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Alois Schöpf
Kirchenmusik und religiöse Indifferenz
Die Aufgabe von Blas- und Bläsermusik
im Rahmen religiöser und säkularer Rituale
Vortrag
2. Teil

Der unten stehende Vortrag wurde anlässlich eines interdisziplinären Symposiums des Zentrums für Militärmusik der Deutschen Bundeswehr am 25. August 2023 in Bonn gehalten. Die Analyse stieß dabei durch ihre klare Sprache auf die allgemeine Anerkennung des Publikums, in dem sich viele Kapellmeister und Blasmusikkundige aus mehreren Ländern befanden. Selbstverständlich wurde der Text neben seiner Aufnahme in einen Sammelband des Zentrums für Militärmusik auch der Österreichischen bzw. der Tiroler Blasmusikzeitung zum Abdruck angeboten. Beide Organe lehnten dankend ab.

1. Teil: https://schoepfblog.at/?p=30402&preview=true


2. Teil

Trotz großer religiöser Indifferenz der Bevölkerung bestehen auch heute noch durchaus magisch-religiöse, religionsaffine oder säkulare Rituale, deren Authentizität wohl am besten dadurch überprüft werden kann, inwieweit es möglich ist, an ihnen als Voyeur, als konsumierender, unbeteiligter Beobachter teilzunehmen, also in Wahrheit an ihnen nicht teilzunehmen.

Zu solchen Ritualen, bei denen der reine Konsum des Events kaum möglich ist, gehören zweifelsfrei Trauerfeiern und Begräbnisse, ob sie nun von einem Priester oder von einem Zeremonienmeister durchgeführt werden. Dabei haben die meisten von uns wahrscheinlich schon die Erfahrung gemacht, dass inzwischen weltliche Beerdigungen frei von heruntergeleierten, nichtssagenden Gebetssprüchen der Würde und dem Gedenken Verstorbener oftmals viel eindrücklicher entsprechen.

Voyeuristische Zuschauer vertragen aber auch nicht, da sie die Intimität des Anlasses verletzen würden, Kindstaufen oder Hochzeiten bis hin zu Erstkommunionen und Konfirmationen, alles Rituale, an denen sich auch jene beteiligen, die der Religion kaum noch verbunden sind, und zwar deshalb, weil solche Feierlichkeiten anthropologische Konstanten repräsentieren, die in allen Kulturen der Welt von der Geburt über die Initiation der Jugendlichen und die Eheschließung bis hin zum Tod als tragende Element des Lebens gewürdigt werden wollen. Hier bleibt es auch heute noch die edle Aufgabe der Freiluftmusik, der Blas- und Bläsermusik also, Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Trauermusik zu trösten und mit Festmusik zu erheben und zu erfreuen.

Einen Übergang zum hohlen Ritual bilden in diesem Zusammenhang Ausrückungen, wie sie etwa um den 1. November in meiner Heimatgemeinde und in ganz Tirol unter dem fragwürdigen Motto Heldengedenksonntag stattfanden und immer noch stattfinden, die beschönigende Bezeichnung eines Anlasses, dessen Fragwürdigkeit sich schon allein aus dem Studium jener Tafeln ergibt, auf denen die Namen all jener aufgelistet sind, die in jugendlichem Alter oftmals unter höchsten Qualen in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts elendiglich verenden mussten: anders kann man es nicht bezeichnen.

Wenn die zu solchen Anlässen ausrückenden Musikvereine hier nicht kritische Distanz signalisieren, indem sie den Begriff Held hinterfragen, da es Opfer heißen müsste, was naturgemäß im Falle eines aggressiven Eroberungskrieges eine äußerst problematische ethische Konstellation im Hinblick auf Täterschaft aufwirft, geraten sie selbst in den Ruf mangelnden Geschichtsbewusstseins und naiver Übernahme eines unreflektierten Vaterlandsgeschwafels.


