Helmuth Schönauer
Verweht und verwahrlost
Stichpunkt

1.
Im Idealfall erkennt der Leser im Herbstprogramm, mit wem der Verleger im Frühjahr gesoffen hat.

Hinter dieser Einschätzung steckt die Idee, dass der Verleger den Autor freundschaftlich behandelt, sich mit dem Buchprojekt identifiziert und dem Leser das Vertrauen gibt, dass es das Buch wert ist, gelesen zu werden.

Was hier bewusst ungegendert und als Kette von Einzelverhältnissen dargestellt ist, macht das Wesen eines Verlegers aus. Und alle drei Beteiligten haben das Recht, mit Wertschätzung in einen intellektuellen Werkvertrag zu treten, der den Cluster Autor, Verleger und Leser gleichermaßen bereichert. Dieses Zusammenspiel von Individuen ist eine Grundvoraussetzung für das gesellschaftliche Modell, das wir Demokratie nennen.

Zu diesem Modell gehört auch die Übereinkunft, dass Lesen etwas Notwendiges und Wertvolles ist. Dabei hat sich eine Gewaltenteilung bewährt, wonach Lesepädagoginnen und Bibliothekare für den Grunderwerb der Lesetechnik sorgen, während Verleger und Buchhändler darauf achten, dass die aufgeschriebenen Stoffe und Thesen gesellschaftsrelevant sind und den Richtlinien der Verfassung entsprechen.

2.
Am Beispiel des Innsbrucker Haymon-Verlags lässt sich gut zeigen, wie sich allmählich so manches Verlagshaus von allen ethischen Überlegungen entfernt und in ein Geschäftsmodell „verbrannte Erde“ gestürzt hat.

Der legendäre Michael Forcher hat seinerzeit den Verlag aus Trotz gegründet, weil er beim Projekt „Jungbürgerbuch“ jahrzehntelang links liegen gelassen worden war. In einem rasanten Mix aus Ladenhütern, abgehobenen Visionen, primitiven Krimis und mit dem ORF verbandelten Geheimangestellten hat er zweimal im Jahr ein Programm abgewickelt, mit dem man selten einverstanden war, das aber Überraschung und Zuversicht ausgelöst hat.

„Zwei Cash-Cows müssen genügen, um zwanzig literarische Einhufer zu ernähren“, war sein Motto. Und natürlich hat er sämtliche Subventionen abgegriffen, deren er habhaft werden konnte.

Die Cash-Cows waren der durchgängig mit einem angesäuselten Helden arbeitende Herr Komarek, der sich damit seine karge ORF-Rente für einen Zweitwohnsitz auffettete und nebenher die Bücher beim ORF als grantelnde Weinkeller-Multilogie verfilmen lassen konnte, sowie der unvergessliche Felix, der seine ORF-Projekte zuerst dem Haymon und später dem Brenner-Archiv verscherbelte. Auch bei ihm zieht sich das Trinker-Element durch die Erfolgsgeschichte, denn man geht ja nur dann „einen Felix schauen“, wenn es nach dem Stück was zu trinken gibt.

Als der Verlagsgründer sich zurückzog, hinterließ er zwei Cash-Cows, einen Haufen animierter Autoren und ein Publikum, das diesen Wechsel von Trinken, Lesen und Freizeit-Experiment durchaus goutierte.

3.
Nach der Jahrhundertwende verändert sich das Verlagssystem radikal überall am Kontinent. Digitalisierung und Rechtschreibreform bringen das bisherige Modell der Leseförderung elementar aus dem Tritt. Plötzlich ist als Wortbild alles erlaubt, was die Tastatur hergibt, und auch das Format verkleinert sich auf Displaygröße. „Alles was nicht in einem Tweet Platz hat, ist kein Gedanke“, heißt nun die Parole.

