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Alois Schöpf
Abschied vom Tirolerhut
Essay

Die Ergebnisse der Tiroler Landtagswahl sind nicht überraschend. In einem Anfall von Realitätssinn haben die Wähler die Macht nach Maßgabe der gesellschaftlichen Realitäten und weniger nach Bedarf an touristischer Selbstdarstellung verteilt.

Zwei Meldungen verdeutlichen drastisch, in welchem Spannungsfeld sich derzeit das Leben im selbsternannten „Herz der Alpen“ abspielt.

Da erhielt Anfang September der 36 Jahre alte, in Südtirol geborene Hannes Pichler den Breakthrough Nachwuchspreis „New Horizons“. Er arbeitet als Professor für theoretische Physik am Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der Universität Innsbruck, eine Einrichtung, die weltweit führend an der Entwicklung des Quantencomputers beteiligt ist.

Ebenso Anfang September reisten anlässlich einer Diözesanwallfahrt 400 Tiroler nach Rom, wo Landeshauptmann Günther Platter, Landtagspräsidentin Sonja Ledl-Rossman und Landesrat Johannes Tratter verklärten Blicks dem 85-jährigen an einer Magen-Darm-Erkrankung leidenden Papst einen Geschenkkorb mit Tiroler Speck und Schnaps überreichten und Schützen und Blasmusik mitten in Italiens Hauptstadt einen landesüblichen Empfang mit Salutschuss und patriotischem Liedgut absolvierten.

Tirol ist längst, vor allem im Bereich des Inntales, ein urbanisiertes Land mit renommierter Klinik, großer Universität und drei Opernhäusern. Es ist ein Land mit Unternehmen wie Swarovski, Planseewerke, Koch Records oder dem Pharma-Unternehmen Sandoz Kundl. Es ist jedoch vor allem eines der touristisch am intensivsten genutzten Länder der Welt, führend in der technischen Erschließung der Alpen und wegweisend durch seine Wasserkraftwerke.

Zugleich ist Tirol aber eben auch, um auf die Pilgerfahrt nach Rom zurück zu kommen, ein Land, dessen mediale Repräsentanz nach außen von der Fiktion einer Ureinwohnerschaft bestimmt wird, die, katholisch, obrigkeitshörig, bei Diskussionen und Statements im Fernsehen polternd, nur mäßig der deutschen Sprache mächtig, einem bereits seit Jahrzehnten aus der Mode gekommenen Tiroler Abend entsprungen zu sein scheint. Diese selbsterwählte Rolle, die edlen Wilden Europas im Sinne Rousseaus, die widerständigen Älpler im Sinne Andreas Hofers und nicht zuletzt die urwüchsigen, jeden Ski-Hang jodelnd Hinabrasenden zu spielen, hat nicht nur über Jahrzehnte der nationalistischen Eitelkeit geschmeichelt, ein auserwähltes Volk zu sein. Es hat auch aus der Tourismusdestination Tirol ein am Markt begehrtes Produkt gemacht. Und es hat immer wieder eine Musikindustrie beflügelt, deren erfolgreichste Vertreter von den Schürzenjägern, DJ Ötzi über Hansi Hinterseer bis hin zum Volksmusikanten Franzl Posch die Tiroler als Leute ausweisen, die schon Heinrich Heine in „Reise von München nach Genua“ 1828 der „schamlosen Verschacherung des Verschämtesten“ bezichtigte.

Im Schatten solcher Urigkeit hat es sich ein Günther Platter gemütlich eingerichtet. Zuerst löste er den Schwiegersohn Eduard Wallnöfers und Assistenzprofessor an der Universität Innsbruck Herwig van Staa ab. Der hatte bei den Wahlen 2008 fast 10 Prozent an Stimmen verloren, unter anderem deshalb, weil er es mit seinem rüden Regierungsstil, mit dem er als Bürgermeister schon der Landeshauptstadt Innsbruck einen Modernisierungsschub verpasst hatte, die Frechheit besaß, über 200 Tourismusverbände zu 34 Großverbänden einzudampfen.

Da ging Platter, eine absolute Charmekanone, bei dem man nach 10-minütigem Gespräch meint, man sei schon ein Leben lang mit ihm befreundet, die Regierungsgeschäfte ganz anders an. Er überzog das Land mit einer klebrigen Masse aus Konsens und Freundlichkeit, die vom skandalösen Mittelmaß seiner Regierungsmitglieder getragen wurde und zuletzt durch eine Koalition mit den Grünen eine geradezu avantgardistische Note annahm.

In Wirklichkeit jedoch paarte sich mit ÖVP und Grünen katholische Wertkonservativität mit technologiefeindlicher Naturidyllik und bescherte den Tirolern seit 2013 eine Ära der lächelnden Stagnation. Trotz wortreicher Versprechen konnte die Regierung weder in Sachen Rückübertragungen des Gemeindegutes von den Agrargemeinschaften an die Gemeinden, noch in Sachen Wohnungsnot, noch in Sachen Kraftwerksbau, noch in Sachen Tourismus-Gesinnung, noch in Sachen Transitverkehr und auch nicht in Sachen Wölfe und Bären mehr als halbseidene Lösungen inklusive viel Schönwettergeschwätz anbieten.

Systeme knicken oft am falschen, gleichsam ungerechten Punkt: auch in diesem Fall. So wurde im Zusammenhang mit dem Corona-Management in Ischgl der Satz „Wir haben alles richtig gemacht“ zum Schlusspunkt für viele Wähler, nicht nur der eigenen Selbstberauschung als Tiroler, sondern auch der dafür hauptverantwortlichen ÖVP in Scharen davonzulaufen. Diejenigen, die geblieben sind, können nun weitermachen wie bisher und weiter verlieren. Oder als bürgerliche Partei endlich auf ein modernes, klischeebefreites Tirol hinarbeiten.

Erschienen in „Der Standard“ vom 27.09.2022

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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