Ronald Weinberger
Forschung oben, unten Kunst
Die Stiege in der Mitten
Erinnerung
Ich räume ein: Dem obigen Titel haftet ein Hauch von Plagiat an. Kaum zu übersehen ist die sanfte Anlehnung an die berühmten zwei Schlussverse aus Diner zu Coblenz des 25-jährigen Goethe: Prophete rechts, Prophete links, / das Weltkind in der Mitten.
Aber was soll’s. Der Titel stimmt, auch wenn er bloß Fragmente der drei Einheiten beschreibt. Denn die Stiege ist keineswegs irgendeine Stiege, die Forschung oben viel mehr als das, und die Kunst unten bloß eine Kurzform für das dort Gebotene.
Das oben und unten sind nicht Metaphern, sondern topografisch gemeint. Da die Stiege 58 Stufen und 3 kurze Rampen aufweist, nimmt es nicht wunder, dass hier von einer Differenz von bloß knapp einem Dutzend Höhenmetern die Rede ist. Die Distanz zwischen der Forschung oben und Kunst unten beträgt ziemlich genau 300 Meter – von Eingangstür zu Eingangstor. Und die Stiege liegt dabei erstaunlich exakt in … siehe Titel.
Foto Rechte: Ronald Weinberger
Oben die Forschung
Womit soll ich beginnen? Mit dem Jahr 1967. Da begann ich, im Oktober, mit meinem Universitäts-Studium. Im Zeitraum Montag bis Freitag trat ich, beinahe jedes Mal mit gemischten bis unguten Gefühlen und das über einige Semester hinweg, durch die Eingangstür, oberhalb der heute zu lesen ist: Physikalisches Institut der Universität Wien. Zu der Zeit meines damaligen mühsamen Wissenserwerbs muss wohl noch die Mathematik miterwähnt worden sein, denn auch sie residierte in dem altehrwürdigen Gebäude.
Altehrwürdig? Gewiss, denn es wurde in den letzten Lebensjahren eines Herrn errichtet, dessen heutzutage zweitbestbekannte und damit geflügelt gewordene Äußerung lautete Mir bleibt nichts erspart. Die bestbekannte schenken wir uns zum Teil, denn sobald man liest Es war sehr schön, es … kann dieses Sätzchen ohnehin von Hinz und Kunz ergänzt werden, zumindest dann, falls die Hinze und Kunze schon Dutzende Lenze zählen.
Betritt man also das erwähnte Gebäude – ich tat dies kürzlich, 55 ½ Jahre nach dem Anfang des Wintersemesters 1967 zum ersten Mal wieder – erblickt man, nach dem Erklimmen einer Handvoll Stufen, im Vestibül (naja, Foyer passt besser) sogleich links eine unübersehbare Marmortafel, auf der in erhabenen Bronzelettern auf 8 Zeilen und in Großbuchstaben Folgendes zu lesen ist:
ERBAVT VNTER DER REGIERVNG SEINER KAISERLICHEN VND KÖNIGLICHEN APOSTOLISCHEN MAJESTÄT DES KAISERS FRANZ JOSEF I. IN DEN JAHREN 1910 – 1912
Begibt man sich ein Stockwerk höher, fällt der Blick auf eine mächtige auf einem Marmorsockel befindliche Bronzebüste des eben Genannten, der hier als FRANCISCVS JOSEPHVS I. die Zeiten überdauert hat.
Ich beschreibe all das nicht ohne Grund: Sie sollten erahnen können, dass man von einer gewissen Ehrfurcht ergriffen werden kann, falls man – und das nach mehr als einem halben Jahrhundert! – in diesen ehrwürdigen Hallen bzw. Stiegenaufgängen wandelt und noch dazu feststellt, dass sich kaum etwas Namhaftes am optischen Eindruck geändert hat.
Selbst der von noch weiter oben gut zugängliche große Hörsaal – ich nutzte die Gelegenheit, etliche Minuten lang einer eben stattfindenden Vorlesung beizuwohnen – schien sich erfolgreich gegen eine Erneuerung des Sitz- und sonstigen Mobilars in den letzten fünfeinhalb Jahrzehnten gewehrt zu haben – und so hatte ich kaum Mühe, mich gedanklich in meine Vergangenheit versetzend, mich gleichsam dort wieder sitzen zu sehen und das damals mir häufig zähflüssig vorkommende Mitdenken und Mitschreiben ein wenig nachzuempfinden.
Bemerkenswerterweise kam mir dabei eine spezielle Episode aus dem vermutlich 1. Semester in den Sinn, als in dem mit mehreren hundert, in großer Mehrheit männlichen Studenten prall gefüllten Hörsaal während der Vorlesung Lineare Algebra eines geachteten und gefürchteten ergrauten Mathematikprofessors ein Student seine Hand hob, vom Professor durch Nicken zum Sprechen aufgefordert wurde, und bat: Bitte Herr Professor, darf ich kurz austreten?
