderung, auch die Notfallbeleuchtung auszuschalten, ganz bewusst und auf mieseste Art ein Theaterskandal provoziert wurde, der am Markt der Aufmerksamkeit wesentlich größere Wirkung erzielte als das wiederum dröge und gegen alle Regeln der dramaturgischen Künste heruntergeschriebene Stück.

Zentrale Figur bei all diesen Theateraufführungen der Handkes, Bernhards und Jelineks war Claus Peymann, der es gemeinsam mit seinen Autoren als geradezu paradigmatischer Fall für den Marsch durch die Institutionen zuletzt schaffte, am selbsternannten bedeutendsten Theater deutscher Sprache, dem Burgtheater in Wien, die Führung zu übernehmen. In erstaunlicher Parallele zu einem Pultstar wie Herbert von Karajan, der als Opportunist des Naziregimes seine Karriere begann und sich dennoch in der Nachkriegszeit große Verdienste um die klassische Musik erwarb, gelang es auch dem Hamburger Lehrersohn Claus Peymann, gleichsam spiegelbildlich, als Opportunist der linksradikalen Szene von RAF-Sympathisanten gemeinsam mit Peter Zadek und Peter Stein das Theaterleben Deutschlands ab seiner Intendanz in Bochum ab 1979 mit großartigen Aufführungen zu revolutionieren. Mit ihm und seinen Kollegen hielt das Regietheater in den deutschen Landen Einzug. Aus der ursprünglich durchaus verständlichen und löblichen Absicht, die Lüge vom deutschen Geistesadel und, wie schon gesagt, einer durch kein Drittes Reich unterbrochenen Tradition vom Volk der Dichter und Denker bloßzustellen, entwickelt sich mit zunehmendem Erfolg dieses Ansatzes auf Basis von Stücken, die keine waren, eine alles beherrschende und durch staatliche Subventionen vor dem Absturz gesicherten Theatermarotte. Wo zuerst die Stücke, von Sophokles bis in die Gegenwart, mit antifaschistischem und antikapitalistischem Engagement auf den Verdacht nationalsozialistischer, später auch antifeministischer Valenzen hin untersucht wurden, ging in inquisitorischer Hemmungslosigkeit jeder Respekt vor der Arbeit längst verstorbener, aber auch noch lebender Autoren verloren. Dies führte soweit, dass auf ihre Mitwirkung bald überhaupt verzichtet werden konnte. Entsprechend hat es die Dritte Generation der Regietheaterregisseure und Intendanten in der Nachfolge ihrer Gründerväter inzwischen geschafft, Zeitgenössisches von Autoren, die sie nicht selbst sind, in die Keller und Lusterböden ihrer subventionierten Musentempel abzudrängen, damit nicht der Vorwurf erhoben werden kann, sie hätten für zeitgenössische Literatur nichts übrig. Für die mittelgroßen und großen Bühnen schreiben sie sich, wenn nicht von Jelinek oder allfälligen Nachfolgerinnen Textflächen zur Verfügung stehen, die Stücke inzwischen lieber selbst. Oder sie bearbeiten, was weniger Aufwand bei gleichzeitig ähnlich hohen mit dem Regiehonorar kombinierten Autorenhonoraren erfordert, Romane zum Beispiel eines Dostojewski oder erfolgreiche Filme für das Theater, was zur Folge hat, dass der Spielplan der meisten Theater im Hinblick auf aktuelle Produktionen zumindest zur Hälfte aus Bearbeitungen von Werken besteht, die ursprünglich nicht für das Theater verfasst wurden. Die Klage von Theaterautoren, sie müssten aufgrund der Corona-Pandemie des Hungers sterben, entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, sterben sie doch schon seit Jahren aufgrund der Ignoranz von Theaterintendanten und Regisseuren.


Zerstörte Künste, zerstörte Künstler

Wenn Schriftsteller Schriftstellerkollegen kritisieren und dabei die Verehrungslust von Leserinnen und Lesern beleidigen, ist der Vorwurf nicht fern, sie seien lediglich neidisch, weil sie es, dem Fuchs gleich, der nach den Trauben schielt, selbst nicht geschafft haben, in den von ihnen kritisierten Olymp der Weltliteratur oder zumindest der Nationalliteratur aufzurücken. Da es sich im Folgenden allerdings um Komponisten handelt, kann dieser Verdacht – zumindest vorläufig – entfallen und es möge der durchaus von Bewunderung getragene Hinweis genügen, dass neben den oben erwähnten Marketinggenies, welche die Gunst der Stunde zu nutzen verstanden und dabei vorbildhaft das Konzertleben, die zeitgenössische Oper und das zeitgenössische Theater ruinierten, weiterhin bedeutende Komponisten und nicht minder bedeutende Autoren Werke schufen, mit denen sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch leichter, in der Folge der sogenannten 1968-Revolution zunehmend schwerer reüssieren konnten, bis ihnen zuletzt, nach der fast vollständigen Machtübernahme durch Dirigenten und Regisseure nur noch die Chance blieb, durch hohes Alter das Vergessen-werden biologisch zu überleben und sich zuletzt durch einen medial wirksamen Tod noch einmal beim Publikum in Erinnerung zu rufen. Viele haben nicht einmal das geschafft und mussten sich im Alter voll Bitternis die Frage stellen, ob sie nicht doch etwas falsch gemacht hatten, indem sie sich zugunsten ihrer intrinsischen Lust und Freude an der Musik gegenüber den intellektualistischen Schalmaiengesängen der Avantgarde verschlossen zeigten.


Komponisten

Das hanebüchene Fehlurteil eines Theodor Adorno über Dimitri Schostakowitsch (1906 – 1975) wurde bereits erwähnt. Man kann davon ausgehen, dass sein Urteil über Sergei Prokofjew (1891 – 1953) oder Aram Chatschaturjan (1903 – 1978) nicht viel anders ausgefallen wäre. Dennoch haben diese als Neoklassizisten abqualifizierten Komponisten inzwischen die Konzertsäle der Welt erobert. Dabei ist es nicht nur einem Schostakowitsch gelungen, durch seinen Walzer Nr. 2 aus seiner „Jazzsuite“ Eingang in das auf ein Massenpublikum abgestimmte Programm eines André Rieu zu finden. Auch Prokofjews Werke sinterten, zum Beispiel durch seinen Marsch aus der Oper „Die Liebe zu den drei Orangen“ oder durch Teile seiner Ballettmusik zu „Romeo und Julia“, bis in die Niederungen des musikalischen Gemeinguts herab, wie es ja auch einem Aram Chatschaturjan gelang, mit seinem Adagio aus dem Ballett „Spartacus“ die Kennmelodie zur international erfolgreichen Fernsehserie „The Onedin Line“ beizusteuern. Unverzeihlich lange zog es sich hingegen hin, bis auch in unseren Landen das großartige Werk des Zeitgenossen und Freunds Schostakowitschs Mieczysław Weinberg (1919 – 1996) zur Kenntnis genommen und etwa bei den Bregenzer Festspielen seine Oper „Die Passagierin“ eine bejubelte Aufführung erlebte. Oder auch unter der engagierten Chefdirigentin Mirga Gražinytė-Tyla das City of Birmingham Symphony Orchestra bei den BBC Proms Weinbergs 3. Sinfonie einem internationalen Publikum zur Kenntnis brachte.

