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Alois Schöpf
Die Bücher von Melk
Von reichen Klöstern, restaurierten Bibliotheken
und armen Autoren
Essay

Das Literaturfestival „Sprachsalz“ in Hall in Tirol fand heuer vom 9. bis zum 11. September im stimmigen Ambiente des Parkhotels, in den Räumen des Kurhauses und im Medienturm des Salzlagers zum 20. Mal statt. Es ist nicht nur eine wunderbare Gelegenheit für Literaturbegeisterte, interessante Schriftsteller und Schriftstellerinnen abseits des Mainstreams und manchmal auch mitten aus demselben kennen zu lernen, es ist auch eine Begegnungsstätte für die Autoren selbst, sich alljährlich bei kurzen, aber umso intensiveren Gesprächen über berufliche Probleme auszutauschen. Dass dabei das Geld, die speziell für Belletristik einbrechenden Umsätze im Buchhandel und die daraus abgeleiteten meist geradezu läppischen Honorare eine Rolle spielten, bleibt auch in dieser hochmögenden Branche menschlicher Faktor.

So erfuhr ich dieses Jahr zum Beispiel von einem Kollegen aus der Schweiz, dass ein Prozent der im deutschen Sprachraum angebotenen Titel 50 % des Umsatzes im Buchhandel ausmachen. Oder dass es von den 70.000 Werken, die alljährlich erscheinen, 90 % nicht einmal auf 100 verkaufte Exemplare bringen.

Insofern war der Stolz meines Gesprächspartners, er habe für eines seiner Bücher im letzten Jahr sage und schreibe 1.700 Euro an Autorenhonorar erhalten, einerseits durchaus berechtigt, andererseits, wenn man derlei Verkaufserfolge genauer analysiert, zugleich deprimierend.

Den meisten Lesern ist nämlich nicht bekannt, dass ein Autor lediglich 8 % vom Ladenpreis eines Buches als Honorar erhält, womit er neben Buchhandlung, Vertrieb, Druckerei, Verlag und dem Staat mit seiner Mehrwertsteuer der letzte in der Reihe der Profiteure ist, obgleich er als Erster das Werk geschaffen hat.

Auf Basis dieses Prozentsatzes ist auch die Berechnung nicht schwer, wie viele Bücher pro Jahr ein Autor verkaufen muss, um auf einen Jahresgehalt zu kommen, wie er für ähnlich gebildete Personen, etwa einen Gymnasiallehrer oder Beamten der mittleren Hierarchielage, eine Selbstverständlichkeit ist.

Auf der Basis eines Ladenpreises von 20 Euro und damit auf Basis eines Honorars von 1,6 Euro pro Buch müsste bei einem anzunehmenden Einkommen von 50.000 Euro, wie es dem laut Statistik durchschnittlichen Jahresbruttogehalt eines Gymnasiallehrers entspricht, ein Autor also 31.250 Bücher verkaufen, um ähnlich gut zu verdienen. Und das jedes Jahr! Wenn man zugleich bedenkt, dass ab 25.000 verkauften Exemplaren von einem Bestseller gesprochen wird, ergibt sich daraus die berechtigte Annahme, dass wohl kaum ein österreichischer Belletristik-Autor vom Verkauf seiner Bücher leben kann.

Die Jubelmeldung des Kollegen, 1.700 Euro mit seinem Buch verdient zu haben, was ca. 1000 verkauften Exemplaren entspricht, hatte also eine gewisse Berechtigung angesichts der 90 % von Büchern, die es nicht einmal auf eine Verkaufszahl von 100 bringen. Zugleich jedoch ergibt sich aus solch tristen Fakten irgendwann auch die Frage, wie man nur so verrückt sein kann, den Beruf eines Autors mit garantierter Aussicht auf erniedrigende Verdienstmöglichkeiten zu ergreifen.

Der legendäre Generalintendant des ORF Gerd Bacher hat darauf, als man ihn aufforderte, mit den Geldern seines Unternehmens gefälligst mehr für die österreichischen Autoren zu tun, die für ihn typische Antwort gegeben: „Niemand hat Ihnen angeschafft, Schriftsteller zu werden!“

Diese sehr pragmatische Bemerkung geht an vielen Autoren natürlich vorbei. Andreas Niedermann etwa bezeichnete es bei seiner Lesung im Rahmen von „Sprachsalz“ für ihn als Notwendigkeit, die Welt zu benennen, um Ordnung in seinem Geist zu schaffen. Und was sollen all jene mit dem Ratschlag anfangen, die sich in ihrem durch Wirtschaftswachstum und die 68er-Revolution bedingten Größenwahn den Selbstverwirklichungsträumen als Dichter, Regisseure oder berühmte Musiker hingaben und nun im vorgerückten Alter feststellen, dass sie trotz aller Bemühungen auf das einkommensbezogene Wörtchen aktueller „Berühmtheit“ verzichten müssen? Sollen sie noch eine Installateur-Lehre beginnen? Oder sich als Rezeptionist in einem Hotel bewerben? Warum eigentlich nicht?

