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Helmuth Schönauer
Die Egerländer-Musik - Historisch süffig!
Stichpunkt

Die Diskussion um die Musik der sogenannten Egerländer kann man vermutlich nicht führen, ohne einen historischen Hintergrund einzublenden. Wie bei jeder Rezeption von Kunst geht es auch in der Musik darum, wie diese in den jeweiligen Gegenwarten rezipiert werden soll. Das Kunstwerk als solches bleibt von der Diskussion unberührt, es weiß, dass es mit jeder Aufführung neu materialisiert und gedeutet werden muss.

Nach der Musik der Egerländer würde heute kein Hahn mehr krähen, wenn nicht im Kalten Krieg die Egerländer ein Statement bedeutet hätten. Lange Zeit war diese Musik die letzte Ausdrucksmöglichkeit, welche den sogenannten Vertriebenen nach „der Sache mit Heydrich“ und der Retourkutsche der Beneš-Dekrete geblieben war.

Was für ein großes Schicksal, das da in den 1950ern zwischen erträumten Hochzeiten und fröhlichen Feierabenden als Dauerpolka aufgeführt wurde!

Musikzyniker sagen, wenn die Beneš-Dekrete nicht diese Musik aus dem Land vertrieben hätten, wäre sie ein paar Jahre später ein Opfer von Karel Gott geworden, der von Prag aus alles aus dem Land gesungen hat, was nicht gegen Schmalz und Melancholie geimpft war.

Mittlerweile sind die Vertriebenen sesshaft und sanft geworden, ihre Schmacht-Musik dient quasi als Bierdeckel, auf dem man an ausgelassenen Abenden sein Glas der Sehnsucht abstellt.

Daher kann man diese Musik nüchtern nicht hören, denn sie ist längst zu einer Gebrauchsmusik oder Funktionsmusik geworden, die etwas zum Klingen bringt, was jeder einmal in seiner Kindheit von einem besoffenen Onkel hat spielen hören.

Persönlicher Exkurs zu den Egerländern:
In den 1950er Jahren arbeiteten drei Onkel von mir wie in einem Film während der Woche im Wald als Holzfäller. Sie hatten eine Pulle Schnaps als Medikament für Arbeitsunfälle bei sich. Wenn sie die Woche unverletzt überstanden, durften sie die Bottle am Freitag ex austrinken und aus dem Wald ins Dorf zurückkehren.

Dort gab es Rasur mit Katzenwäsche und abermals einen Befreiungsschluck von der Arbeit. Anschließend ging es zur Musikprobe, wo man in der Hauptsache stumme Egerländer spielte, weil niemand dazu singen konnte. Die Egerländer waren reine Gebrauchsmusik, die sich gut während des Saufens absolvieren ließ.

„Wir haben diese Musik eigentlich nie nüchtern gespielt“, sagten später die inzwischen von Leberleiden heimgesuchten Funktionsmusiker. „Bei Hochzeiten haben wir die Polkas schnell gespielt, bei Begräbnissen langsam, mehr hatten wir nicht zu bieten.“

Zurück zum historischen Aspekt von Musikkritik: Eine ähnliche Enthistorisierung und Versüffisierung wie die Egerländer hat der Radetzkymarsch hinter sich. Es ist für jeden Österreicher ein Genuss, beim Neujahrskonzert Italienern beim Klatschen zuzuschauen, immerhin hat Radetzky 1848 Tausende von ihnen unter herzhafter Marschmusik massakriert. Durch diese Schadenfreude lässt sich auch easy wegklatschen, dass Radetzky das Vormärz-Lüfterl niedergeschlagen und beendet hat.

Ein ähnlich spektakuläres Hinrichtungs-Musikerlebnis liefert der Vietnamkrieg ab. Während der Tet-Offensive 1968 wird in Saigon ein Rundfunkgebäude vom Vietcong besetzt, aber ein Techniker sperrt sich im Senderaum ein und spielt statt der vorbereiteten revolutionären Kampf-Bänder unbeirrt Wiener Walzer und Beatles (Tomorrow never knows), was den Umschwung für die Entlastungsoffensive der Amis bringt.

Manche Amis sagen heute, sie haben zwar den Krieg verloren, aber das Genre Protest-Song gewonnen. Allein die Figur des „Weatherman“ aus einem Song von Bob Dylan ist mindestens so revolutionär wie Lenin.

Die Musik des Nobelpreisträgers für Literatur funktioniert auch heute noch tadellos, weil der Text offen genug ist, sodass historische Begebenheiten über Generationen hinweg andocken können, und die Musik ist elegisch dem Herzschlag angepasst, was niedrigen Ruhepuls bei höchster Emotionalisierung bewirkt, eine Gesund-Musik gewissermaßen.

In einem kühnen Vergleich lässt sich sagen, dass Egerländer und Bob Dylan „Protestmusik“ machen. Aber die Wirkung ist natürlich unvergleichlich. Während die einen rückwärtsgewandt („revisionistisch“) einen Schmerz mit Bildern aus der Vergangenheit formulieren, spricht der andere sein Publikum mit aktuellen Formulierungen von Nachrichtensendungen an.

Egerländer:
„Wir denken oft und gerne an den Böhmischen Wind.
Uns war sein Lied vertraut daheim schon als Kind.
Weit in der Ferne rauscht nun leis‘ der Böhmische Wind.
Er wird noch wehen, wenn wir längst nicht mehr sind.“

Bob Dylan:
„You don’t need a weather man;
To know which way the wind blows. „

Der Textvergleich macht den Unterschied im Protest-Kaliber sichtbar.

Dieser Aspekt des historisierenden Rezensierens spielt auch bei der Rezeption literarischer Werke eine entscheidende Rolle. Während Dostojewskis „Schuld und Sühne“ (heute „Verbrechen und Strafe“) etwa zu allen Regimen etwas zu sagen hat, ist Josefs Haslinges Roman „Opernball“ (1995) nur mehr mit verbundenen Augen zu lesen, so sehr sind Sozialismus, Kreiskysmus und atemlose österreichische Pseudoerregung mittlerweile in der Versenkung verschwunden.

Die gerne zitierte Enkelfloskel „Großvater, was hast du damals gelesen oder gespielt?“ erweist sich zu allen Zeiten als kluge Fangfrage, die nicht nur die Vorfahren entlarvt.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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