Print Friendly, PDF & Email

Elias Schneitter
Hoch der 1. Mai!
Notizen

Wenn man am 1. Mai in Wien ist, dann ist es für einen wie mich naheliegend, den Aufmarsch der Roten Brüder am Rathausplatz mitzuerleben. Also fuhr ich mit dem 43-iger zum Schottentor.

In der Haltestelle Skodagasse stieg eine sehr sehr alte Frau mit Rollator in die BIM. Sie schaffte das nur mit tatkräftiger Unterstützung. Auf ihrem Mantel hatte sie einen SPÖ-Sticker Soziale Politik für Österreich. Sie war neunzig und ich fragte sie, ob sie auch auf dem Weg zum Rathaus sei. Nein, nicht zum Rathaus, antwortete sie, dort ist es mir zu laut. Sie wollte aber den Einzug der Bezirksorganisationen und der städtischen Berufsgruppen wie Feuerwehr, Rettung, Wiener Linien, Kindergärtnerinnen und sogar einer roten Motorbike-Gruppe am Ring verfolgen.

Für so eine Großveranstaltung im Freien war es ein ideales Wetter und der Zulauf  auch dementsprechend. Bei den Organisatoren merkte man schon eine gewisse Anspannung, ob es Proteste geben werde. Aber abgesehen von einigen Pfiffen und einigen wenigen kritischen Plakaten war die Stimmung ruhig und friedlich.

Natürlich warteten alle auf die Reden, vor allem jener von Rendi-Wagner. Auffallend war, dass bei allen Ansprachen das interne politische Kramuri weitestgehend vermieden wurde. Wenig überraschend zeigte sich Bürgermeister Ludwig vollkommen loyal zu Rendi-Wagner. Eine heftige Breitseite gegen die Regierung gab es vom Obergewerkschafter Wolfgang Katzian.

Mit seiner Sprache, dem Dialekt angelehnt, traf er den Nerv der Zuhörer, er skandierte: Wann der Finanzminister glaubt, er kann uns a neiches Sparpaket umhängen, dann soll er si glei über die Häuser haun und sie die Marie bei die Reichen und Energiegewinnler holen, oder wenn er ins Publikum rief: In da Pandemie, wo war da der große Markt, der ollas regeln soll, beim Staat sans gstonden wia die Bettler und hobn die Milliarden abkholt. Waun irgendwas Österreich relativ guat durch die Pandemie brocht hot, donn war des der Sozialstaat und scho gor ned der vielgepriesene Morkt…

Wolfgang Katzian ist ein begnadeter Redner und Andreas Niedermann, der mit mir die Rede verfolgte, meinte lachend: Das ist ein Profi. Der vesteht sein Geschäft.

Nach so einer Rede ist es natürlich nicht leicht, ans Podium zu treten. Rendi-Wagner hat sicher nicht den Biss eines Katzians, aber was mir persönlich sehr angenehm auffiel, sie verzichtete auf jede ekelhafte Kampf-Rhetorik, sondern gab die kritische Oppositionelle. Am größten war der Applaus, als sie meinte: Mit mir an der Spitze wird es keine Koalition mit der Kickl-FPÖ geben.

Nach bald zwei Stunden hatte ich genug und machte mich auf den Heimweg. Was die momentane Zersplitterung der Partei betrifft, gehöre ich zu jenen, die überzeugt sind, dass alle drei Proponenten momentan keine Wahl gewinnen können.

Interessant wäre es höchstens, wenn die drei Alpha-Tiere gemeinsame Sache machen würden. Aber das ist ja anscheinend nicht möglich. Das ist einerseits traurig und andererseits sicher nicht im sozialdemokratischen Geist.

Auf dem Weg zur BIM traf ich wieder die alte Dame auf einer Parkbank sitzend. Sie erkannte mich und winkte mir zu.

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

Schreibe einen Kommentar