Reinhard Kocznar
„Raw-Dogging“
oder:
Langstreckenflüge ohne Unterhaltung und Essen
Essay

Raw-dogging: Eigentlich ist der Ausdruck in einem anderen Kontext bekannt und beschreibt Sex ohne Kondom. Nun machen sich ihn junge Männer zunutze, die im Flugzeug an ihrer Willensstärke arbeiten wollen. Wie lange kann ich mich der völligen Langeweile aussetzen, ohne durchzudrehen? (WELT)

Immerhin hat das Phänomen bereits einen Namen, und die üblichen Verdächtigen, die sattsam bekannten Experten, warnen. Das wäre an sich nichts Neues, würde es in der Tagespresse breitgetreten. Die hat sich mit unerbetenen Belehrungen ja die Leserschaft größtenteils weggeschrieben. Der betreffende Artikel erschien aber in einer Fliegerzeitschrift. Der Bereich Special Interest war bislang frei von Pädagogik, dort wird nicht einmal gegendert.

Einen siebenstündigen Flug ohne Telefon(!), Schlaf, Wasser und Essen zu absolvieren, das macht Fachleute fassungslos. Viele Stunden fliegen, ohne das Unterhaltungssystem zu nutzen, Filme oder Musik am Mobiltelefon zu genießen oder ein Buch zu lesen!

Der Neurowissenschaftler Mark Williams kritisiert es heftig, der Journalist des Magazins bestätigt seine Kritik und bezeichnet die Befürworter von Raw-Dogging als Idioten. Andere Fachleute warnen vor Thrombosen oder Dehydrierung durch ungenügende Flüssigkeitszufuhr. Das sei gegen ärztlichen Rat, ergänzt die Hausärztin und zugleich ärztliche Begleiterin von Flügen.

So stellen sich Journalist:innen oder Expert:innen die betreute Gesellschaft vor. Man ist in einem Flugzeug nie ungestört, erinnert der Neurologe, weinende Babys, klirrende Gläser, die Triebwerke…Geräusche müssen also durch andere (Musik am Handy etc.) überlagert werden, auch wenn sie noch so beiläufig sind.

Für derartige Ratschläge muss man sich zum Facharzt ausbilden lassen? Was würde da ein Blogger am Land angehörs des nachbarlichen Rasenmähers sagen?

Ungestört im Flugzeug, das in jeder neuen Generation noch enger gepackte Sitzreihen aufweist? Köstlich. Die hier kritisierten Raw-Dogger blenden das einfach aus, effizient: bei Energieaufwand null, aber unbetreut und autonom. Das stört die Konformisten. Da könnte ja jeder kommen!

Schön zu sehen, dass man nicht allein ist, wenn man zu denen gehört, die ihre Entscheidungen grundsätzlich selbst treffen und Ratschläge als das empfinden, was sie sind – Belästigungen. Was mir nicht passt, blende ich ebenfalls aus, besonders, wenn ich es nicht ändern kann. So war es schon vor vielen Jahren neben dem Bauernhof, wo vor dem Balkon der Traktor ratterte. So ist es jetzt, wenn ein Rasenmäher läuft, lautstark Kinder in der Nähe spielen, jemand in der Gegend Holz sägt.

Wenn ich nichts tun will oder zu tun habe, lege ich mich auf den Rücken und lasse die Gedanken fließen. Das ist autonom und angenehm. Ich kann etwas durchdenken, auch eine Symphonie oder ein Klavierkonzert innerlich spielen lassen, viele Partituren kenne ich über lange Strecken.

Besonders hilfreich war das in den langen Nächten auf der Intensivstation, wenn gegen 22:00 Uhr jeder Betrieb erstarb und bis in die frühen Morgenstunden nur mehr Apparate liefen. Von denen wusste ich, dass sie Leute am Leben erhielten (wie die Turbinen im Flugzeug). Ein Schlafmittel zu verlangen, das ich sofort bekommen hätte, ist mir nie in den Sinn gekommen. Das hätte ich als Kapitulation betrachtet.

Ohne Filme oder Musik am Mobiltelefon zu genießen! – staunt der Journalist. Für Filme habe ich den großen Bildschirm, für Musik die HiFi-Anlage. Film oder Musik wähle ich bewusst aus, mit definiertem Anfang und Ende, Berieselung finde ich unsympathisch. Für andere, die das auch nicht mögen, gibt es inzwischen schon den Begriff Silent Shopping – Einkaufen ohne Hintergrundgeplätscher. Vermutlich sind das auch Idiot:innen.