Die Liste jener, welche der Diktatur der kakophonischen Avantgarde speziell in Deutschland und Österreich zum Opfer fielen, könnte noch lange fortgesetzt werden. So verzichten zunehmend erst in den letzten Jahren, durch die Karriere des jugendlichen Stardirigenten Gustavo Dudamel dazu angehalten, auch die heimischen Programmplaner auf die kolonialistische Arroganz, südamerikanischen und mittelamerikanischen Komponisten abseits des Spaßmachers Maurizio Kagel von vornherein zu unterstellen, mit den künstlerischen Entwicklungen in Europa nicht mitgehalten zu haben. Gustavo Dudamel hat übrigens seine Ausbildung als Jugendlicher bei „El Sistema“ absolviert, jenem schier unglaublichen Projekt des venezolanischen Menschenfreundes, Pädagogen, Musikers und Aktivisten José Antonio Abreu, im Rahmen dessen Jugendliche aus armen Verhältnissen durch eine kostenlose und intensive Musikausbildung zu einem besseren Leben hingeführt werden sollten. Durch Dudamel, aber auch durch Simon Rattle und sein Konzert auf der Berliner Waldbühne erfuhr das breite Konzertpublikum erst etwas vom archaischen und magischen Werk des viel zu früh an seiner Alkoholkrankheit verstorbenen Mexikaners Silvestre Revueltas (1899 – 1940) und in der Folge auch von so großartigen Komponisten wie dem Argentinier Alberto Ginastera (1916 – 1983) oder dem Brasilianer Heitor Villa-Lobos (1887 – 1959). In diesem Zusammenhang darf auch die schillernde und alle musikalischen Genres übergreifende Persönlichkeit des argentinischen Bandoneon-Spielers und Komponisten Astor Piazzolla (1921 -1992) nicht unerwähnt bleiben.

Die Diktatoren und Hoftheoretiker der vom Nationalsozialismus geistig verwüsteten ehemaligen Kulturnationen Deutschland und Österreich, die sich von Darmstadt über Donaueschingen bis ins opportunistische Salzburg auch mittels Kunst bemühten, als die besonders Guten und Belehrbaren der Weltgeschichte wieder einen würdigen Platz im Rahmen der Völkergemeinschaft einzunehmen, haben mit ihren Netzwerken bei gleichzeitig profundem Mangel an „natürlicher“, d.h. „der Obertonreihe verpflichteten“ Musikalität geschäftstüchtig und neidisch mehr als ein halbes Jahrhundert lang sämtliche Komponisten, die es wagten, mit dem bewährten Instrumentarium der abendländischen Musik dem Publikum etwas mitzuteilen, schlecht gemacht und ihnen faire Karrierechancen verbaut. Was nämlich an dieser Stelle über nur wenige sowjetische bzw. russische und nur wenige süd- und mittelamerikanische Komponisten gesagt wurde, könnte auch im Hinblick auf US-amerikanische Komponisten inklusive symphonischer Entwicklungen im Bereich des Jazz und der Minimal Music gesagt werden. Nicht zu vergessen die vielen zeitgenössischen Komponisten, ob aus Frankreich, England, Skandinavien oder Italien, aber auch aus Deutschland und Österreich, deren Werke von den Avantgardisten als zu konventionell und als „reaktionär“ abgetan werden, vom Publikum jedoch aufgrund des katastrophalen Images der zeitgenössischen Musik gemieden werden, auch wenn sie noch so harmonisch klängen, hat es doch berechtigterweise die Angst, sich als unfreiwilliges Opfer des hochkulturellen Bildungsauftrags Stücke in der Nachfolge von Epigonen der Epigonen der Urväter des Unheils Schönberg, Berg und Webern anhören zu müssen.

Was da in der Musik in den letzten Jahrzehnten wirklich an Schrecklichem passiert ist, geht aus einer Anekdote hervor, die vom italienischen Nationalkomponisten Giuseppe Verdi und seinem damals noch den Werken der Komponisten und nicht seinem eigenen Marktwert verpflichteten Intendanten der Mailänder Scala berichtet wird. So soll Bartolomeo Merelli, der Direktor der Mailänder Scala, eigens mit dem Libretto zur Oper „Nabucco“ in den Heimatort Verdis, das Provinznest Bussetto gefahren sein, um den Komponisten von seinem Entschluss abzubringen, das Komponieren überhaupt bleiben zu lassen und sich mit der Position eines Musikdirektors in der Provinz zufrieden zu geben. Dieser Entschluss ging nicht nur auf den Misserfolg der musikalischen Komödie „Un giorno di regno“ zurück, sondern auch darauf, dass Verdi binnen kürzester Zeit seine geliebte Ehefrau Margherita und seine beiden Kinder verloren hatte und somit in jeder Hinsicht vor den Trümmern seiner Existenz stand. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis Verdi sich endlich bereit erklärte, die Komposition anzugehen. Die Folgen sind bekannt. Ab „Nabucco“ wurde er nicht nur einer der berühmtesten und geachtetsten Komponisten seiner Zeit, er wurde auch zur Symbolfigur der nationalen Einigung Italiens und zum Millionär, der sich ein agrarisches Mustergut zur Belehrung der norditalienischen Bauernschaft ebenso leisten konnte wie ein Altersheim in Mailand für betagte Künstler.

Ähnlich erfolgreiche Biografien gab es auch im 20. Jahrhundert. Jedoch nicht in den Konzertsälen! Vielmehr abseits des offiziellen Kanons der klassische Musik! Abseits der Szene! Oder nur langsam und widerwillig in sie aufgenommen! Und natürlich abseits von subventionierten Opernhäusern und abseits von ihren von publicitygeilen Politikern und Kulturbeamten berufenen Intendanten und Musikdirektoren! Wer von all diesen Egomanen wäre je auf die Idee gekommen, einem Komponisten oder Dichter in sein Provinzkaff nachzureisen und ihn ein Jahr lang zu bequatschen? Und zwar nicht um des eigenen Erfolges und Ruhmes willen, sondern um der Werke willen, die von ihnen geschaffen werden sollten.

So ist der Erfolg von Dimitri Schostakowitsch zweifelsfrei darauf zurückzuführen, dass er in erzwungenem Opportunismus, entfernt vergleichbar mit Richard Strauss, der sich ebenso genötigt sah, sich mit der nationalsozialistischen Diktatur zu arrangieren, zum Star des kommunistischen Sowjetreichs aufstieg und als solcher fallweise auch entsprechend peinliche Werke inklusive eines Lobgesangs auf die stalinistische Forstwirtschaft abzuliefern hatte. Die Virtuosität und der geradezu hasserfüllte Zynismus, mit dem Schostakowitsch die Phraseologie der klassischen Symphonie verwendet und zugleich abtut, konnten von noch so brutalen und zuletzt bürokratisch verdummten Diktatoren nicht ruiniert werden und fanden in den letzten Jahren an den Wächterclaims der subventionierten Misstöner vorbei ihren Weg zum Publikum.

Das gleiche gilt für einen Komponisten wie Nino Rota, der, Giuseppe Verdi vergleichbar, ein Leben lang bescheidener Direktor des Konservatoriums in Bari blieb, sich mit seinen Konzerten und Opern immer als Komponist der klassischen Musik verstand und an der Seite von Federico Fellini durch die Filmmusik etwa zu „La Strada“ oder „Otto e mezzo“ , aber auch durch seine Filmmusik zu „Der Pate“ in der Regie von Francis Ford Coppola einen Oscar und einen Golden Globe Award für seine Filmmusik erhielt. Riccardo Muti ist das Verdienst hoch anzurechnen, dass er sich dafür einsetzte, die klassischen Werke seines ehemaligen Lehrers, und hier vor allem die unglaublich effektvolle Ballettmusik zu „La Strada“, in den Konzertsälen durchgesetzt zu haben.

