Helmuth Schönauer bespricht:
Rut Bernardi
"Totgeschwiegene Leben"
Literarische Porträts

Das ist der Traum jeder Sprachforscherin: Wenn das Gebiet klein genug ist, und die Sprache überschaubar groß, kann alles rund um diese Sprache von einer einzigen Person entdeckt, gepflegt und für die Zukunft fit gemacht werden.

Rut Bernardi hat die ladinische Sprache rund ums Grödnertal mit Lexika, Essays, Tondokumenten und Romanen ins Bewusstsein der Zeitgenossen gerückt. In ihrer jüngsten Arbeit lässt sie „totgeschwiegene Leben“ aus diesem Rayon wieder auferstehen und gibt ihnen zum ersten Mal eine Sprache.

Die fünf Porträts handeln dabei von „Muster-Personen“, die als doppelte Außenseiter jeweils eine Epoche präsentieren. Einmal müssen sie sich als Angehörige einer Mini-Sprache in einer feindlichen Großsprache behaupten, zum anderen müssen sie den Zurückgebliebenen ihre Loyalität kundtun, denn es gilt die Parole, dass man die Heimat verrät, wenn man sie (gezwungenermaßen) verlässt.

Gleich zu Beginn erklärt die Herausgeberin ihr Erzählverfahren, das an die Essay-Kunst von Montaigne angelehnt ist. „Wissenschaftliche Kriterien werden in einem Essay nicht strikt eingehalten und die Autorin oder der Autor hat große gestalterische Freiheit, die historischen Lücken fiktional zu füllen.“ (8)

Die Protagonisten decken mit ihren Biographien entscheidende Ereignisse der letzten zweihundert Jahre ab.

Schon die erste Geschichte „Luzifer der Lichtträger“ (9) zeigt die Verknüpfung von historischem Material und erzählter Wirklichkeit auf. Maria Therese Sanoner verlässt Gröden und tritt ins Kloster Säben ein. Der Luzifer ist dabei ein schwarzes Kuscheltier, das dem Kloster zugelaufen ist und jetzt die Insassen beglückt, wenn der Stoff der Frömmigkeit zu stark verschleißt. Das Kloster ist im 18. Jahrhundert die einzige Möglichkeit, Bildung zu erfahren und dabei die als Kind erworbene Überlebenskultur für die Nachwelt zu retten. Schwester „Maria Benedikta“, wie sie nun heißt, studiert die anwesende Flora und Fauna und bringt sie notdürftig mit ihrer ladinischen Sprache in Verbindung. Als ab 1800 dann die französische Aufklärung das mühsam geordnete Regionalwissen bedroht, wird die Heldin zu einer konservativen Wissenshüterin, die in der Defensive die einzige Form des Überlebens der ladinischen Kultur sieht. Bei ihrem Begräbnis stehen sinnigerweise Vertreter des alten Klerus als Offiziere Napoleons Spalier, sie weisen mit ihren Uniformen in die neue aufgeklärte Zeit.

„Nemo propheta in patria“ (53) heißt der Leitspruch des zweiten Helden. Matie Ploner hat zu Hause im Grödnertal keine Perspektive und macht sich, ausgestattet mit Latein, auf den Weg hinaus in die Welt. Er kommt bis Kastelruth und schlägt eine anerkannte Karriere als Organist, Künstler und Archivar ein. Alle diese Fähigkeiten wären auch daheim gefragt gewesen, aber die Ladinischen kochen ihre eigene Suppe meist auf kleiner Flamme, weshalb alle gehen müssen, die zu feurig sind. Dabei hat die Musik den großen Vorzug, dass sie über den Sprachraum hinaustreten kann, weshalb Ploner schon vor 1800 in guter Tradition mit den hervorragenden Musikkünstlern des Grödnertals steht.