Einige Raw-Dogger vermeiden darüber hinaus auch auf Flügen zu essen und zu trinken, wundert der Experte sich : das gelte als Zeichen für mentale Stärke. Das ist es auch.

Allerdings, vermeiden ist schon ein zu starkes Wort. Ich fliege selten, nur wenn es unumgänglich ist. Auf einem Flug von Wien nach Innsbruck Essen zu bekommen, habe ich seinerzeit schon als eigenartig eingestuft, eher als zwanghaft.

Im Film Lawrence von Arabien erlaubt der Führer, gegeben von Omar Sharif, dem Lawrence, nach langem Ritt in der Wüste endlich einen Schluck Wasser zu nehmen, nur einen einzigen. Lawrence lehnt das ab, weil der andere auch nicht trinkt. Im Buch, der originalen Beschreibung von T.E. Lawrence, ist die Szene ausführlicher. Sie treffen einen Beduinen in der Wüste und setzen sich, wie es sich gehört, zusammen, um zu palavern. Beim Weiterreiten fragt Lawrence, was der andere hatte, offensichtlich war ihm etwas peinlich gewesen. Sein Führer erklärt es ihm. Der andere hatte Proviant dabei, und es gelte als unmännlich, auf derart kurzen Reisen Proviant mitzunehmen.

In unserer Zeit besuchte ich an einem der heißen Sommertage einen Kunden. Die Assistentin der Geschäftsleitung, 30, fragt: Magst du ein Mineralwasser? Ich lehne dankend ab. Sie sagt, wenn es heiß ist, trinkt sie auch nichts, da schwitzt man nur mehr. Wir blieben beim Espresso, kurz, schwarz und – heiß.

Sieben Stunden nichts essen? Das muss die Hölle sein.

Im September des letzten Jahres fand in Eisenstadt die österreichische Meisterschaft in einer Pistolendisziplin statt. Für den Morgen des Bewerbes hatte ich, wie üblich im Hotel, das Frühstück gecancelt. Ich mag nur Espresso und ein Croissant, das bekam ich nicht, also unterblieb es besser ganz.

Am Vormittag war der erste Durchgang, zu Mittag waren in der an sich stimmungsvollen Fußgängerzone nur wenige Katzentische in der prallen Sonne verfügbar, daher ließ ich das Mittagessen auch entfallen. Am Nachmittag der zweite Durchgang. Da sich die Siegerehrung hinzog und ich die nach und nach eintreffenden Ergebnisse verfolgen wollte, entfiel auch das Abendessen. Seit dem letzten Abend hatte ich an diesem heißen Tag nichts gegessen und getrunken, ich bemerkte an meiner Verfassung nichts. Gegen 20:00 Uhr war endlich die Siegerehrung abgelaufen, eine Gold- und eine Bronzemedaille waren sich für mich ausgegangen.

Meiner Leistungsfähigkeit wie der Konzentration hatte es also nicht im Geringsten geschadet. Da ich nüchtern war und die nächtlich leere Autobahn lockte, checkte ich aus dem Hotel aus und fuhr nach Hause. Gegen 21:00 Uhr eine Scheibe Fleischkäse und ein Cola Light auf der Westautobahn reichten völlig. Gegen 04:00 war ich zu Hause, der leere Magen hatte keine Müdigkeit zugelassen.

Es ist vergnüglich zu lesen, dass das, was man (und wohl auch andere) schon immer getan haben, neuerdings ein Trend wird. Da koppeln sich manche einfach von der Betreuung ab.

Wir bräuchten mehr toxische Männlichkeit, mutmaßte ein Sportjournalist angesichts einiger anregender Fußballspiele in diesem Sommer. Da mag er richtig liegen. Wovon wir weniger brauchen ist toxische Pädagogik.

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Reinhard Kocznar

Reinhard Kocznar ist Versicherungsmakler und lebt in Birgitz. Seit 30 Jahren selbständig, während 25 Jahren zweiter Beruf als Leiter eines Softwareentwicklungsteams und Systemadministrator. Als Schriftsteller hat er bisher 7 Bücher veröffentlicht, Krimis, Thriller, Erzählungen und Essays. Literarisch betreibt er den Online-Buchshop: Hardboiled Krimis. Leidenschaftlicher Fotograf, Sportschütze und Motorradfahrer.

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