Alois Schöpf
Crashkurs in Sachen Aufklärung
Zu Thilo Sarrazins neuem Buch
"Die Vernunft und ihre Feinde
Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens"

Thilo Sarrazin (geb. 1945) hat in seinem nicht mehr ganz kurzen Leben schon einiges geleistet. Er war Referent im Deutschen Bundesministerium der Finanzen, Referatsleiter im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Redenschreiber für Hans Apel, leitete die Referate für Innerdeutsche Beziehungen, arbeitete für die Treuhandanstalt, war Staatssekretär im Ministerium der Finanzen Rheinland-Pfalz, Vorsitzender der Treuhandliegenschaftsgesellschaft, im Vorstand bei der Deutschen Bahn, Berliner Senator für Finanzen, Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und Mitglied der SPD, bis selbige sich nach wiederholtem Anlauf durch einen Parteiausschluss von ihm trennte.

Letzteres weist darauf hin, dass dieser lebenslänglich treue Staatsdiener, statt sich mit seinem zweifelsfrei umfänglichen Ruhegenuss in die Pension zurückzuziehen und, wie viele seiner Generationskollegen, in einem Haus in der Toskana allabendlich eine Flasche Barolo zu vertilgen, unvorsichtiger Weise jenem intellektuellen Trieb nachgab, den er in seinem jüngsten Buch mit den Worten umschreibt:

„Der Kern dessen, was wir gemeinhin „Aufklärung“ nennen, ist für mich der methodische Wille zum rationalen, evidenzbasierten Denken und eine damit verbundene voraussetzungslose Neugier zur Erforschung der Wirklichkeit.“ (S. 333)

Diese voraussetzungslose Neugier und der damit verbundene Mut, ein vor sich hin dümpelndes Deutschland mit scharfem analytischen Verstand auf seine verdrängten Probleme und hier vor allem auf eine unkontrollierte Migration aus islamisch dominierten Ländern hinzuweisen, machten ihn zu einem der erfolgreichsten Sachbuchautoren und zu einem der führenden deutschen Intellektuellen, dessen Argumente ein neues Kapitel in der Debattenkultur aufschlugen. Dadurch wurde er aber auch für das aus der sogenannten 1968-er Revolution herangewachsene hedonistisch linksliberale Spießertum zum bevorzugten Hassobjekt. Seine Auftritte und Lesungen müssen bis heute unter Polizeischutz durchgeführt werden, eine krankheitsbedingte leichte Gesichtslähmung wurde von besonders liebenswerten schreibenden Kollegen zum Anlass genommen, öffentlich seinen baldigen Tod durch Schlaganfall herbeizuwünschen, ganz abgesehen von Angela Merkel, die, ohne das Buch „Deutschland schafft sich ab“ gelesen zu haben, mit ihrer erlauchten Bemerkung, „es sei nicht hilfreich“ die Hetzjagd auf den Autor von oben herab gleichsam sanktionierte.

Die Tatsache, dass ein noch so großer Erfolg am Buchmarkt und daraus resultierende Honorare solch niederträchtige Verletzungen nicht ungeschehen machen können, dürfte denn auch die Initialzündung für das vom Titel her an das Standardwerk von Karl Popper „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ erinnernde neueste Buch Sarrazins „Die Vernunft und ihre Feinde“ gewesen sein.

Dabei geht es dem Autor, wohl auch um seine Integrität als Intellektueller unter Beweis zu stellen, dezidiert darum, im ersten Teil des Werkes den persönlichen Lebensweg hin zum selbstständigen Vernunftgebrauch und zur Europäischen Aufklärung darzustellen und das damit verbundene philosophische Rüstzeug vor dem Leser auszubreiten. Dies ist, wenn man es streng katholisch ausdrücken möchte, durchaus als „billig und recht, würdig und heilsam“ zu bezeichnen, ergibt sich daraus doch für den Leser die Erkenntnis, dass hier jemand nicht nur aufgrund seines erfolgreichen beruflichen Werdegangs, sondern auch aufgrund seiner analytischen Fähigkeiten kompetent genug ist, ein Urteil über den Zustand seines Deutschland und darüber hinaus unserer Zeit abzugeben.

Vor diesem Hintergrund ist „Die Vernunft und ihre Feinde“ bis zur Hälfte ein dramaturgisch spannend aufbereitetes und stilistisch brillant formuliertes Belehrungsvergnügen für alle, die erfahren möchten, wie Aufklärung in ihrer konkreten politischen und heutigen Anwendung realisiert wird. Aber auch für jene, die es für sinnvoll erachten, sich gleichsam als eifrige Schüler jene philosophischen Grundsätze in Erinnerung zu rufen, denen wir unsere Freiheit und Demokratie verdanken.