Dass dies Leonard Bernstein, obgleich ein nicht minder bedeutender Dirigent, mit seinen eigenen Werken nur mäßig erfolgreich gelang, ist wohl kaum auf die Bescheidenheit seiner exzentrischen Persönlichkeit zurückzuführen, sondern kann als weiterer Beweis für die unglaubliche Verblendung der in deutschsprachigen Landen grassierenden Unterscheidung zwischen E- und U-Musik gelten. Erstere, die ernste Musik, ein Distinktionsmerkmal derer, die es geschafft haben oder dies zumindest glauben, weshalb sie bereit sind, um nicht bei etwaiger Halbbildung erwischt zu werden, sich jeden Unsinn als große Kunst andrehen zu lassen. Die zweitere, die Unterhaltungsmusik, ein durch die Existenz der ersteren von allen kulturellen Ambitionen befreiter übler Kommerz. Was dazwischen liegt, wird konsequent missverstanden, herabgewürdigt und ignoriert: ein Bernstein zum Beispiel, der in seiner West Side Story Schlagermusik komponierte und zugleich mit drei Sinfonien oder seinem „Divertimento für Orchester“ großartige klassische Musik schuf. Oder ein George Gershwin, der wesentliche Beiträge zum „American Songbook“ lieferte und zugleich ein fulminantes Klavierkonzert schrieb, von der weltberühmten „Rhapsodie in Blue“ ganz abgesehen.

Am Ende dieser langen Liste von Persönlichkeiten, denen nicht nur der verdiente Ruf als Künstler, sondern oft auch der damit einhergehende gerechte Lohn vorenthalten wurde, muss die Bitte des Papstes, die Kulturschaffenden in der Pandemie nicht zu vergessen, denn sie seien die Verwalter der Schönheit, aber auch die Worte Riccardo Mutis, die Musik sei verantwortlich für die psychische Gesundheit der Menschen, in Erinnerung gerufen werden: Diese hehre Aufgabe werden Komponisten erst dann wieder erfüllen können, wenn sie wieder zur Musik zurück finden. Wenn sie also mit ihren Werken nicht nur die Ohren der musikalisch Höchstgebildeten kitzeln und damit zu deren Distinktionsgewinn beitragen, sondern wenn sie mit ihren Einfällen auch all jenen noch so erfolgreichen Popmusikern und Schlagersängern wieder den Platz an der Sonne und ihre Beliebtheit bei einem breiten Publikum zumindest ein wenig streitig machen. Wenn Ihnen nämlich dies gelingt, so die These, muss eine gewisse, heute noch zu oft unter den Verdacht von Kitsch und Lüge gestellte Schönheit zurückgekehrt sein. Sollte dieser utopische Zustand jemals eintreten, wird der Bevölkerung auch das Wohlergehen jener, die ihn wieder herbeigeführt haben, ein Herzensanliegen sein.


Die Dichter und Schillers Auftrag

Ich bin noch Zeitzeuge eines lebendigen und gesellschaftsrelevanten Theaters. All jene nämlich, die in meinen Gymnasialjahren im Jesuitengymnasium Stella Matutina in Feldkirch in Vorarlberg Sprechrollen in den Theaterstücken übernommen hatten, die alljährlich im großen Theatersaal, der an die 400 Plätze fasste, aufgeführt wurden, wurden zur Belohnung von den Patres eines Nachmittags in einen VW-Bus gepackt und nach Zürich chauffiert. Das Zürcher Schauspielhaus war in den 1950er und 1960er Jahren, während sich in Deutschland und Österreich die Theater und Opernhäuser noch im Aufbau befanden, eines der führenden Häuser im deutschsprachigen Raum. Die Inszenierungen waren nicht nur exzellent und durchwegs mit den besten Schauspielern besetzt, der Spielplan war auch durch die Uraufführung zahlreicher neuer Stücke gekennzeichnet, die zum Ausgangspunkt weitreichender gesellschaftlicher Debatten wurden.

Von Friedrich Dürrenmatt etwa, dessen 100. Geburtstags dieser Tage gedacht wird, wurde in Zürich 1956 die Tragikomödie „Der Besuch der alten Dame“ aufgeführt, worin sich der Autor mit der mittels Geld jederzeit abrufbaren Korrumpierbarkeit des Menschen und hier wohl im Besonderen mit seinen durch Raubgold reich gewordenen schweizerischen Mitbürgern auseinandersetzt. In dem Stück „Die Physiker“, Uraufführung 1962 ebenfalls am Zürcher Schauspielhaus, thematisiert Dürrenmatt am Höhepunkt des kalten Krieges und im Jahr der Kubakrise den Bau und die Gefahr der Atombombe, wobei das Stück mit 1600 Aufführungen allein im deutschsprachigen Raum einer seiner größten Erfolge wurde. In seinem Stück „Der Meteor“ wiederum, Uraufführung 1966 in Zürich, in der Hauptrolle der großartige Leonhard Steckel, von dem ich mich nur erinnern kann, dass er ununterbrochen und trotz fortgeschrittenen Alters behände aus seinem Sterbebett sprang, um sich sodann empört und rasch wieder unter einen Berg von Decken zurückzuziehen, hinterfragt Dürrenmatt seinen Status als Schriftsteller und ironisiert das Verhältnis zu seinen Kritikern.

Dürrenmatts Stück „Romulus der Große“, worin ein machtmüder Kaiser resigniert sein Weltreich auflöst und den germanischen Feinden übergibt, wurde sogar von uns Schülern auf der Internatsbühne aufgeführt, ebenso wie „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch, Uraufführung 1958 am Zürcher Schauspielhaus. Vor dem Hintergrund der kommunistischen Machtübernahme im Osten und des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts behandelt Frisch in seinem Stück die Sorglosigkeit eines Spießbürgers, der die großen Gefahren, die sich über seinem Haupt zusammenbrauen, nicht zur Kenntnis nehmen will. Um ein weiteres Stück des Autors anzuschauen, „Die Biographie“, besuchte unsere Theatertruppe das Stadttheater St. Gallen. Absolut unvergesslich und Glanzpunkt in meiner Laufbahn als Theaterfan, der schon damals die Zeitschrift „Theater heute“ abonniert hatte, war sodann die Aufführung eines Gastspiels am Kornmarkttheater in Bregenz, „Der Entertainer“ des britischen Autors John Osborne (Uraufführung 1957 in London), in der Hauptrolle Hannes Messemer: Die atemberaubende Wendigkeit und Überzeugungskraft Messemers, vom lässigen und charmanten Showmaster zum ausgeflippten, seine Familie terrorisierenden Alkoholiker überzuwechseln, beschäftigte mich wochenlang und ist mir bis heute eine unauslöschliche Erinnerung geblieben.

Als ziemlich grotesk empfinde ich es hingegen aus heutiger Sicht, wenn ich daran denke, dass das Stück „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth als gefährliches und streng bewachtes Gut von einem Studierpult zum nächsten wanderte und ohne Zweifel jeder, der bei der Lektüre dieses Werkes erwischt worden wäre, das die moralische Integrität des Papsttums auf immer zerstörte, umgehend aus dem Internat entlassen worden wäre. Ungeteilte Anerkennung auch unter den Patres fand hingegen das Stück des aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten Carl Zuckmayer „Des Teufels General“, Uraufführung ebenfalls am Züricher Schauspielhaus 1946, das sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Kollaboration und Widerstand beschäftigte. Nicht unerwähnt soll in diesem Zusammenhang auch das Werk des in die Schweiz emigrierten Fritz Hochwälder bleiben, der mit seinem Stück über den Jesuitenstaat in Paraguay, „Das heilige Experiment“, unsere priesterlichen Erzieher besonders beschäftigte und dem im Übrigen als anerkanntem Theaterautor die Rückkehr nach Österreich und ans Burgtheater nach dem Krieg relativ rasch gelang.

