Alois Schöpf
Das geraubte Lebenswerk
Auf den Tiroler Festspielen Erl 2021 liegt der Makel der Niedertracht.
Versuch einer Analyse

Wenn man nach dem Gasthof „Die blaue Quelle“ in Erl mit dem Auto die leicht ansteigende Landesstraße hinauffährt, öffnet sich das Feld und man sieht rechts im Hintergrund einer großen Wiesenfläche zwei mächtige moderne Gebäude aufragen: das Passionsspielhaus des Erler Passionsspielvereins und die neu für die Tiroler Festspiele Erl erbaute Oper. Beide Bauten bestechen durch ihre elegante Architektur, die wunderbar mit der bäuerlichen Umgebung und der grün wuchernden Natur kontrastiert.

Das Passionsspielhaus, in den 1950ern nach den Plänen des Architekten Robert Schuller erbaut, wurde in den letzten Jahren restauriert, modernisiert und vor allem mit zeitgemäßen Toilettenanlagen versehen. Das Opernhaus wiederum entstand nach einem Architektenwettbewerb nach den Plänen des Wiener Büros Delugan Meissl neu und ist mit seinem eleganten Aufgang, einem heb- und versenkbaren Orchestergraben und einem spektakulären, in schiefen Ebenen angeordneten Foyer eines der modernsten und akustisch am besten ausgestatteten Opernhäuser Österreichs und seiner Nachbarländer.

Beide Gebäude verdanken ihren heutigen Zustand der ungeheuren Überzeugungskraft und Leidenschaft eines Mannes, ohne den weder die öffentlichen Stellen jemals so viel Steuermittel locker gemacht hätten, noch so großzügige private Opernliebhaber wie der Großindustrielle Hans Peter Haselsteiner und seine Gattin Ulli Haselsteiner sich zu solchen Investitionen entschlossen hätten. Sein Name ist der über lange Zeit als internationaler Star gehandelte Dirigent, Intendant und Impresario Gustav Kuhn, der als prominentes Opfer des Zeitgeistes in seiner Ausformung als alter weißer Mann inzwischen um sein Lebenswerk betrogen wurde, was seine geradezu schriftliche Bestätigung darin findet, dass er im Programmheft der Tiroler Festspiele Erl vom Sommer 2021, der von der Corona-Pandemie mehr oder weniger zum ersten Mal unbeeinträchtigten Konzert- und Opernreihe unter der neuen Ära Loebe/Küchle, mit keinem einzigen Wort erwähnt wird.

Kuhn ist in einem Ausmaß zur Unperson erklärt worden, dass man es ihm, obgleich er in Erl wohnhaft ist, nicht nur verwehrte, bei den Proben zu „Rheingold“ unter der Regie von Brigitte Fassbaender anwesend zu sein, es wurde ihm auch nahegelegt, auf den Besuch allfälliger Premieren zu verzichten, da er allein durch seine Anwesenheit als Ex-Intendant medial die Präsenz all jener überstrahlt hätte, die inzwischen versuchen, es sich in seinen Hinterlassenschaften parasitär einzurichten. Dass er all diesen Wünschen, die Festspielegemeinde von seiner Anwesenheit zu entlasten, obgleich von Natur aus ein Revoluzzer, zähneknirschend willfahren muss, hängt wohl, dreimal darf man raten, mit jenen mildtätigen Apanagen zusammen, mit denen ihn der gütige, jedoch von der nachhaltigen Strahlkraft seines Günstling offenbar nicht sonderlich begeisterte Hans Peter Haselsteiner vor dem endgültigen ökonomischen Absturz bewahrt.

Dass Kuhn an diesem Absturz selbst nicht ganz unschuldig ist, sollte nicht verschwiegen werden. Gerade seine außerordentliche Fähigkeit, den meist aus bäuerlichen oder kleinbürgerlichen Milieus stammenden Tiroler Provinzpolitikern in Aussicht zu stellen, nach Erl die große Welt der Oper und Hochkultur zu holen und sie damit am Leben der Reichen, Schönen und Gebildeten teilhaftig werden zu lassen, was zuletzt in millionenschweren Subventionen seinen Ausdruck fand, erregte massiv den berechtigten Unmut, aber auch den unberechtigten Neid der heimischen Kulturszene.

Kam hier doch einer und wurde binnen weniger Monate mit hohen Beträgen gefördert, während andere ein ganzes Leben lang um ihre paar Tausender kämpfen mussten, nur weil sie nicht die Chuzpe hatten, allfällige Kulturpolitikerinnen abzubusseln, und zu anständig waren, um für die Wiederwahl eines Landeshauptmanns Werbung zu machen. Dass Kuhn berechtigterweise mit seinem Projekt in Erl von allem Anfang an als Provokation empfunden wurde, hängt jedoch auch damit zusammen, dass die grundsätzliche politische Entscheidung, neben dem chronisch untersubventionierten Tiroler Landestheater noch zwei weitere Opernhäuser in die grüne Wiese zu knallen, niemals offen ausdiskutiert wurde. Unmut erregte zudem nicht nur die oft rüde Art Kuhns, mit seinen Künstlern umzuspringen, Unmut erregten auch Honorare, im Rahmen derer branchenüblich bezahlte westliche Musiker neben armen Schluckern aus dem ehemaligen Ostblock saßen, die mit ihrer Kunst nicht einmal auf die halbe Gage einer hierzulande mies bezahlten Putzfrau kamen.