Der Haymon-Verlag begegnet diesem Wandel mit dem interessanten Imprint Skarabäus. Das Layout dieser Serie ist bewusst aufgebrochen, unfertig und zerfranst gestaltet. Allein die offenen rechten Textflanken der Seiten erinnern daran, dass es nicht abgeschlossen und glatt sein soll, was da erzählt wird. Statt eines üblichen Bild-Covers wird der erste Satz genommen, der mitten in das Buch hineinführt. Botschaft: Der Übergang der gelebten zur gelesenen Welt ist fließend.

Bei den Autoren handelt es sich meist um Erstpublizierende, als Tirol-Schwerpunkt sind freilich auch Mehrfachauftritte erlaubt. Erstaunlich viele dieser Autoren schaffen später den Anschluss an den Literaturbetrieb. Für den Leser ist die Serie ein garantiert frischer Salat, der ihm da geboten wird. Und bereits in einer Kurz-Rückschau von fünf Jahren hat man das Gefühl, ein Stück Literaturgeschichte erkennen zu dürfen.

Mit der Aufgabe von Skarabäus endet die ernsthafte Seite des Haymon-Verlags. Was jetzt folgt, ist „verbrannte Erde“. Alle bisherigen Netzwerke zwischen Schulen, Bibliotheken und Lesezirkeln werden aufgegeben und einem „Osttiroler Geschäftsmodell“ geopfert, das davon ausgeht, dass man den Passanten dann melken muss, wenn er einmalig das Land durchstreift. Denn es wird keine zweite Begegnung geben.

Für die Autoren bedeutet dieser Schritt, dass ihnen die Freundschaft gekündigt wird. Es gibt kaum noch einen Tiroler Schriftsteller, der nicht kopfschüttelnd das Weite suchen muss.

Die Leser werden jetzt mit einem halb-debilen Algorithmus zuerst umschmeichelt und dann outgesourced. Dieses Modell basiert ähnlich wie bei Google auf dem Effekt „das könnte Sie auch interessieren“. Die gekauften Bücher aus der inzwischen erworbenen Wagner´schen und der Buchhandlung Haymon werden allabendlich zusammengefasst und nach Themen geordnet. Aus den tagsüber gekauften Wünschen der Gegenwart werden am Abend die Bücher von Morgen geklont. Selbstverständlich muss man dafür zuerst neue Autoren suchen und anderntags neue Leser.

4.
Für die Verwirklichung des algorithmischen Lesers wurde in den Zehner-Jahren das Krimi-Imperium aufgezogen. In einem haptisch anspruchsvollen Taschenbuchformat mit abgerundeten Kanten, damit sich die infantilen Leser nicht in die Augen stechen, wurde Massenware zum Saufüttern produziert.

Jede Ortschaft bekam ihren Krimi, jeder Körperteil seine Verstümmelung, jede Berufsgruppe einen persönlichen Kommissar. Wie beim Jerry-Cotton-Projekt der 1960er Jahre mussten sich die Haymon-Autoren jetzt an die abgerundeten Vorgaben halten, herauskommen sollte ein Brei möglichst kurzer Sätze, der ohne Aufwand digital am Handy hinuntergeschluckt werden konnte.

Als Protagonist dieses Schwachsinns möge Bernhard Aichner herhalten, der mit seiner Osttiroler Todes-Trilogie „Frau, Haus, Rausch“ neue Maßstäbe eines angesenkten Krimi-Niveaus geprägt hat.

Die Leser sind im ersten Jahr durchaus guter Dinge, zumal sie jetzt die Massenware in der Schütte kaufen können und nicht mehr umständlich zu einem Regal latschen müssen. Außerdem kommen die Bücher jetzt in jedes Dorf, wenn man sogenannte Krimi-Abende aufzieht und Krimifestivals installiert.

Gleichzeitig versetzt man dem guten Verhältnis zwischen Bibliotheken, Lesern und Literaturvermittlern den Todesstoß, indem man die Krimis in das bestehende Leseförderprogramm der Bibliotheken implementiert mit dem Ergebnis, dass nach kurzer Zeit das Label Krimi alle bisherigen Literaturkanäle abdichtet und zum Schweigen bringt.