In den 1960er Jahren und auch noch in den beginnenden 1970er Jahren wurden von den Theatern also zahlreiche Stücke uraufgeführt, die Gegenstand der gesellschaftlichen Debatten wurden. Die Frage, wer dabei als Regisseur fungierte, war ziemlich unwichtig. Man ging schlicht und einfach davon aus, dass sowohl Schauspieler als auch Inszenierung einem hohen professionellen Standard zu genügen hatten. Und selbstverständlich bestand auch kein Zweifel darüber, dass es mit dem Theater und den Theaterübertragungen im Fernsehen und mit den Verfilmungen von Theaterstücken, wie sie von den meisten der genannten Stücke produziert wurden, so weitergehen würde. Übrigens auch im Musiktheater, wo, an den verzopften Opernbühnen vorbei, ein Musical wie „Hair“, das seine deutsche Erstaufführung 1968 in München erlebte, die erste, vom Krieg noch vollkommen unbelastete Generation mit einer ganzen Serie von Hymnen versorgte und auch vom Inhaltlichen her im Geiste der aus den USA kommenden USA Flower-Power- und New-Age-Bewegung einen universellen Neustart in das Zeitalter des Wassermanns verkündete.

Ganz in diese Aufbruchsstimmung passte denn auch ein Werk wie „Magic Afternoon“ eines Wolfgang Bauer, das 1968 in Graz seine Erstaufführung erlebte und in der Regie von Bernd Fischerauer, in der Hauptrolle Herwig Seeböck, 1969 auch am Wiener Volkstheater aufgeführt wurde. Ich fuhr zu dieser Aufführung extra nach Wien und war zutiefst beeindruckt, was zur Folge hat, dass mich bis heute eine Frage bewegt, die auch Thomas Antonic in seiner jüngst erschienenen umfangreichen Biografie und Werkdarstellung Wolfgang Bauers nicht beantworten kann, da er sich in zu großer und routiniert germanistischer Adoration jeglichen Urteils enthält: Wie konnte es geschehen, dass ein so großartiges Theatertalent wie Wolfgang Bauer nicht nur im Alkohol, sondern auch in der steirischen Provinz und im Ignoriert-werden in dieser Weise verkommen konnte?

Ganz abgesehen von den persönlichen Schwächen des Autors dürfte konkret mitentscheidend gewesen sein, dass ihm, wie im Zusammenhang mit Verdis „Nabucco“ angedeutet, ein kundiger und fordernder Impresario wie Bartolomeo Merelli fehlte. Ganz im Gegenteil, Claus Peymann, der sich für Bauers Werk zu interessieren schien, wurde vom charakterlich fragwürdigen Neidhammel Thomas Bernhard sogar schriftlich (Antonic 386/387) dazu aufgefordert, solches unterbleiben zu lassen, wenn er wünsche, weiterhin von ihm mit Stücken beliefert zu werden. Entscheidend war jedoch vor allem, dass Bauer sich bei all seinen Verrücktheiten immer noch dem konventionellen Theater verpflichtet fühlte, dessen Untergang im Zuge der sogenannten 68er-Revolution und paradigmatisch am Theater mit „Publikumsbeschimpfung“ von Peter Handke eingeleitet wurde.

Die weitreichenden Folgen sind bekannt: Autoren wurden durch Regisseure und ihre marketingorientierte Selbstdarstellung ersetzt. Ihre Selbstbeauftragung lautete ganz im Sinne kollektiver Vergangenheitsbewältigung, den abendländischen Stückebestand auf sein antifaschistisches Gefährdungspotenzial hin im Hinblick auf ein immer noch chronisch zum Rechtsradikalismus neigendes Volk abzuklopfen. Statt für neue Stücke und neue gesellschaftlich relevante Themen einzutreten, wurden von nun an bevorzugt Klassiker dazu missbraucht und zusätzlich zur Regiegage mit entsprechendem Autorenhonorar neu montiert und umgeschrieben, um Platz für Inszenierungsideen zu schaffen, die ihre Erfinder als Hohepriester einer neuen Frömmelei auswiesen, die uns bis heute quält.

Der Titel eines Vortrags von Friedrich Schiller „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ wurde dabei zum sanktionierenden Kampfruf, was nur gelingen konnte, wenn man verdrängte, dass der Deutsche Klassiker seine Überlegungen vor dem Hintergrund grausamer deutscher Kleinstaatsdiktaturen angestellt hatte, die unter anderem ihre Budgets auch dadurch auffetteten, dass sie Soldaten, unter denen auch Friedrich Schiller gewesen wäre, wenn er sich nicht durch Flucht entzogen hätte, auf ihrem Hoheitsgebiet akquirierten und für den Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegung der sich formierenden Vereinigten Staaten von Amerika verkauften. Die Tatsache, dass Deutschland und Österreich von den westlichen Besatzungsmächten in den Kreis liberaler Demokratien aufgenommen worden waren, musste angesichts dieses historischen Hintergrunds ignoriert werden. Die Schaubühne, deren Aufgabe aus der Sicht Schillers darin bestanden hatte, die Herrschaft obskurer Adelshäuser in der Nachfolge der französischen Revolution zu delegitimieren, wurde bedenkenlos auch auf einen Staat angewendet, dessen Herrscher, obgleich demokratisch gewählte Repräsentanten des Volkes, nunmehr als illegitime Söldlinge des Kapitalismus, des Nationalsozialismus und der US-amerikanischen Plutokratie abqualifiziert wurden, woraus sich schlüssig der neue Auftrag an die Theater und Opernhäuser ergab, nunmehr als über den Dingen stehende Gouvernante über die geistigen Entwicklungen eines immer noch vom Rückfall in den Nationalsozialismus gefährdeten und für die Heilsversprechungen des zukünftigen Arbeiterparadieses blinden Volkes zu wachen.

Im Rahmen dieses pädagogischen Programms hatten als konventionell abqualifizierte Autoren, die sich dadurch auszeichnen, dass sie die moralischen Unwägbarkeiten menschlichen Handelns und die grundsätzliche Aporie der menschlichen Existenz thematisieren, keinen Platz mehr. Jetzt waren nur noch Schreiber und Schreiberinnen gefragt, die, wie schon angedeutet, Textflächen zum freien Gebrauch durch lehrerhafte Regisseure produzierten. Oder Stücke anboten, bei denen von vornherein klar war, wo der-die-das Gute und der-die-das Schlechte zu verorten waren. Diesen Anforderungen kamen denn auch Autoren wie Peter Turrini, Franz Xaver Krötz oder Felix Mitterer entgegen, die übrigens in weiser Selbsteinschätzung von sich zu behaupten pflegen, „Volkstheater“ zu schreiben, um sich damit von vornherein bei ihren Zeitgenossen für das simple und verlogene Strickmuster ihre Stücke zu entschuldigen.

Die Zustände an unseren vom Staat subventionierten Theatern und Opern ist in Folge seit Jahren desaströs und wird, was die Oper betrifft, dadurch kaschiert, dass, auch stark in Rücksicht auf touristische Städtereisende, das Repertoire von „Die Zauberflöte“ bis zu „Tosca“ bald nur noch aus 20 Stücken besteht, die als hochsubventionierte Hitparade zwecks Auslastung immer von Neuem heruntergespielt werden. Die Theater wiederum bedienen sich des Tricks, ihren Niedergang dadurch zu kaschieren, dass ihr am häufigsten gespieltes Stück „Schließtag“ heißt und die restliche Zeit mit Opern, siehe oben, Musicals (Warum müssen hierzulande Stücke gefördert werden, durch die anderswo Leute zu Millionären werden?) oder Tanztheater ausgefüllt werden. Wenn diese auf wenige Tage konzentrierte Melange an Publikumsanbiederung dann auch noch einigermaßen gut besucht wird, wird stolz von Auslastungsquoten von nahe 100 % berichtet, obgleich sie bei Einberechnung der Schließtage maximal 60 % betragen würde. Dass das zeitgenössische Theater bzw. zeitgenössische Textflächen auch mangels fundierten Publikumsinteresses auf Lusterböden und in die Keller verbannt werden, wurde bereits erwähnt.

