Stephan Alfare
Sechs Gedichte

Sonntag, frühmorgens bei den Schrebergärten

Es ist längst hell.
Er schläft in den
Gartenanlagen auf der Schmelz
unter freiem Himmel,
nachdem er vom Weg nach Hause
abgekommen ist.
Es war eine wilde, heiße Sommernacht.
Die Polizei, drei Mann, weckt ihn auf;
freundliche junge Männer,
fast noch Kinder …
Kleinfamilien, Zukunft, Morgenrot.
Eine kleine, runzelige Beklemmung
in den Gesichtern der Polizisten,
irgendwo in der Nähe bellt ein Hund,
es muss ein Mops sein.

Weswegen sind Sie hier?
Wir sind angerufen worden.
Bitte, fahren Sie mich nach Hause.
Aber wir sind doch kein Taxi.
Haben Sie denn einen Wohnungsschlüssel?
Ja, sagt er. Ja.
Es ist ein wunderbarer Sonntagmorgen
im Sommer in Wien, Fünfhaus.
Von der Gablenzgasse her
kann man die Kanaldeckel knacken hören,
wenn dann und wann ein Auto drüberfährt.
Haben Sie einen schönen Tag.
Ich danke Ihnen. Sie auch.
Haben Sie einen wunderschönen Tag.

Und während er nach Hause geht,
muss er an die alte Kopftuchtürkin denken
(weiß der Geier, weswegen),
gestern Nachmittag in der 46er-Straßenbahn
auf dem Weg zur Haberlgasse hinunter.
Immer, wenn er weggesehen hat,
hat die Frau ihn angesehen,
als sei er ein Magnet
für ihre Bosporusaugen.
Aus den Augenwinkeln
hat er die Frau beobachtet und
in sie hineingesehen
und hineingelesen.
Eine alte türkische Frau,
ein sonnengegerbtes, faltiges,
ledriges Gesicht wie ein großer Roman.
Eine Geschichte ohne Ende.


Es passiert immer wieder

Ich gerate jedes Mal in einen Wirbelsturm hinein.
Die Leute, die mich ansprechen … sie zu erforschen …
es ist immer zu viel.
Am Ende stehe ich mit irgendwelchen billigen Zuhältern,
die nichts auf der Kante haben,
und irgendwelchen bemitleidenswerten Prostituierten,
die nichts auf die Reihe kriegen,
in irgendeiner der Bars in der Burggasse,
die die Sperrstunde missachten.

Da wird dann nur angeklopft
und die Tür öffnet sich
und die Tür wird wieder verriegelt.
Wer weiß, vielleicht bin ich zu alt
für solche Spielchen?
Das frage ich mich jedes Mal.
Es passiert immer wieder.


Am offenen Fenster

Ein Uhr nachts.
Das Gittertor zum Innenhof fällt zu,
Schritte, eine Autotür geht,
ein Wagen startet, fährt los,
das Motorgeräusch eines japanischen Wagens
aus den 1990er-Jahren, der Wagen verlangsamt
an der Kreuzung, es ist ein Toyota,
dann kreischen die Reifen auf dem Asphalt,
der Wagen, ein Kopf einer angreifenden Giftschlange,
schießt los, biegt an der Kreuzung ab
und rast in Richtung Innenstadt.
Hinterher ist es wieder völlig ruhig.
Totenstille.

Das Gittertor quietscht. Schritte.
Jemand hustet. Schlurfende Schritte auf dem Bürgersteig.
Du lehnst dich zum Fenster hinaus.
An der Ecke steht ein steinalter Mann
vor dem Zigarettenautomaten,
fuhrwerkt in seinen Taschen herum,
hustet, steckt Münzen in den Schlitz,
das Geräusch, wenn ein Päckchen Zigaretten
durch den Automaten flutscht
und in der Ausgabeöffnung landet.
Herrgott noch mal.
Haben Sie vielleicht Feuer?
Es ist kein Mensch da.
Die Nachtluft weht den Geruch der Brauerei
vom Berger-Platz bis hier herauf.