„Der Ledermantel“ (91) dient als Metapher für eine spontane Flucht, schnell ist man in ihn hineingeschlüpft und hat alles an Bord. Er funktioniert wie ein Lederbeutel, in dem die Überlebensutensilien verstaut sind. Rosalia Nogler beißt sich mit großer Kinderschar durch das beengte Leben, bis der Erste Weltkrieg alles durcheinander bringt. Der Mann ist nur spontan auf Fronturlaub, um schnell ein Kriegskind zu zeugen und eine Geschlechtskrankheit zu deponieren. Als der Krieg aus ist, lässt Rosalia alles hinter sich und macht sich mit einem österreichischen Offizier auf den Weg, im untergegangenen Monarchie-Fragment Unterschlupf zu finden. Aber noch immer braucht es einen Heimatschein, wenn man in der Fremde sesshaft werden will. So getrennt können die neuen Staaten gar nicht sein, dass sie nicht ihre Untertanen drangsalierten, wenn sie die Moral oder gar den Mann verlassen. Nach zehn Jahren stirbt ihr neuer Mann, und sie bittet eine Bekannte um Unterschlupf in Salzburg, der noch weitere dreißig Jahre dauern soll. In der Fremde wird unter dem Einfluss der Einsamkeit das Grödnerische immer mächtiger, keine Erinnerung, die nicht in einen Satz aus der Kindheit mündet. Rosalia stirbt 1957 mit ihrer sonderbaren Sprache weitab von ihrer Kindheit.

„Opportunismus oder Lebenskunst“ (127) sind zwei Seiten einer Medaille, sagen Pragmatiker. Anna Maria Wanker treibt es während des Faschismus in die Metropole Bozen, wo sie durch kluges Agieren über die Runden kommt, ohne ihre Herkunft zu vergessen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist sie bemüht, als Schuldirektorin die ladinische Kultur wieder in Gang zu bringen, zumindest was das Grundschulwesen betrifft. Aber ihre ehemaligen Talgefährten sind sehr skeptisch, sie misstrauen allem, was nicht im eigenen Ort wohnt. Und vor allem fehlt es an Selbstvertrauen, sie können sich nicht vorstellen, dass im neuen Staat das Ladinische als geschützte Sprache unterrichtet, gepflegt und alltagstauglich gemacht werden könnte.

„Der Kirschbaum blüht im Frühling“ (191) ist die letzte wärmende Erkenntnis, die dem Pepi Demetz bleibt, als er von der berüchtigten Pergine-Anstalt ins deutsche Reich überstellt wird, um die Zahl der Optanten zu erhöhen. In der brutalen Form des Kurztextes klingt sein Schicksal so: „Ein uneheliches Kind wird abgeschoben und entkommt der NS-Euthanasie.“ Einmal in die Fänge der Psychiatrie geraten, kommt damals niemand ungeschoren davon, Pepi hat Glück, dass er in Baden Württemberg am Leben bleibt. Als er später wieder nach Südtirol will, ist niemand mehr zuständig für ihn, sein Überleben war offensichtlich nicht vorgesehen. Erst im neuen Jahrhundert wird ihm wenigstens eine Umbettung gestattet, gekrönt mit der zynischen Aufschrift: „Endlich daheim!“ Eine Erzählerin besucht sein Grab und kann es nicht fassen, was bis in unsere Gegenwart hinein mit Menschen möglich ist, die nicht in eine vorgegebene Tabelle passen.

Rut Bernardi umrahmt die Biographien mit Dokumenten und Materialien, die in bester wissenschaftlicher Manier im Anhang ausgewiesen sind. Diese literarische Methode der Forschung berücksichtigt vor allem das Emotionale, das beim Erwerb und Vertrieb einer Sprache notwendig ist. Und gerade die Außenseiter sind es schließlich, die eine Kultur retten. Dabei sind die fünf „Kulturtechniken“ den fünf Schicksalen zugeordnet: Aussteigen im Kloster, Versinken in der Kunst, Auswandern aus dem System, Durchschlagen durch die Bürokratie, Verlöschen in einer Anstalt.

Alles zusammen ergibt schließlich die Kraft, die notwendig ist, um einen kleinen Sprachhaufen durch die Gezeiten zu bringen.

Rut Bernardi: Totgeschwiegene Leben. Literarische Porträts. [Orig.: Vites scutedes via. Essays letereres, 2020.]
Bozen: Raetia 2021. 236 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-88-7283-767-2.
Rut Bernardi, geb. 1962 in St. Ulrich in Gröden, lebt in Klausen.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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