Der „Verlag der Verbrannten Erde“ handelt nach dem Motto: Danke, dass ihr den Lesern das Lesen beigebracht habt, jetzt sind wir dran, wir wollen nämlich Trottel daraus machen, damit unser Geschäft funktioniert!

5.
In einem Einschub muss hier wieder einmal der Drei-Schritt erklärt werden, der dem Lesen zugrunde liegt.

Im ersten Schritt geht es darum, Buchstaben zu erkennen und zu Wörtern und Sätzen zu verbinden. Dieser Schritt wurde früher einmal analog mit der Füllfeder gestaltet, weshalb ältere Jahrgänge, die unter ärztlicher Aufsicht mit Füllfeder schreiben, um die Feinmotorik in Hand und Hirn zu erhalten, heute noch in der alten Rechtschreibung unterwegs sind. Lesen und Schreiben sind hier ein Vorgang.

Im zweiten Schritt soll es gelingen, etwa Absatz-große Sinneinheiten zu erfassen oder zu formulieren. Dieser Schritt ist mittlerweile völlig ins Digitale übersiedelt. Der User soll sich aus einem display-großen Texthaufen etwas herauslesen, was gerade seiner Stimmung entspricht, Fakten werden ohnehin nicht mehr beschrieben, sondern als Bild hinterlegt.

Im dritten Schritt bedeutet Lesen den Umgang mit einem Medium. Es braucht allerhand Kompetenz, um ein Buch, Netflix oder Y-Tube zu „lesen“. Das pure Lesen stellt dabei die höchsten Anforderungen, weil ja alles in die eigene Verpixelung im Hirn transformiert werden muss. In den 1970ern gab es dazu die gefürchteten Diskussionen um verfilmte Literatur. Darin wurde viel Richtiges gesagt, aber halt immer mit Moral.

Heutzutage führt man die Diskussion um das Lesen völlig Moral-los, was zwischendurch zu irrwitzigen Geschäftsmodellen führt.

6.
Unter dem Titel „Haymon reloaded“ stellt der gegenwärtige Verlag einen Text auf die Homepage, der unlesbar ist. Völlig ungegliedert und strukturlos, dafür mit einer Million Gender-Sternchen ausgestattet, setzt sich dieser Text völlig über die Grundfakten des Lesens hinweg, nämlich dass das lesende Ich das Sternchen-Lesen lernen muss wie in der Grundstufe das Lesen von Wörtern.

Der Verlag mutet mir also zu, noch einmal in die Grundschule zu gehen und das Erfassen von Wörtern zu lernen. (Man stelle sich bei einem älteren Jahrgang vor, er müsse jetzt die Wörter mit Füllfeder in Sternchen schreiben. Und auch die Sternchen-Taste am Tablet muss erst gefunden und geübt werden.)

Wenn ich die Volksschule noch einmal im Schnellgang besucht habe, darf ich im Text fortfahren, und dann wird mir mitgeteilt, dass ich nicht mehr zum angesprochenen Kreis der Leser gehöre. In Zukunft nämlich wird nur mehr das publiziert, was bei den vorhergehenden Käufen als Wunsch suggeriert worden ist. Denn der Leser soll im Mittelpunkt stehen, sonst niemand.

Außerdem wird auf den Büchern die Warnung enthalten sein, dass traumatisierende Erlebnisse in seinem Inneren vorkommen könnten.
Und drittens wird gegendert, was das Zeug hält. Man wird das Buch eines männlichen Autors nur kaufen können, wenn man auch ein weibliches Buch kauft. Und nach zehn Büchern ist ein Queer-Format fällig, man sucht schon passende Autoren-Queers.

Kurzum, dieser Verlag ist verweht und verwahrlost. Nichts erinnert mehr an seinen Gründervater, außer dass die Subventionsadressen noch immer angeschrieben werden.

Der Haymon im jetzigen Zustand will keinen Leser, und schon gar nicht einen Autor als Freund.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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