Irgendwann verflüchtigen sich aber auch die düstersten Gewitterwolken und, um es mit Schikaneder, dem Librettisten der Oper „Die Zauberflöte“ zu sagen, „Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht, zernichten der Heuchler erschlichene Macht.“ Still und heimlich erobern sich nämlich neben all den von Regisseuren und Intendanten um gutes Geld um- bzw. neugeschriebenen Klassikern, Romanen und Filmen neue Stücke ihren Platz auf der Bühne und werden dort, wie zu alten Zeiten, in ihrer Wirksamkeit erprobt, um zuletzt als international erfolgreiche Filme im Kino und im Fernsehen gezeigt zu werden und, ebenfalls wie zu guten alten Zeiten, gesellschaftliche Debatten anzustoßen. So sei etwa an das Werk einer Yasmina Reza erinnert, die mit ihren Stücken „Kunst“, „Drei Mal Leben“ und „Der Gott des Gemetzels“ ein internationales Publikum erreichte. In Österreich zum Beispiel wurde ihr Stück „Drei Mal Leben“ in einer hinreißenden Aufführung von Luc Bondy am Burgtheater aufgeführt und im Fernsehen übertragen. Der international tätige, aus Österreich stammende Schauspielstar Christoph Waltz wiederum brillierte in der Filmversion des Theaterstücks „Der Gott des Gemetzels“. In diesen Zusammenhang passt auch ein weiteres französisches Stück, „Le prénom“ (Der Vorname), der Autoren Alexandre de La Patellière und Matthieu Delaporte, ein furioser Beitrag zum Zeitgeist, der sich wie auch bei Yasmina Reza gnadenlos über eine hedonistische, spießige und narzisstische Post68er-Generation lustig macht. Aber auch aus deutschen Landen sind zarte Hoffnungsschimmer im Zusammenhang mit dem Namen Ferdinand von Schirach zu vermelden: Ihm ist es als einem der wenigen Autoren der letzten Jahre gelungen mit Stücken wie „Terror-ihr Urteil“ oder „Gott“ ein Massenpublikum für ethisch hochrelevante Themen wie die Zulässigkeit von Folter oder die Liberalisierung von Sterbehilfe zu begeistern.

Dass das Theater niemals untergeht, dafür werden immer noch ausreichend vom Theater begeisterte Schauspieler und Schauspielerinnen, Autoren und Regisseure sorgen. Wenn die jahrhundertealte Einrichtung jedoch nicht zu einer Randveranstaltung hochkultureller und distinktionsgeiler Feinschmecker verkommen und wieder mehr in die Mitte der Gesellschaft, also in die Nähe jenes Volkes, das dafür bezahlt, gerückt werden soll, muss etwas unternommen werden, und zwar vor allem von Seiten der subventionierenden und damit mitverantwortlichen Kulturpolitik.


Von Impresarios und Producern

Bei Analysen, deren kritischer Teil auf die Zustimmung der Leser trifft, büßt der Autor nicht selten seine Autorität ein, wenn es um Verbesserungsvorschläge für die Zukunft geht. Eine Mischung aus Utopismus, Realitätsferne und Trivialität sind gefährliche Fallen. An die Frage, was zu unternehmen sei, um das Musiktheater und Theater für die Gegenwart zu retten, indem, ergänzend zur Pflege des traditionellen musikalischen und dramatischen Kanons, wieder für ein breites Publikum Themen der Gegenwart auf den Bühnen Platz finden, erfolgt eine Annäherung daher am besten dadurch, dass auf erfolgreich operierende Bereiche der künstlerischen Tätigkeit verwiesen wird, in denen der Kontakt zwischen Publikum und Kunst unbeeinflusst von Bürokratismen und hemmenden Zwischeninstanzen in größtmöglicher Freiheit möglich ist.

Dies trifft zweifelsfrei auf die Architektur zu, die, allein wenn ich an das kleine Dorf in der Nähe von Innsbruck denke, in dem ich lebe, neben viel Mittelmaß und Kitsch inzwischen immer öfter perfekte, wenn nicht herausragende Leistungen der Baukunst aufweist. Hier spielt immer noch, um das für viele inzwischen fast schon unerträgliche Wort zu bemühen, der „Freie Markt“ all jene Vorzüge aus, die Friedrich August Hayek in seinem Werk „Verfassung der Freiheit“ zu betonen nicht müde wird. Die elementare Sehnsucht der Menschen, in und mit ihrem Heim nach Schönheit zu streben, bedingt ein Suchen, das aufgrund der schieren Menge an Beteiligten interessantere und kreativere Lösungen erbringt als jede Antwort, die planwirtschaftlich von wenigen, noch so intelligenten Bürokraten gegeben bzw. verordnet werden könnte. In der Architektur sind es, zumindest im privaten Hausbau, lediglich die von den Kommunen vorgegebenen Rahmenbedingungen, welche die Freiheit einschränken. Abgesehen davon liegt es am Bauherrn, sich aus einer Vielzahl von Anbietern den ihm gemäßen auszuwählen und zu beauftragen. Der Kontakt zwischen „Publikum“ und Kreativen ist also durch keine hindernde Instanz unterbrochen. Die Erfolge sind entsprechend. Die moderne Architektur überzeugt sichtbar, auch durch neue Wahrzeichen, wie sie etwa die Tiroler Landeshauptstadt Innsbruck durch die Bauwerke von Zaha Hadid aufzuweisen hat.

Ein weiterer Bereich, der in großer Liberalität einen direkten Kontakt zwischen Publikum und Künstler ermöglicht, sind die bildenden Künste, die dort, wo sie erfolgreich sein und in der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen werden wollen, allerdings auf Zwischeninstanzen wie Galerien, Kunstmessen, Kuratoren und Museen angewiesen sind. Schon allein aufgrund dieser Rahmenbedingungen sind denn auch am Kunstmarkt korrupte Netzwerke durchaus üblich. Sie betreffen nicht nur gegenseitige Einkäufe, deren Funktion darin besteht, die Preise in fiktive Höhen zu treiben, sie beziehen sich auch auf innige Freundschaftsbeziehungen zur Kunstkritik, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, durch oftmals geradezu groteskes Geschwätz (wie etwa im Katalog „Das Begleitbuch/The Guidebook-Documenta 13“ ) die Zukunft der künstlerischen Entwicklung nach ihrem Willen festzuschreiben. Dennoch: Durch den in vielen Fällen noch funktionierenden, direkten Kontakt mit ihrem Publikum können zahlreiche Maler und Bildhauer der unterschiedlichsten Stilrichtungen von Ankäufen und Aufträgen gut leben.

