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Elias Schneitter
Die Saisonkarte
Erinnerung

Das öffentliche Schwimmbad in unserer Gemeinde liegt keine fünf Gehminuten von unserem Haus entfernt. Diese Nähe der Badeanstalt schätzte meine Mutter sehr, weil sie sich deshalb im Bademantel und mit Badetasche auf den Weg dorthin machen konnte.

Meine Mutter gehörte zu den Stammgästen in der Badeanstalt. Täglich um neun am Morgen – sofern es das Wetter erlaubte – marschierte sie los, duschte sich zuerst ausgiebig, um dann genau eine halbe Stunde im Wasser zu verbringen, wo sie gemächlich ihre Längen abspulte.

Nachher unterhielt sie sich mit den anderen Stammgästen und dem Personal und kehrte frisch und munter gegen halb elf nach Hause zurück. Auch an Tagen, wo das Wetter nicht besonders war, ließ sie sich nicht abhalten, die Badeanstalt aufzusuchen. Sie gehörte der Kriegsgeneration an und war daher einiges gewöhnt.

Machte sie ihre Längen, dann konnte es schon vorkommen, dass ihr der Bademeister wegen der ungemütlichen Wassertemperaturen verschmitzt  zurief: Tua ma nit dersaufn, weil i kann die nit retten.

Selbst wenn es so kalt war, dass an Schwimmen nicht zu denken war, ging meine Mutter ins Schwimmbad, weil sie sich dort zumindest duschen konnte, denn schließlich hatte sie sich eine Senioren Saisonkarte gekauft und die sollte entsprechend genutzt werden. Außerdem konnte sie dadurch zuhause Warmwasser sparen und die Stromrechnung kleiner halten.

Es kam sogar einige Male vor, dass sie an Tagen zur Badeanstalt kam, wo diese wegen des schlechten Wetters geschlossen war. Das konnte meine Mutter nicht verstehen, denn schließlich hatte sie eine Saisonkarte. Darum passierte es, dass sie nach Hause ging und im Bürgermeisteramt anrief und nachfragte, warum das Schwimmbad nicht geöffnet wäre. Die Angestellten müssten ohnehin bezahlt werden und außerdem wäre Sommer und sie wäre vor verschlossenen Toren gestanden, obwohl sie eine Saisonkarte besäße.

Die Eintrittspreise für die Badeanstalt unserer Heimatgemeinde waren mehr als sozial gestaltet. Es gab Saisonkarten für Kinder, Studenten, Behinderte und natürlich auch für Senioren. Zusätzlich wurden noch eine Morgen- und eine Abendkarte angeboten. Auch für Pensionisten.

Die Morgenkarte erlaubte die Benützung des Bades bis Mittag und kostete € 31,– die Abendkarte hatte ihre Gültigkeit ab 17.00 Uhr und kostete überhaupt nur € 18,–. Der Grund für den Preisunterschied, so vermutete meine Mutter, lag darin, dass am Abend das Wasser nicht mehr die Frische und Qualität des Morgens aufwies.

Jedenfalls gelang ihr und einigen anderen Senioren – vorwiegend Frauen – ein ganz besonderer Deal. Sie kannten beide Kassiererinnen persönlich, luden diese hin und wieder zu einer Tasse Kaffee im Schwimmbadrestaurant ein, natürlich nicht ohne Hintergedanken. So erreichten sie, dass sie als arme Pensionistinnen eine Morgensaisonkarte erhielten, aber diese zum Tarif des Abendabonnements. Einfach gesagt, die beiden Kassiererinnen händigten meiner Mutter und einigen anderen Stammgästen eine Abendkarte aus, kassierten dafür eine Abendsaisonkarte und ließen die Damen trotzdem am Vormittag passieren. Das ging einige Jahre so.

Traditionellerweise wurde das Schwimmbad am ersten Sonntag im Mai aufgesperrt. Also am Muttertag. Einmal hatte ich die glorreiche Idee, ich könnte zum Ehrentag meiner Gebärerin eine Saisonkarte spendieren. Damit ich diese Saisonkarte bereits am Muttertag vorrätig hatte, ging ich ins Bürgermeisteramt und besorgte mir eine Morgensommersaisonkarte für die Badeanstalt. Preis € 31.

Zum Muttertag – an jenem Tag schneite es übrigens bis auf fünfhundert Meter herunter (also auch bis zum Schwimmbeckenrand) – überreichte ich voll Stolz meiner Mutter das Geschenk. Am wichtigsten Tag des Jahres, zumindest was Mütter und Söhne betrifft.

