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Alois Schöpf
Wider das Axiom vom gierigen Menschen
Essay

Als Sohn einer Unternehmerfamilie und lebenslänglich Freischaffender mit entsprechend inniger Bindung zu Finanzamt und Sozialversicherung bilde ich mir ein, von Wirtschaft zumindest so viel zu verstehen, dass ich beurteilen kann, ob jemand anderer, der behauptet, von Wirtschaft etwas zu verstehen, tatsächlich von dieser etwas versteht.

In den meisten Fällen, die vorgeben etwas zu verstehen, obgleich sie nichts oder nur sehr wenig verstehen, handelt es sich um gelehrte, in staatlichen Diensten stehende, nicht selten geisteswissenschaftlichen Fächern zuzurechnende universitäre Opportunisten, die in ihren Texten vor allem deshalb den wirtschaftlich Kenntnisreichen hervorkehren, um sich, Hunden vergleichbar, die ihr Revier durch Bespritzen von Häuserecken markieren, in die Schar jener einzureihen, die durch eine weiter nicht hinterfragte Verwendung der Begriffe „Kapitalismus“ und „Neoliberalismus“ den Lesern kund und zu wissen tun, dass sie sich nicht der Gier der schnöden Geldverdiener, sondern den edleren Tugenden der auf der richtigen Uferseite der Weltgeschichte Befindlichen verpflichtet fühlen.

Sowohl der von Karl Marx hergeleitete, im Grunde stets disqualifizierende Begriff „Kapitalismus“, als auch der in den 1990-er Jahren entstandene gegen mehr Wettbewerb und Privatisierung entwickelte Kampfbegriff „Neoliberalismus“ sollen signalisieren, dass wirtschaftliches Handeln aus dem Bestreben des homo oeconomicus resultiert, seine Fähigkeit zum rationalen Denken dazu zu benützen, um egoistisch seinen Nutzen zu maximieren.

Das Groteske an diesem Menschenbild liegt nun vor allem darin, dass es mitnichten linken Träumen vom Sehnsuchtsort eines egalitären Arbeiterparadieses entsprungen ist, sondern dass es ein zentrales Axiom genau jener Volks- und Betriebswirtschaftslehren darstellt, wie sie an den Universitäten bis heute unhinterfragt unterrichtet werden, und die eigentlich dazu da sein sollten, durch ein genaues und komplexes Verstehen des wirtschaftlichen Handelns jenes Basiswissen zur Verfügung zu stellen, auf dem aufbauend die Politik für eine gerechte und solidarische Gesellschaft, die zugleich ökonomisch erfolgreich ist, zu sorgen hätte.

Naturgemäß verfüge ich als lediglich nachdenklicher und an wirtschaftlichen Fragen interessierter Zeitgenosse nicht über die Kompetenz, an dem genannten Dogma hochmögender universitärer Lehren im Hinblick auf das Menschenbild des seine Rationalität missbrauchenden Nutzenmaximierers Kritik zu üben.

Erfreulicherweise ist dies auch nicht notwendig, hat eine solche doch, leider ignoriert und, was später noch zu erläutern sein wird, geradezu zensuriert, der Nobelpreisträger für Ökonomie und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, der indische Ökonom, Philosoph und Ethiker Amartya Sen bereits im Jahre 1977 in seinem auch in deutscher Sprache (Reclam 14064) lediglich 46 Seiten umfassenden Essay mit dem Titel „Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der ökonomischen Theorie“ vorgelegt.

Sens Essay präsentiert eine knappe, komplexe und schlüssige Argumentation, die für jeden, der über Wirtschaft seine Meinung zu äußern und dabei die denunzierenden Begriffe „Kapitalismus“ und „Neoliberalismus“ zu verwenden gedenkt, zur Pflichtlektüre gehören sollte.

So weist Sen am Beginn seiner Überlegungen darauf hin, dass das von ihm so genannte „erste Prinzip der Ökonomie“ des Menschen als Nutzen-Maximierer ursprünglich bewusst als Provokation formuliert wurde, um damit der Behauptung der Ulitilitaristen, wonach das Streben nach Glück der Einzelnen in Summe zu allgemeiner Wohlfahrt führe, entgegenzutreten und im Gegensatz dazu den wirtschaftlich Handelnden als Egoisten zu definieren, dem der größtmögliche Nutzen aller anderen gleichgültig ist.

Aus diesem über Jahrhunderte geführten Streit zwischen der Kompatibilität von Altruismus und Egoismus gelangt Sen in seiner Analyse zur Erkenntnis, dass auch all jene Wünsche und Absichten, welche unter Eigennutz zu subsumieren sind, in Wirklichkeit aus einer ganzen Palette verschiedener Segmente möglichen Eigennutzes bestehen, sozusagen dem ganz persönlichen ureigensten, intimen Eigennutz, dem auf Familie und Kinder gerichteten Eigennutz und, als Gipfelpunkt des Sophismus, aus einem Eigennutz, der daraus resultiert, dass Hilfe deshalb gewährt wird, weil das Mitleiden am Leiden anderer selbst Leiden verursacht, das gleichsam eigennützig durch Hilfeleistung eliminiert werden soll.