Die Einflussnahme auf das kreative Schaffen von Autoren wiederum ist in der Literatur durch die Instanzen des Verlags, des Lektorats, der Medien, der Universitäten, der Literaturhäuser, der Büchereien, des subventionierenden Staates, von Archiven und durch den Buchhandel übermächtig. Allein ein nostalgischer Blick zurück in die Vergangenheit auf die Produktionen etwa des ab den 1970er Jahren massiv geförderten Salzburger Residenzverlages, der als offiziöses Aushängeschild des damaligen literarischen Schaffens fungierte, zeigt, in welche Schräglage des irrelevanten Unsinns eine Produktion geraten kann, wenn sie germanistische und philosophische Vorgaben zu erfüllen hat, und in Folge, ganz im Sinne einer gewünschten harmlosen österreichischen Identitätsbildung der Nachkriegszeit und ganz im Sinne einer durch Kultur die Angst vor dem Kommunismus eliminierenden sozialdemokratischen Kulturpolitik, nur noch sprachzweiflerisches Wortgeklingel übrigbleibt. Zahlreiche damals gefeierte Geister wandeln bis heute als Untote durch ein bereits zu Lebzeiten zum Vorlass-Archiv erstarrtes Geistesleben auf ihre ewiges Vergessen-werden zu.

Wen wundert es, dass angesichts solch mächtiger Hürden, denen nicht einmal die robusteste Kreativität gewachsen ist, sofern sie nicht, wie bereits geschildert, von übermächtigen Regisseuren wie im Falle Thomas Bernhards unter Schutz gestellt wird, in der Oper und im Theater, an denen die kreativitätsvernichtenden Instanzen von der Politik des Gesamtstaates, der Länder und Gemeinden, über die Beamtenschaft, über Theatergremien, über Intendanten, Geschäftsführer, Dramaturgen, Gewerkschaften, Regisseure, Dirigenten, Bühnenbildner, Maskenbildner und zuletzt über Schauspieler und Sänger übermächtig sind, die Selbstmusealisierung und ein narzisstisches Regietheater ein deprimierendes Ausmaß erreicht haben und das Publikum in unverantwortlicher Weise dabei verloren wurde. Der Weg in die Zukunft kann also vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen nur darin bestehen, dass zwischen den Kreativen, den Komponisten und Autoren, möglichst viele institutionelle Instanzen, deren Ziel es ist, sich die Rahmenbedingungen nach eigenen Interessen und Karriereplänen zu gestalten, abgebaut werden.

Die Schaltstellen einer solchen Reform können unter der Voraussetzung, dass die Aufrechterhaltung von Oper und Theater durch staatliche Zuschüsse im Gegensatz etwa zu den Verhältnissen in den USA als für das europäische bzw. österreichische Kulturverständnis verpflichtend und sinnvoll erachtet wird, zuletzt nur Kulturpolitiker und jene Intendanten sein, die von diesen Politikern berufen werden. Womit wir im Zentrum der heutigen Malaise angelangt wären, der Tatsache nämlich, dass die Kultur, entsprechend der Entwicklung hin zu ihrer Bedeutungslosigkeit und der Gleichgültigkeit der Bevölkerung, wenn es den Künstlern schlecht geht, meist von Politikern verantwortet wird, die entweder in ihrer Rolle als Quotenfrauen oder anderweitig parteipolitisch zu bedienende Unumgänglichkeiten den Kulturkuchen zugeschoben bekommen oder die, falls derart beschäftigungsbedürftige Damen und Herren nicht versorgt werden müssen, das Kulturressort als Nebenressort zusätzlich etwa zu Wohnbau, Verkehr oder Arbeitsmarktpolitik aufgehalst bekommen.

Ausgerechnet in der Kulturpolitik, die im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen aufgrund ihrer im Sinne der Tagespolitik schwachen Sachzwänge viel Gestaltungsfreiraum böte, agieren also Leute, die glauben, dass sie etwas von Kulturmanagement verstehen, weil sie schon einmal eine Oper besucht haben und darüber hinaus lesen und schreiben können. Diese gravierende Fehleinschätzung führt dazu, dass die Berufung von wichtigen Leitungspositionen in der Kultur aufgrund von mangelnder Kompetenz auf oberflächlichen lediglich marketingtauglichen Qualifikationen aufbaut: Auf klingenden Namen, die sich von künstlerischen Leistungen als Regisseure, Sänger, Dirigenten oder Schauspieler herleiten, am Markt der Aufmerksamkeit reüssieren konnten und mit dem Job eines Intendanten in der Regel fast nichts zu tun haben. Und auf einem moralischen Mehrwert, der durch eine Berufung denjenigen oder diejenige als edle Seele erscheinen lässt, der oder die für die Berufung zuständig ist. Etwa durch die Zusicherung des zu Berufenden, in seiner Zeit dafür zu sorgen, dass die endgültige und noch immer nicht vollendete Exorzierung nationalsozialistischer, rassistischer, patriarchalischer, antifeministischer und antiökologischer Denkverschmutzungen des zu belehrenden Publikums weiter vorangetrieben, wenn nicht vollendet werden soll.

Gedenken wir an dieser Stelle jenes Bartolomeo Merelli, der als Direktor der Mailänder Scala Verdi in das Provinznest Bussetto nachreiste, um ihn zu überreden, die Musik zum Libretto von „Nabucco“ zu komponieren. Sollte uns jemals ein Impresario wie er als Vorbild dienen, wird rasch deutlich, dass die beiden oben genannten Eigenschaften, die heute in vielen Fällen zur Berufung an die Spitze öffentlicher Theater führen, mit jenen Eigenschaften, über die ein erfolgreicher und engagierter Intendant in Zukunft zu verfügen hätte, sehr wenig zu tun haben.

Was die Prominenz des Namens betrifft, so sollte diese nicht auf den Intendanten eines Hauses zutreffen, sondern vielmehr auf die Komponisten und Autoren, die an diesem Haus arbeiten. Nicht durch seine Inszenierungen als Regisseur, nicht durch seine Leistungen als Sänger oder Dirigent qualifiziert sich ein Intendant, sondern durch die Fähigkeit, im Stillen und unerkannt, als Nichtprominenter, fähige Menschen zu erkennen, sie zu fördern, sie zu engagieren und daraus Opern-und Theateraufführungen und hier vor allem Uraufführungen zu entwickeln, die, wie dargelegt, aufgrund ihrer Relevanz für die Gegenwart gesellschaftliche Debatten anstoßen oder befördern. Und die vor allem das entscheidende Problem der Zukunft im Fokus haben, in der Musik und in der Dramatik eine neue Schönheit zu entwickeln, die, abseits jeden Kitsches, das Publikum nicht als ein belehrtes, sondern als ein beglücktes und von der Magie des Abends und des Festes erfülltes in den Alltag entlässt. Dass die öffentliche Moral – derzeit das wie eine Diktatur über unseren Gesellschaften lastende Gutmenschentum des linksliberalen Spießers – dem konträr entgegensteht und längst an den Theatern zu einer Erstarrung in akademistischen Leerläufen geführt hat, dürfte zumindest für jene, die sich einen kritischen Blick auf die Szene erlauben, überdeutlich sein. Die Wahl eines Intendanten nach Maßgabe seines moralischen Mehrwerts im Sinne des Distinktionsgewinns für den berufenden Politiker ist also genau das Gegenteil dessen, was ein Impresario und, in eine aktuellere Bezeichnung übersetzt, ein Producer an Qualifikationen zu bieten haben sollte.