Ihre erste Frage lautete: Wieviel hast du bezahlt?
Meine Antwort: Das ist kein Thema. Das ist ein Geschenk.
Dann klärte meine Mutter mich auf. Da sie von mir in Gelddingen keine hohe Meinung hatte, war sie vollkommen überzeugt, dass ich den vollen Preis bezahlt hätte.
Mutter: Hast du die Karte im Gemeindeamt gekauft?
Ich: Wo sonst? Das Schwimmbad öffnet ja erst am Muttertag. Und bei den heutigen Schneeverhältnissen wäre ein Ankauf im Schwimmbad nicht möglich.

Damit war für Mutter alles klar. Ihr verblödeter Sohn zahlte den Vollpreis, obwohl es eine günstigere Variante gegeben hätte. Dieser Idiot. Damit war natürlich ich gemeint. Sie regelte das auf ihre Weise. Bei ihren Freundinnen konnte sie nur Zustimmung ernten. So weit kommt es noch, dass wir die Gemeinde finanzieren. Die holen sich von uns ohnehin Steuern mehr als genug.
Jedenfalls erhielt sie von einer Kassiererin die Differenz rückerstattet, worauf sie einen Capuccino im Cafe springen ließ. Hier ging es ja nicht ums Geld, sondern ums Prinzip. Davon war sie völlig überzeugt und überzeugte davon auch die milde lächelnde Kassiererin.

Unter den Stammgästen der Badeanstalt gab es auch immer wieder Reibereien und kleinere Streitereien. Einmal ging ich mit meiner Mutter spazieren und eine Frau kam uns entgegen. Da sagte meine Mutter in forschem Ton: Diese Frau wird von uns nicht gegrüßt.
Ich fragte unschuldig: Darf man wissen, warum?
Sie mit steinerner Miene: Das ist die Querschwimmerin von der Badeanstalt.
Ich, erstaunt: Sie ist was?
Die Querschwimmerin.
Sie weihte mich in die Geschichte ein. Mit dieser Frau war sie sich in die Haare geraten, weil sie fast jedes Mal, wenn meine Mutter ihre Längen schwamm, ebenfalls ihre Runden drehte, aber quer. Nicht der Länge nach, sondern der Breite nach.
Sie kann nicht, wie jeder normale Mensch, in eine Richtung schwimmen, nein, sie muss quer gegen uns schwimmen.
Unglaublich, sagte ich.
Ich hab es sie schon einige Male wissen lassen, im und außerhalb des Beckens. Außerdem ist sie überhaupt eine Querulantin. Kein Mensch mag sie.

Zu jener Zeit gehörte ich auch noch dem Gemeinderat unseres Dorfes an. Einmal hatten wir unter Vertrauliches ein für mich schwieriges Problem zu behandeln. Da ich im Vorfeld aus Zeitgründen nicht an der Vorbesprechung im Parteiclub teilnehmen konnte, war ich über die zu behandelnden Punkte nicht entsprechend informiert. Wäre ich informiert gewesen, dann hätte ich es vorgezogen, mich für die Sitzung zu entschuldigen. Bei dem Tagesordnungspunkt ging es um die Badeanstalt.

Der Bürgermeister führte aus, dass es im Schwimmbad beim Verkauf der Saisonkarten Unregelmäßigkeiten gäbe. Dahingehend wäre bei ihm vorgesprochen worden. Es wären Morgenkarten für den Preis von Abendkarten verkauft worden. Die Kassierinnen hätten das nach langem Hin und Her auch eingestanden.
Im Gemeinderat ging es nun darum, wie man diese Angelegenheit regeln sollte.

Der Bürgermeister sagte etwas von disziplinären Maßnahmen für die beiden Kassierinnen. Während er seine Ausführungen machte, schaute er – zumindest kam es mir so vor – fast die ganze Zeit zu mir herüber. Ich hätte mich am liebsten unterm Tisch verkrochen. Zu meiner Ehrenrettung möchte ich sagen, dass ich natürlich gegen disziplinäre Maßnahmen stimmte und der restliche Gemeinderat diese Sache auch so sah, sodass die armen Kassierinnen nicht auch noch unschuldig zum Handkuss gekommen wären, denn gegen eine Horde von Pensionistinnen ist man hilflos, wenn es um Vergünstigungen bei Saisonkarten geht.

Gleich am nächsten Tag redete ich auch mit meiner Mutter und dass ich in den nächsten Jahren die Saisonkarten besorgen würde und zwar die Morgenkarte zum Preis der Morgenkarte, weil ich mir als Gemeindepolitiker so eine Blamage nicht leisten könne. Mutter schien das nicht weiter zu beschäftigen.
Sie sagte bloß: Das geht sicher auf das Konto der Querschwimmerin. Aber warte nur, die wird nicht mehr lange in unserer Badeanstalt in die falsche Richtung schwimmen.
Daraufhin sagte ich nichts mehr.

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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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  1. Rudolf Ostermann

    Köstliche Geschichte

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