In ihren Augen brennen Lichter

Diese Muslima,
von der er nur
die schwarzen Augen
sehen kann,
die zwei Stockwerke
tiefer wohnt …

… er hält ihr
die Haustür auf,
während sie in
ein Handy spricht.

Und dann blinken ihn
zwei rabenschwarze Augen an
(in ihren Augen brennen Lichter);
sie steckt das Handy
in die Tasche ihrer Burka,
sagt ein paar Worte zu ihm,
Worte, die er nicht verstehen kann.

Womöglich sagt sie:
Ich bin vernarrt in dich,
du kleiner Schlingel.
Ich liebe deine sonderbaren
himmelblauen Augen –
und überhaupt …


Sonntagsengel und Apostelbräu-Bier

Stell dir das mal vor:
Einen Abend, eine Nacht lang unter Leuten,
die es eigentlich nicht gibt.
Schön wäre es.
Bier trinken eine Nacht lang –
der Tag danach hat mich
wieder halbwegs aufgerichtet.
Und mein Kartoffelgulasch.

Da muss ich mir dann
Sachen über Kunst anhören
und stehe hilflos unter Leuten,
die es gar nicht gibt.
Die meisten davon jung wie Mottenwürmer.
Dämlich wie der Staub,
ohne dass sie in der Lage wären,
auch nur irgendwas zu konservieren.
Ich habe mir vorgenommen,
brav zu bleiben eine Nacht lang.
Und das hat dann auch geklappt.

Der Taxifahrer, der mich nach Hause bringt,
und die zwei Frauen in der Bäckerei am Sonntagmorgen,
die über Suppenwürfel sprechen,
erinnern mich daran,
dass ich noch am Leben bin.

Meine Sonntagsengel:
Ein Taxifahrer und zwei Vorstadtweiber,
die pelzig und zu dick geraten sind.
Was soll man dazu sagen?
Nichts kannst du sagen.
Und gäbe es nicht dieses Apostelbräu-Bier,
das ich seit heute Morgen schlürfe
… ich weiß auch nicht …
dieser ganze Sonntag wäre sinnlos,
sinnlos wie ein Hamsterrad,
trostlos wie dein Tod.


Finale

Ich bin am Finale dran, das letzte Viertel.
Das Finale ist der Grund, weswegen ich schreibe.
Das ist die Freude am Schreiben
(der Rest ist nur lästig).
Wenn du aber am Finale dran bist,
hast du alle Hebel in der Hand.
Vorher bist du verunsichert,
und morgens, wenn du aufwachst,
ist der linke Arm abgefallen
oder vor der Tür liegt ein toter Briefträger
oder Dennis Hopper ist aus dem
riesengroßen Foto hier an der Wand,
aus dem wunderschönen roten Rahmen
gestiegen und sitzt nun einfach am Tisch,
die Lippen an einer halb vollen Bierbüchse von gestern Nacht,
und zündet seine schöne Zigarre an.

Das ist jetzt alles egal.
Völlig wurscht –
in einer Nacht,
wenn jemand
am Finale
dran ist.


https://de.wikipedia.org/wiki/Stephan_Alfare



Stephan Alfare

Stephan Alfare (* 28. Jänner 1966 in Bregenz) unternahm von 1987 bis 1990 Reisen auf dem Balkan, nach Griechenland, Italien, Frankreich und in die Türkei. Anschließend arbeitete er bis 1996 als Sargträger auf dem Ottakringer Friedhof in Wien. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Wien. Im Jahre 2000 nahm er am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Stephan Alfare ist Verfasser von erzählenden Werken und Gedichten, Mitglied der Grazer Autorenversammlung und des Vorarlberger Autorenverbandes. Alfare erhielt u. a. 1999 das Staatsstipendium für Literatur in Österreich sowie 2002 den Theodor-Körner-Förderpreis.

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