Überlegungen über die meist sehr bescheidenen Lebensverhältnisse einer Branche geraten vor dem Hintergrund folgender Meldung der letzten Wochen allerdings in ein geradezu kurioses Licht. So soll die Stiftsbibliothek Melk, die als UNESCO Weltkulturerbe gilt, um 12 Millionen Euro restauriert werden, wobei neben den barocken Räumlichkeiten auch Tausende Bücher restauriert werden sollen, deren Wiederinstandsetzung im billigsten Fall mit 500, im teuersten mit bis zu 12.000 Euro zu veranschlagen ist.

Wenn man diese Kosten nun den Buchhonoraren, die ein lebender Autor realistischer Weise zu erwarten hat, gegenüberstellt, wird wieder einmal deutlich, dass die Gegenwartskunst in Österreich eigentlich nur dazu da ist, durch den tunlichst frühzeitigen Tod der Kunstschaffenden immer neue Vergangenheiten zu schaffen, von deren Unterschutzstellung, Archivierung und periodischer Neudeutung bzw. Renovierung durch DenkmalschützerInnen, GermanistenInnen und ArchivareInnen Leute, die mit Kreativität und Autorenschaft sehr wenig zu tun haben, gedeihlich leben können, ob es nun im konkreten Fall die Klosterbrüder des Stiftes Melk mit ihrem unsäglichen religiösen Unter- bzw. Überbau oder die zweifelsfrei bestens bezahlten Restauratoren und Restauratorinnen der zu restaurierenden Melker Stiftsbibliothek sind.

Der wesentliche Unterschied zwischen heute und gestern besteht allerdings darin, dass meine Kolleginnen und Kollegen aus der schreibenden Zunft in der Regel Texte verfassen, in denen nicht mehr davon ausgegangen wird, dass die Erde eine Scheibe mit Löchern als Beleuchtungskörper am Kulissen-Firmament, noch dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, noch dass man gegen Blinddarmentzündung tunlichst bei Vollmond bei gleichzeitiger Einnahme von Pfefferminztee mit rechtsdrehendem Wasser einen Kopfstand zu machen habe.

In den Büchern meiner Kolleginnen und Kollegen, vorerst einmal vollkommen unabhängig von ihrem Inhalt, steht – abgesehen von einigen wenigen querdenkenden Schwurbelköpfen – nichts, was nicht den derzeitigen Stand unserer Welterkenntnis widerspiegeln würde. Dasselbe kann zwar auch von den Büchern in der Melker Stiftsbibliothek behauptet werden. Allerdings bezogen auf ihre jeweilige Gegenwart! Und genau darin liegt der entscheidende Unterschied!

All das nämlich, was wir heute aufgrund unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse – und damit sind nicht nur die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse gemeint – viel mehr über die Welt wissen als damals, als die Autoren der Stiftsbibliothek Melk ihre Bücher schrieben, macht diese mit wenigen leicht zu eruierenden Ausnahmen zu erhabenem Unsinn, der bestenfalls dann seiner Vernichtung in der Altpapiertonne entgehen sollte, wenn er als Autograph oder durch Seltenheit, durch Design, Druck, Illustrationen oder andere Merkmale über einen den Inhalt der Werke hinausweisenden Wert verfügt. Was den Inhalt der Bücher in der Stiftsbibliothek Melk selbst betrifft, grenzt es jedoch an flagrante Absurdität, derlei überholtes Pseudowissen mit 500 bis 12.000 Euro pro Werk für die Nachwelt zu erhalten.

Selbstverständlich kann auch von den Werken heute lebender Schriftsteller niemals behauptet werden, dass sie, obgleich sie das Unwissen der Vergangenheit hinter sich gelassen haben, ein Wissen der Zukunft für Jahrhunderte vorformulieren. Es ist bereits eine großartige Leistung, wenn diese Zukunft magere zehn Jahre beträgt, haben wir uns doch längst vom Dogma verabschiedet, es gebe abseits gewisser mathematisch fassbarer naturwissenschaftlicher Gesetze ewige Wahrheiten.

Dennoch sind diese zehn Jahre mehr wert als all die erloschenen Zukünfte in den Büchern einer barocken Stiftsbibliothek. Und da wir zudem nicht wissen, welche Werke welcher Autorin und welches Autors Bestand haben werden und die Gegenwart fast immer auf die falschen Kandidaten setzt, weil sie die Zukunft nicht kennt, sind die Millionen, die in Melk in abgehangene Vergangenheiten fließen, vergeudetes Geld.

Dass dieses Urteil nicht auf die Forderung hinausläuft, stattdessen den derzeitigen deprimierenden Literaturbetrieb, wie Egyd Gstättner ihn am Montag dieser Woche brillant beschrieben hat, noch mehr zu subventionieren als bisher, muss als ungeklärter Schlusspunkt der vorliegenden Überlegungen festgehalten werden. Der Ratschlag Gerd Bachers, dass sich jeder Schriftsteller des Risikos seiner Existenz abseits von netzwerkbedingten Subventionen, meist korrupten Preisen und ganz bestimmt korrupten Vorlass-Geschäften eigenverantwortlich bewusst sein sollte, ist nämlich die unabdingbare Voraussetzung für künstlerische Innovationen, denen in den letzten Jahrzehnten in sehr vielen Fällen das Sterbemittel „Subvention“ zu einem sanften Geistestod verholfen hat.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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