Alpenbarocke Verlogenheit

Wenn ich Sie am Beginn meines Vortrags mit Ironie als ein stolzes Mitglied des Volkes der Tiroler begrüßt habe, muss ich hinzufügen, dass ich die Einladung zu dieser Tagung auch deshalb gern angenommen habe, weil ich in meinem Heimatland zu oft gequälter Zeuge einer durch den Tourismus forcierten Entwicklung bin, bei der fortschrittliche Zeitgenossen glauben, ich betone: glauben, es genüge in eine Tracht oder in eine historische Uniform zu schlüpfen, um sich zumindest weltanschaulich, wenn man schon beruflich der Globalisierung unterworfen ist, mittels Identitätsgetue die Idylle einer angeblich heilen Welt von Gestern zu retten.

Und weil eine solche heile Welt nur dann ihre psychologisch und ökonomisch gewinnbringenden Kräfte entwickeln kann, wenn sie nicht allzu grotesk dem gegenwärtigen Erkenntnisstand der Vernunft widerspechen, wird verzweifelt versucht, eine überholte Religion mit ihren überholten Ritualen und mit ihren oft pathologischen Moralvorstellungen so hinzubiegen, dass eine Koexistenz mit der Jetztzeit und ihrem Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse möglich ist.

Die deutlichsten Beispiele dieser immensen Anstrengung sind all jene von den Gästen vielfach als wunderbar empfundenen, zugleich jedoch architektonisch unüberbietbar geschmacklosen Auswüchse alpenbarocker Hotelbauten, die vorgeben, ein Bauernhof zu sein, in Wirklichkeit jedoch den international standardisierten Komfort eines 5-Sterne Hotels zu bieten haben. 

Auf die Frage, weshalb sie so viel Geld in so viel Kitsch investieren, pflegen die Bauherren in der Regel zu antworten, weil die Gäste, die Deutschen, Sie, meine Damen und Herren, es so wünschen. Ja es stimmt, Sie wünschen in ihrem Urlaub tatsächlich auch die Idylle und nicht die Gegenwart. Aber in Wahrheit wünscht es vor allem jener Hotelier, der, noch vor kurzem seinen Eltern am Feld und im Stall helfend, zu touristischem Reichtum gelangte und sich, plötzlich in eine globalisierte Welt verschlagen, verschreckt in das Märchen einer erträumten Vergangenheit zurückzuziehen versucht.

In der religiösen Praxis führen musikalisch solche als Metapher zitierte monströse Hotelbauten zur Bankrotterklärung jeder Theologie zugunsten trivialer humanistischer Phrasen. Und sie führen im musikalischen Bereich zu einer sogenannten Kirchenmusik, deren Mischung aus kommerzieller Popmusik, Songs aus Musicals und schlagermusikalischen Originalkompositionen einen Johann Sebastian Bach in schwerste Depressionen gestürzt hätte. Weniger Depressionen als vielmehr die Gefahr, sich bei all jenen Zeitgenossen, die noch nicht ganz den Verstand und den Geschmack verloren haben, lächerlich zu machen, sind die Folge einer solch zumindest in meiner Heimat landesweit geübten Praxis, sich gemeinsam mit dem Priester den Gläubigen und dem Zeitgeist anzubiedern und dabei zu meinen, dass lediglich das falsche Design dafür verantwortlich sei, dass die Religion immer mehr an Einfluss in der Gesellschaft verloren habe.

Es ist eine der Tragödien der gesamten Blasmusikbewegung, dass sie nicht nur im Dienste der Religion, sondern auch im wohlmeinenden Dienst an der Zuhörerschaft im Konzertsaal ihre eigene Vergangenheit zu leugnen versucht, in dem sie sich als gültiges musikalisches Ausdrucksmittel der Gegenwart zu präsentieren versucht, dabei die Moderne verfehlt und auf Basis flächendeckender Unbildung der verantwortlichen Funktionäre und künstlerischen Leiter Opfer der kommerziellen Trivialmusik inklusive ihrer blasmusikalischen Ableger wird.