Im zweiten Teil des Werkes wird es durch die fast schon satirische Schärfe, mit der der Autor den Zeitgeist dann über die Klinge springen lässt, noch um einiges spannender. So werden nicht nur der in die Jahre gekommene, jedoch immer noch allgemein beliebte Marxismus, aber auch Faschismus und Nationalsozialismus, Antisemitismus, Rassismus, Denken in Identitäten, kultureller Rassismus, radikaler Konservativismus, Pazifismus, Nationalismus, Multikulturalismus, Ethnopluralismus, Konstruktivismus, Genderismus, Framing durch Sprache, Postkolonialismus, Woke Culture, Cancel Culture, Viktimisierung, die übertriebene Konzentration auf Freiheit, Gleichheit, Umwelt- oder Datenschutz daraufhin hinterfragt, inwieweit hier berechtigte Anliegen zum Ausgangspunkt von missionarischen Zuspitzungen werden, die das analytische Denken ersparen und zugleich einen hohen moralistischen Mehrwert und Distinktionsgewinn abwerfen.

Sarrazins Tour d’Horizon führt auch zur Erkenntnis, dass in einer Zeit, in der jeder glaubt mitreden zu müssen und zu können, obgleich dazu oft sowohl die Bildung als auch die Fähigkeiten fehlen, aufgeklärtes Denken es schwer hat, im Sinne von Ausgewogenheit und vernunftbasierter Neutralität gegen all jene Ideologen zu bestehen, die ihre Weltanschauung als säkulare religiöse Verortung in einer komplexen Welt dazu benützen, um sich eine geistige Heimat zu schaffen, und die Argumente prinzipiell danach auswählen, inwieweit sie diesem Bedürfnis dienlich sind.

Mehrfach wiederholt Sarrazin seine Überzeugung, dass sich radikale Minderheiten mit eindeutigen Botschaften und entsprechend fanatischem Engagement einer Bevölkerung gegenüber, die solchem Engagement mehr oder weniger gleichgültig gegenübersteht, zuletzt erfolgreich durchsetzen. So wird etwa in staatlichen Medien fleißig gegendert, obgleich 72 % des Publikums dies ausdrücklich ablehnen. Oder es wird das Recht, das Geschlecht abseits aller biologischen Grundlagen konstruktivistisch selbst zu definieren, unter den Schlagworten „trans“ und „queer“ zu einem Problem stilisiert, um das sich plötzlich alle zu kümmern haben, obgleich es in der Realität lediglich im statistischen Graubereich wahrnehmbar ist.

Eine besonders für die Alpengebiete interessante Bemerkung aus Sarrazins Buch sei im Rahmen seiner Beurteilung des Koalitionsabkommens der Deutschen Ampelregierung wörtlich zitiert:

„Ins humoristische Fach gehören unter „Umwelt und Naturschutz“ die Aussagen zum Wolf: „Unser Ziel ist es, das Zusammenleben von Weidetieren, Mensch und Wolf so gut zu gestalten, dass trotz noch steigender Wolfspopulation möglichst wenige Konflikte auftreten.“ Das Verhältnis von Wolf und Weidetier entspricht aber grundsätzlich jenem von Katze und Maus – nur dass das Weidetier durch den Weidezaun im Unterschied zur Maus an der Flucht gehindert ist. Hier wird Naturschutz mit Gemütskitsch verwechselt.“ (S. 319)

Vor dem Hintergrund zahlreicher solcher Beispiele erweist sich die Aufklärung als ein geradezu langweiliges, angefeindetes und mitnichten durch Distinktionsgewinn belohntes Bohren harter Bretter. Ihre undankbare Aufgabe ist es nämlich, zwischen den Pendelausschlägen linker und rechter Extremismen den sogenannten Hausverstand, die alltägliche Vernunft, die Normalität, die banale Humanität, den gesunden Menschenverstand, dessen Verhöhnung gemeinhin als olfaktorisches Erkennungszeichen des Intellektuellen auf der Höhe der Zeit gilt, vor den zunehmend in narzisstischem Wahnsinn versinkenden Priesterschaften der unbedingten moralischen Überlegenheit zu retten.

Wie notwendig dies ist, beweist Sarrazins neuestes Buch eindringlich, sowie es auch in Erinnerung ruft, dass Aufklärung noch in jedem Zeitalter vor dem Hass der Prediger nicht sicher war und immer noch nicht sicher ist.

Thilo Sarrazin: Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens. München: LMV 2022, 390 Seiten, EURO 26,80. ISBN 978-3-7844-3641-8e

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Janita

    Herzlichen Dank für den netten Beitrag!

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