Impresarios (italienisch impresario, von impresa „Unternehmen“) und Producer zeichnen sich dadurch aus, dass sie eigenverantwortlich und unabhängig Projekte entwickeln und sich für diese, mit Gespür für den Erfolg bei einem breiten Publikum, – um es zu wiederholen – die geeigneten Kreativen suchen, hinter deren Erfolgen sie zu verschwinden haben. Erfolg und Misserfolg ihrer Projekte sollten sich dabei, basierend auf rechtlich klar abgegrenzten Unternehmensstrukturen etwa in Form einer GmbH, durchaus in einer finanziellen Beteiligung sowohl am Risiko der Investition als auch an den zu erzielenden Gewinnen widerspiegeln. Denn Erfolg und Misserfolg neuer Inszenierungen, neuer Opern und neuer Theaterstücke sollten sich in Zukunft nicht nur aus dem Kartenverkauf ergeben, der ohnehin nur einen erschreckend geringen Anteil am Gesamtbudget von Theatern ausmacht, sondern mehr noch aus der Möglichkeit, neu entwickelte Stoffe und ihre Inszenierungen, durchaus vergleichbar der Entwicklung von Musicals, weltweit zu vermarkten und insbesondere durch den Verkauf von Rechten für Übertragungen im Fernsehen, durch Verfilmungen oder Aufzeichnungen auf DVD, CD-Produktionen und anderen Medien zusätzliche Einnahmen zu erwirtschaften. In diesem Sinne haben sich Theater in Zukunft als eigene Unternehmen über das Aufführen von Stücken hinaus auch als Verlage, Stoff-Entwickler und Rechtevermarkter kreativwirtschaftlich zu definieren. Das Ziel von Inszenierungen und Uraufführungen sind nicht mehr gute Besprechungen in einer als irrelevante Hochkulturblase agierenden Kulturberichterstattung, sondern der vor allem künstlerische, langfristig aber auch finanzielle Unternehmensgewinn für das Theater und hier vor allem seine Autoren, Komponisten und Intendanten, sprich: Impresarios und Producer.

Verpflichtend sollte in Zukunft dabei als Auftrag der Politik für die Zuschüsse aus öffentlichen Haushalten sein, dass zumindest für die Hälfte aller Bühnenwerke lebende Komponisten und Autoren verantwortlich zeichnen, und zwar nicht für die im Hause vorhandenen Klein- und Kleinstbühnen, sondern für die Hauptbühne. Der Auslastungsbetrug der Schließtage ist in harter Abgrenzung zu gewerkschaftlichen Mächten zu beenden und in Kooperation mit außenstehenden Kultureinrichtungen die Bühne zu öffnen, sowohl für freie Theater- und Opernproduktionen, als auch für Kabarett, Konzerte oder Filmvorführungen. Die Schließtage sollten in Zukunft genützt werden, neuen Publikumsschichten die Schwellenangst hin zum klassischen Theater, vor allem dem Theater und der Oper der Gegenwart, zu nehmen.

Der vorgeschlagene Weg, die Intendanten von heute durch Impresarios und Producers von morgen zu ersetzen, ist lediglich eines von vielen möglichen Denkmodellen, die dramatischen Künste und das Konzertleben vor der endgültigen Versteinerung und Überalterung des Publikums zu bewahren. Hintergrund des Versuchs ist dabei der unverbrüchliche Glaube, dass die großen Werke der Literatur und Musik nicht nur aus Gründen unserer kulturellen Identität, sondern vor allem aus Gründen ihrer inneren künstlerischen Qualität und damit ihrer Fähigkeit, ästhetische Maßstäbe zu setzen, niemals in Vergessenheit geraten dürfen. Und es ist der Glaube, dass öffentliche Gelder nicht nur die Aufgabe haben, ein klingendes und sprechendes Museum am Leben zu erhalten, sondern neue Stoffe und neue Stücke in größtmöglicher Freiheit auf der Bühne und dem Konzertpodium regionalen Schaffens zu erproben, um sie im besten Falle als überregional gültigen Beitrag in die Welt zu entlassen.

Dieses Ziel kann jedoch nur erreicht werden, wenn auch im Bereich des Konzertlebens, des Musiktheaters und des Theaters, wie auch immer dies geschehen mag, die Sehnsucht nach Schönheit, wie sie in der Architektur und in der Malerei vielfältig bereits erfüllt wird, nicht weiter als Kitsch diskreditiert, sondern als extrem herausfordernde Aufgabe für Autoren, Komponisten und Regisseure und zugleich als berechtigtes Begehren des Publikums akzeptiert wird. Sollte dies auch nur in Ansätzen gelingen, muss kein Papst mehr die Öffentlichkeit darum bitten, man möge die Künstler nicht sehenden Auges verhungern lassen, und kein Riccardo Muti mehr an die therapeutische Wirkung von Musik erinnern müssen. Eine Brigitte Fassbaender sollte allerdings die Möglichkeit erwägen, dass nicht das Publikum zu satt, zu ignorant und zu selbstbezogen wurde, um die Leistungen der derzeitigen dramatischen Künste zu würdigen, sondern dass die Künstler selbst durch Subventionen zu satt, durch ihre Existenz in abgehobenen geistigen Selbstbefriedigungsblasen zu ignorant und durch die distinktionsgeile Berichterstattung der Kulturmedien zu selbstbezogen wurden. Weshalb sie sich nicht wundern sollten, wenn ihre Anliegen in der Politik gleichsam wie Belästigungen empfunden werden, und ihre Not in Zeiten der Pandemie das sogenannte und ferne Volk, das selbst mit Problemen zu kämpfen hat, gleichgültig lässt.


Literaturhinweise:

Thomas Bernhard
Der Ignorant und der Wahnsinnige. Drama. 1972 (UA bei den Salzburger Festspielen, Regie Claus Peymann)
Die Jagdgesellschaft. Drama 1974 (UA am Burgtheater Wien, Regie Claus Peymann)
Holzfällen. Eine Erregung. Roman 1984

Matilda Gustavsson
Klubben (Der Club) 2019

Peter Handke
Die Hornissen. Roman 1966
Publikumsbeschimpfung. 1966 ((UA Theater am Turm, Frankfurt am Main, Regie Claus Peymann)
Wunschloses Unglück. 1972
Versuch über den Stillen Ort. Suhrkamp Berlin 2012
Die Obstdiebin. Suhrkamp Berlin 2017

Elfriede Jelinek
https://www.elfriedejelinek.com/

Karl Ignaz Hennetmair
Ein Jahr mit Thomas Bernhard.
Das versiegelte Tagebuch 1972.
Residenz Verlag Salzburg 2000

Hans Werner Richter
Die Geschlagenen 1949

Alois Schöpf
Wenn Dichter nehmen.
Limbus Verlag Innsbruck 2014


Thomas Antonic
Wolfgang Bauer, Werk-Leben-Nachlass-Wirkung
Ritter Verlag Klagenfurt/Wien 2018

Wolfgang Bauer
Magic Afternoon
UA Landestheater Hannover 1968
Haymon Verlag Innsbruck 2014

Matthieu Delaporte, Alexandre de la Patelliere
Der Vorname (Le Prenom)
UA Theatre Edouard-VII Paris 2010
Theaterverlag Felix Bloch Erben Berlin 2011

Friedrich Dürrenmatt
Romulus der Grosse
UA Stadttheater Basel 1949
Der Besuch der alten Dame
UA Schauspielhaus Zürich 1956
Die Physiker
UA Schauspielhaus Zürich 1962
Der Meteor
UA Schauspielhaus Zürich 1966
Diogenes Verlag Zürich

Max Frisch
Biedermann und die Brandstifter
UA Schauspielhaus Zürich 1958
Suhrkamp Frankfurt am Main 1958
Biografie: Ein Spiel
UA Schauspielhaus Zürich 1968
Suhrkamp Frankfurt am Main 1967

Peter Handke
Publikumsbeschimpfung
UA Theater am Turm Frankfurt am Main 1966
Suhrkamp Frankfurt am Main 1966

Rolf Hochhuth
Der Stellvertreter
UA Theater am Kurfürstendamm West-Berlin 1963
Rowohlt, Reinbek 1963