Mit dieser Ausdifferenzierung des Begriffes des Eigennutzes, aus der an sich schon die Erkenntnis resultiert, dass die Definition des Menschen als Nutzen-Maximierer lediglich auf ein unzulässig vereinfachendes Klischee hinausläuft, lässt es Sen jedoch nicht bewenden. Er führt zusätzlich den Begriff der Verpflichtung ein – als eines Handelns, das auf die Gefahr hin, den eigenen Nutzen zu minimieren, dennoch aus moralischen und ethischen Gründen erfolgt.

Dabei ist wichtig, dass mit moralischem Handeln sehr wohl eine Befriedigung einhergehen kann, die unter die Rubrik Nutzenmaximierung fallen könnte, die jedoch, und das ist das Entscheidende, nicht die Ursache des jeweiligen Handelns ist. Dies kann beispielsweise von der aus tierethischen Gründen erfolgenden Wahl einer veganen Speise, deren Verzehr köstlich ist, bis hin zu einer unterlassenen Steuerhinterziehung reichen, die für den aus Verpflichtung korrekt handelnden Staatsbürger wohl nur minimalen Genuss, tugendhaft zu sein, abwirft, bis hin zum Feuerwehrmann, der es als Verpflichtung erachtet, einen ihm vollkommen fremden Menschen zu retten und dabei, in voller Einschätzung der Gefahr und von Angst gequält, das eigene Leben riskiert.

Nach der Erkenntnis also, dass das eigene Wohl, welches es zu steigern gälte, ein äußerst vielschichtiges Konstrukt ist, und der Erkenntnis, dass viele Entscheidungen im wirtschaftlichen Handeln moralischen und ethischen Grundsätzen unterliegen, ergänzt Sen dieses sehr komplexe und damit die Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen würdigende Menschenbild durch die Beobachtung, dass die sogenannten Präferenzen wirtschaftlichen Handelns nicht nur einer Rangordnung, sondern sogar Rangordnungen von Rangordnungen unterliegen, wobei der Autor zuletzt seine Forderung nach Abkehr von der monokausalen These des Menschen als eines Nutzen-Maximierers in dem seinem Essay den Titel gebenden Satz zusammenfasst:

„Der rein ökonomische Mensch ist tatsächlich nicht weit davon entfernt, ein sozialer Idiot zu sein. Die ökonomische Theorie war lange mit diesem rationalen Dummkopf beschäftigt, der mit der Gloria seiner EINEN Allzweck-Präferenzordnung geschmückt war. Um Raum zu schaffen für die verschiedenen Konzepte, die mit diesem Verhalten in Verbindung stehen, benötigen wir eine stärker ausgearbeitete Struktur.“

Damit jedoch sind wir bei der nun nicht mehr wirtschaftswissenschaftlichen, sondern gesellschaftspolitischen Frage der vorliegenden Überlegungen angelangt: Wenn nämlich die seit bald Jahrzehnten beharrlich nicht zur Kenntnis genommene Argumentation des doch immerhin inzwischen weltberühmten Ökonomen und Nobelpreisträgers Amartya Sen nicht bis zu den volks- und betriebswirtschaftlichen Lehrstühlen in relevantem Ausmaß vordrang, muss dies doch, abgesehen von den Trägheiten universitärer Blasen, zu denen vor allem Fächer neigen, die nicht den strengen Ritualen naturwissenschaftlicher Forschung unterliegen, massive Beweggründe haben. Und diese sind wohl am besten dort festzumachen, wo es um die zum Teil horrenden Honorare geht, die von Unternehmen ausgegeben werden, um sich zwecks Gewinnmaximierung Berater zu engagieren.

Wenn Sens These nämlich zutrifft, dass das wirtschaftliche Handeln der Menschen Ergebnis sehr komplexer, rationaler, aus eigennützigen, moralischen und in Rangordnungen von Rangordnungen gestaffelten Überlegungen besteht,  – und seine Argumente dafür sind sehr überzeugend -, die auf Universitäten gelehrte und vor allem innerhalb der Medien und der politisch interessierten Öffentlichkeit entscheidende Motivation wirtschaftlichen Handelns jedoch simpler Gier zugeschrieben wird, liegt plötzlich klar auf der Hand, dass Sens These einer weltweit tätigen, gigantischen Branche von lächerlichen von Flugplatz zu Flugplatz eilenden, meist modisch gewandeten und gut aussehenden Herren und weniger Damen, deren Korruptheit wir unter anderem auch die Finanzkrise 2008 zu verdanken haben, zumindest fachlich jede theoretische und politisch jede moralische Daseinsberechtigung entziehen würde.

Vor dem Hintergrund von Sens Überlegungen liegt die hoch bezahlte Aufgabe von sogenannten Betriebsberatern dann nämlich nicht darin, für erfolgreiches unternehmerisches Handeln zu sorgen, sondern vielmehr darin, als säkulare Beichtväter mit den Gebetsformeln einer sogenannten durch universitäre Abkunft gleichsam heiliggesprochenen Volks- und Betriebswirtschaftslehre für die Absolution von der Untugend der Gier zu sorgen und moralisch verwerfliches Handeln, also rücksichtslose Ausbeutung von Mensch und Umwelt als gesetzmäßige Notwendigkeit wirtschaftlichen Überlebens geradezu zu befördern.

Fortsetzung 2. Teil
Wie das Menschenbild vom gierigen Menschen jene, die davon kommerziell profitieren, als auch jene, die diese kommerziellen Erfolge kritisieren, in gleicher Weise legitimiert.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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