Unmut erregten aber auch die kasachischen Zustände, die es Kuhn erlaubten, mit seinen am Klassik-Mainstream orientierten Beethoven- und Wagnerprogrammen an der Hand seines Multimillionärs direkt zum Minister zu marschieren, während sich andere mit wesentlich intelligenteren Ambitionen durch wenn nicht korrupte, so doch zumindest unnötige Beratergremien quälen mussten, um zuletzt Kleinstbeträge zugesprochen oder gleich den ablehnenden Bescheid zu bekommen: man fördere nur Experimentelles. Als ob die vom Bund geförderten Festwochen der Alten Musik oder eben auch Erl je auch nur den Minimalansatz des Experimentellen geboten hätten oder bieten würden!

Unmut erregte zuletzt aber auch ein geradezu lächerliches Getue um einen zweifelsfrei kreativen und charismatischen Dirigenten, der sich mit dem Titel „Maestro“ ansprechen und sich damit in etwa auf die Höhe jenes alle sechs Jahre in Erl im Rahmen der Passionsspiels-Kitschorgie gekreuzigten Erlösers Jesus Christus hieven ließ, wobei alle an diesem Schauspiel Beteiligten, obgleich durchwegs intelligente Leute, mit Bravour verdrängten, dass ihr Schmierentheater binnen weniger Tage in nichts zusammen fallen würde, wenn jemand auf die Idee käme, den staatlichen oder in diesem Fall zusätzlich auch haselsteiner´schen Subventionsstecker zu ziehen.

Fehlt zuletzt nur noch ein aus all diesen Momenten sich langsam entwickelnder manifester künstlerischer Größenwahn, aus dem heraus der “Maestro“ zur Ansicht gelangte, er könne nicht nur mit dem Taktstock umgehen, sondern auch den Bühnenbildner spielen und Regie führen. Dass selbiges in zu vielen Fällen zumindest nach Ansicht von Besuchern, die über ausreichend überregionale Vergleiche verfügen, in provinzielle Peinlichkeit abglitt, führte zuletzt auch künstlerisch zu massiven Einwänden, in Erl müsse bei Eintrittspreisen von bis zu 180 Euro und bei gleichzeitig mangelhafter Qualität der Inszenierungen und der Sänger langsam etwas geschehen.

Unter der Voraussetzung, dass jede künstlerische Leistung nicht nur am Publikum wächst, sondern auch von der ehrlichen Kritik und Analyse des Produzenten, des Geldgebers, in diesem Fall vor allem der staatlichen Subventionsgeber abhängig ist, hätten all die aufgezählten Mängel schon längst im Sinne eines wertschätzenden Umgangs mit dem zu Eskapaden neigenden, jedoch unvergleichlich verdienstvollen Gründer und Initiator der Tiroler Festspiele Erl bereinigt werden können. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Kuhns Gesprächspartner über ausreichend guten Geschmack, Kompetenz in Sachen Kulturmanagement und über die Zivilcourage verfügt hätten, bei allfälligen Aufsichtsratssitzungen den Mund aufzumachen.

Da die heimische, aber auch gesamtösterreichische Kulturpolitik in der Regel jedoch von Amateuren und Dilettanten bevölkert wird, konnte ein solches Gespräch naturgemäß nie zustande kommen. KulturpolitikerInnen bekommen hierzulande ihr Ressort nicht deshalb zugesprochen, weil sie von den komplexen Problemen des Theaters, der Oper, der Verlage oder der bildenden Künste auch nur das Mindeste verstehen würden, sondern weil sie als unverzichtbares Mitglied des weiblichen Geschlechts im Sinne der Quote, der richtigen Partei bzw. der richtigen Parteiunterorganisation mit dem, was an Ressorts noch am Tisch übrig bleibt, und das ist in der Regel eben die Kultur, versorgt werden müssen.

Was sich statt einer offenen und absolut notwenigen Diskussion also zunehmend anhäufte, war eine Art mulmigen Unbehagens, sodass die ihrer Hochblüte entgegensteuernde #MeToo-Bewegung, Kuhns immer wieder öffentlich bekundetes Bekenntnis zur Vielweiberei, das zweifelsfrei unter moralischer Empörung vergrabenen Sexualneid induzierte, und die sich im Hass-Blog des Markus Wilhelm häufenden Informationssplitter einer im Übrigen seit Jahrzehnten in der Musiktheater- und Theaterbranche alltäglichen und üblichen Anmache leitender Künstler ihren Untergebenen gegenüber eine höchst explosive Mischung ergab.

Fortsetzung: Freitag 09.07.2021

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Elias Schneitter

    lb alois,
    finde den beitrag über den maestro großartig!
    wenn alle extravaganzen der maestros in der geschichte verhindert worden wären, dann müssten wir auf vieles verzichten. das macht die sache zwar nicht besser, aber grad die katholen reden immer vom „verzeihen“, wobei unser maestro einem sm-urteil zum opfer fiel und von allen anschuldigungen vor „ordentlichen“ gerichten frei gesprochen wurde.
    diese form der moral ist heuchlerisch.
    feines wochenende

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