Kanon der abendländischen Kunstmusik

Wenn religiöse und quasi-religiöse Rituale nicht Anlässe betreffen, die, wie unter Punkt 1 definiert, noch authentisch genug sind, weil sie nicht als Event konsumiert werden können, und wenn die Leitung eines Blasorchesters, ob zivil oder militärisch, klug und gebildet genug ist, um nicht auf die billigen Standing Ovations trivialmusikalischer Effekthascherei hereinzufallen, reicht ein Verweis auf unsere philharmonischen Orchester, denen schließlich auch niemand den Vorwurf macht, dass sie vor allem Beethoven, Brahms, Bruckner und Gustav Mahler spielen.

In diesem Sinne kann die Zukunft der musikalischen Dienste im Rahmen einer zunehmend religiös indifferenten Gesellschaft am sichersten und erfolgreichsten und ohne die Gefahr, sich lächerlich zu machen, auf jener über 70-prozentigen Zustimmung zu einer eher allgemeinen europäischen Identität aufbauen, der wohl am ehesten die großartige europäische Musikgeschichte entspricht. 

Vor diesem Hintergrund werden Programme, die für religiöse, aber auch, wie schon mehrmals angedeutet, für religiös-säkulare Anlässe erstellt werden, sich auf jenen Kanon beziehen, der unmittelbar für kirchliche Anlässe geschaffen wurde, es sei hier nur an das umfangreiche Werk eines Johann Sebastian Bach erinnert, aber auch auf andere Werke der europäischen Kunstmusik, die nicht unmittelbar für religiöse Zwecke komponiert wurden, jedoch im Sinne einer allgemeinen europäischen Identität Festlichkeit, Trauer, Erhabenheit, also Emotionen formulieren, die zum jeweiligen Auftrag passen und diesen Auftrag stets auf höchstmöglichem Niveau in Bezug auf die Literatur und selbstverständlich auch auf die Ausführung erfüllen.

Daher sollte es abseits aller Geschmacksverirrungen selbstverständlich sein, in der Spannung zwischen den 5 Prozent, welche die kirchlichen Moralvorstellungen bejahen, und den 13 Prozent, die regelmäßig die Kirche besuchen, und den über 70 Prozent, die eine europäische Identität befürworten, die ursprünglichen Eigentümer und Nutzer sakraler Gebäude, auch wenn sie nur noch eine Minderheit darstellen, angesichts der großartigen Geschichte der Kirchenmusik nicht zu beleidigen. 

Zugleich sollte aber auch für das religiös indifferente Publikum an jene Kulturleistung Europas erinnert werden, die wohl als einziges untadeliges Verdienst für den Rest der Welt Bestand haben wird: die abendländische Kunstmusik.


Zusammengefasst: 

Die Kirchen sind architektonische Kunstwerke meist von hoher und höchster Qualität. Die Rituale, die in ihnen auch heute noch über die Bühne gehen, sind anthropologische Konstanten und dienen dazu, das menschliche Leben in eine Ordnung zu fassen. Die christliche Religion ist neben anderen Weltreligionen ein gewaltiges, ausgeklügeltes geistiges Konstrukt mit dem ehrwürdigen Alter von 2000 Jahren, das, auch wenn es dem gegenwärtigen Vernunftgebrauch nicht mehr entspricht, dennoch Initialzündung für unendlich viele großartige Kunstwerke war. 

Solche Zusammenhänge vertragen, was die Musik betrifft, in Sachen Literatur und Aufführung nur höchste Qualität. Unter ihrer Obhut kann es nur eine gute Zukunft geben!

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. walter plasil

    Hallo Alois!
    Habe den 2. Teil erst jetzt gelesen.
    Hochachtung für den gegebenen Einblick des Drahtseilakts eines leidenschaftlichen Blasmusikers in (pseudo) – religiösem Umfeld.

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