Fritz Hochwälder
Das heilige Experiment
UA Theater Biel Solothurn 1943
Burgtheater Wien 1947
Reclam Verlag

John Osborne
Der Entertainer
UA Royal Court Theatre London 1957
Theaterverlag Jussenhoven-Fischer Köln 1989

Gerome Ragni, James Rado (Buch)
Galt MacDermot (Musik)

Hair
UA Biltmore Theatre New York 1968

Yasmina Reza
Kunst
UA Paris 1994
Libelle Verlag Lengwil 1996
Drei Mal Leben
UA Burgtheater Wien 2000
Libelle Verlag Lengwil 2000
Der Gott des Gemetzels
UA Schauspielhaus Zürich 2006
Libelle Verlag Lengwil 2007

Friedrich Schiller
Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet
Rede 1784
(Rüdiger Safranski: Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus
Hanser München 2004)

Ferdinand von Schirach
Terror
UA Deutsches Theater Berlin und Schauspiel Frankfurt 2015
Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb; Piper München 2015
Terror – Ihr Urteil (Verfilmung 2016)
Gott
UA Berliner Ensemble und Düsseldorfer Schauspielhaus 2020
TV-Adaption 2020

Carl Zuckmayer
Des Teufels General
UA Schauspielhaus Zürich 1946
Bermann Fischer Stockholm 1945
Fischer Taschenbuch 2008


Friedrich August Hayek
Verfassung der Freiheit, Mohr Siebeck 2005

Documenta (13)
Das Begleitbuch, Katalog 3/3, Hatje Cantz 2012

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Wieder was dazu gelernt! Ein selten guter Beitrag, welchen du geteilt hast.
    Es ist schwer, über das Thema im WWW was zu finden.

  2. Wolfgang Fritzsche

    Herzlichen Dank für diesen vielfältigen und umfassenden Artikel.
    Mein Eindruck von Karajan ist sehr durch die Legacy-Videoserie der Beethoven Symphonien geprägt… sehr schnell ist mir aufgefallen, wie wundersam das Orchester stets vor dem Schlag des Dirigenten spielt… bis ich von bösen Playbackgerüchten gehört habe.
    An Boulez‘ Klaviersonaten habe ich mich lange versucht… allein die Tatsache, Tredezimen als nicht arpeggierte Akkorde zu notieren, läßt auf kalkulierte Undurchführbarkeit schließen. Kleinere rhythmische Ungereimtheiten haben mich weniger gestört als die effektiv falschen Rhythmen in der ersten Sonate… wenn man kompliziert schreibt, sollte es auch korrekt sein, oder? Aber eine gewisse Inkonsequenz läßt sich im kompositorischen Werk auch nachweisen…
    Immerhin gibt es mit Taka Kigawa einen hervorragenden Interpreten von Boulez.
    Mir scheint der Brief von Richard Strauss, in dem Spielpläne der Wiener Opernhäuser empfohlen werden, ein wichtiger Beweis für die selbstbewußte Überheblichkeit zu sein, die die Musikkultur seit langem prägt…
    Daß daraus ein musealer Betrieb entstanden ist, scheint mir folgerichtig zu sein, da man die gegenwärtigen Leistungen durch den Vergleich mit dem klassischen Kanon ständig entwertet. (Zeitgenössische Musik ist hier nicht gleichbedeutend mit Avantgarde – die Folgen des Fortschrittsglaubens versuchen viele krampfhaft zu leugnen.)
    Dennoch ist die nationale Fixierung das schlimmere Übel, der Wettbewerb um eine ominöse Vorherrschaft. (Die Wien schon längst verloren hat oder vielleicht nie besaß.) Diese dumme Arroganz, die Komponisten anderer Ländern hinter die ‚eigenen Leute‘ zurückstellt.
    Ich vermute, daß solche Wettbewerbe auch bis in die Interpretenebene ausgetragen wurden, bester Pianist, lautester Tenor, höchste Sopranistin…
    Der museale Opernbetrieb hat in der berühmten Gesellschaftsschicht der Stehplatzbesucher eine wichtige Lobby, leider ist es keine künstlerische…
    Ich stoße immer wieder auf das Argument, dass Menschen täglich in die Oper gegangen sind – eine für mich schwer nachvollziehbare Freizeitbeschäftigung – und sich dadurch zu unfehlbaren Chefkritikern und Geheimräten dieser Kunstrichtung entwickelt haben, während sie in den Erinnerungen ihres Hörvermögens schwelgen.
    Mir fehlt hier leider jedes Verständnis für diese quantitative Konsumation.
    Aber immerhin gibt es mit den Produktionen im Theater an der Wien eine neue gesunde Konkurrenz, wenngleich es scheint, daß die Symphoniker den Problemen ihrer Kollegen nacheifern.
    Immerhin hat das Staatsopernorchester nicht mehr allzuviel mit dem weltberühmten Orchester gemeinsam und es mehren sich Kritiken an der ungenügenden Probenpraxis. Aber solange die Nachfrage unter ostasiatischen Touristen hoch genug ist, wird diese Kunstform wohl weiterwursteln…
    Ich sehe bei Intendanten das größere Problem in einem „modernen Management“ mit Optimierungsmethoden und Quoten aller Art.
    Aber der Unterschied zwischen erfolgreichen, zugkräftigen Kunstwerken und einem erfolgreichen Kunstbetrieb ist leider eklatant.
    Wie müßte ein Kunstbetrieb laufen, um zugkräftig zu sein?

  3. Uta Mackowitz

    Sehr geehrter Herr Schöpf!
    Ihren Ausführungen im Essay über zeitgenössische Theater- und Operninszenierungen kann ich nur beipflichten soweit mir das als Nichtfachfrau, als einfache Kulturkonsumentin, zusteht.
    L.G. Buchheim macht in der bildenden Kunst die „Hochjubler“, Galeristen, Kritiker, Kunsttheoretiker etc. dafür verantwortlich, die durch ihre Interpretationen die Wertigkeit
    von Bildern, Plastiken, Reliefs etc. festlegen und damit Einfluss auf den „Markt“ ausüben.
    Im Theater- und Operngeschehen sind es Intendanten und Regisseure, die dies für sich in Anspruch nehmen!
    So stimme ich mit Ihrer FORDERUNG nach einer Änderung in den Aufführungspraktiken, wer wen wann wo und wie inszeniert, vollkommen überein!
    Auch glaube ich, dass gerade in kritischen, schwierigen Zeiten jedwede Kunst unverzichtbar ist , Konzert-, Theater-, Opern-, Museums- und Ausstellungsbesuche für die Menschen wichtig wären.
    Heinz Gerstinger (1967 bis1972 Dramaturg am Burgtheater) schreibt in seinem Buch „Der Dramatiker Anton Wildgans“ auf Seite 8 :“Ich erinnere mich, wie mein Freund Heinz Mackowitz in würdeloser Rekrutenzeit (an der Front im Zweiten Weltkrieg) immer wieder Verse von Wildgans zitierte, um uns innerlich aufzurichten.“
    Ich glaube, dass es heute nicht Anton Wildgans sein muss, dass es neben bereits toten genügend zeitgenössische Künstler gibt, die durch ihre Kunst mit einem Teil des Publikums in
    einen „Dialog“ treten können, dem Publikum Denkanstöße geben, aber auch tröstlich sein können. Letzteres könnte für viele Menschen in dieser für alle herausfordernden Zeit
    besonders die Musik sein.
    Dankbar für Ihre Denkanstöße verbleibe ich hochachtungsvoll Uta Mackowitz (ich bin die Witwe des oben Erwähnten).

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