Das hätten Sie sich vorher überlegen müssen! beschied der Professor abschlägig mit donnernder Stimme, und damit schien die Sache für den Vortragenden und uns (ob auch für den urinierwilligen Studenten, bleibt freilich dahingestellt) erledigt. Soweit ich mich entsinnen kann, hat allerdings der Professor letzteren nach wenigen Minuten mit den Worten Gehen Sie! kurzfristig doch entlassen.
Ich beschließe diese privaten Einlassungen mit dem Hinweis, dass sich bereits ein Jahr später der Vorfall wohl gänzlich anders entwickelt hätte. Stichwort: Das Jahr 1968, als eine sich ständig mehrende Anzahl von Studenten, sogar an der Physik und Mathematik, an den bisherigen Anstands-Gepflogenheiten Anstoß zu nehmen begann und unter dem Motto Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren diverse einschlägige Aktivitäten, aber auch andere Störungen auszuüben begann. Das ist aber hier nicht weiters von Belang.
Festgehalten sei: Das von mir mehrfach erwähnte, weitläufige Gebäude war und ist ein Ort, ja ein Hort der Forschung und Ausbildung. Und ich, nach gut einer Stunde des In-Erinnerungen-Badens blickte auf meine Uhr und stellte fest, es sei an der Zeit, mich dorthin zu begeben, wo mein eigentliches Ziel bei diesem Wienbesuch war, nämlich die paar Hundert Meter zu einem topografisch etwas weiter unten gelegenen Palais zu eilen, dessen pure Existenz mir offenbar vorher nie so richtig bewusst geworden war.
Also rasch auf zum Gartenpalais Liechtenstein, um eine alsbald endende Ausstellung namens Gegossen für die Ewigkeit. Die Bronzen der Fürsten von Liechtenstein zu besuchen und hoffentlich zu genießen.
Dazu musste ich die auf halbem Wege liegende gewisse Stiege hinunterflitzen, hielt indes dennoch kurz vor der dort in etwa Stiegenmitte angebrachten Tafel inne, auf der ein Gedicht geschrieben steht, dessen zwei Schlussverse ich laut vorlas, um sie mir besser zu merken. Dieses Verse-Duo traf mich wegen seiner Eindrücklichkeit nämlich unvermittelt ins Herz. Wohl deswegen, weil ich eben zuvor von Erinnerungen durchflutet worden war. Und dazu kam noch das Aufblitzen einer ganz anders gelagerten emotionsgeladenen Rückschau.
Ich beschloss also unmittelbar nach der Ausstellung zurückzukommen und mich der Stiege und meinem mit ihr verbundenen Gefühlswirrwarr hinzugeben.
Unten die Kunst
Ein Palais begnügt sich in aller Regel nicht mit einer Eingangs-Tür. Dieser prächtige Barockbau schon gar nicht. Aber ich will ganz und gar nicht über derlei Profanes berichten, sondern gleich mit dem Tor ins Haus fallen, nämlich mit einer knappen Würdigung der Ausstellung, die – kurz habe ich es bereits anklingen lassen – leider nicht mehr zu bewundern ist, da sie am 31.03.2023 endete.
Die in der Ausstellung gezeigten 200 Werke, darunter zahlreiche Leihgaben – und nun zitiere ich einen Satz aus dem Ausstellungskatalog … zeichnen ein umfassendes Bild der Bronzeproduktion vom 13. bis zum späten 19. Jahrhundert und beleuchten einen wichtigen Aspekt der fürstlich liechtensteinischen Sammlungsgeschichte.
Ich, dessen Kenntnisse über Plastiken allgemein bescheiden und solche über derlei kostbare Bronzeplastiken kaum vorhanden gewesen waren, war, wie man zu sagen pflegt, hin und weg ob der Pracht, des schier unfasslichen Detailreichtums von zahlreichen der gezeigten Bronzen und der damit aufgezeigten hohen Meisterschaft der Künstler.
Wie interessant war es zudem zu lesen und in Videos zu sehen, wie durch Beigabe unterschiedlichster Materialien den Bronzen Härte, Farbe und Glanz – darunter auch Goldglanz – verliehen werden kann! Auch verfolgte ich aufmerksam einen Film über das Wachsausschmelzverfahren für Bronze-Gussteile. Gebannt verfolgte ich zudem die diversen geschichtlichen Anmerkungen, etwa anhand eines Nachgusses der Reiterstatue Mark Aurels, deren Original als einzige die unruhigen knapp zwei Jahrtausende beinahe unbeschädigt zu überdauern vermochte.
Die Ausstellung nahm eine Reihe von Räumlichkeiten in Anspruch, sodass es uns Besuchern auch ermöglicht wurde, verschiedene Teile dieses bedeutenden Barockgebäudes zu bewundern, insbesondere die prachtvolle Bibliothek mit ihren 100.000 Bänden, an der ich mich kaum sattsehen konnte.
Kurzum, die Stunden vergingen wie im Fluge – und ich wollte mich nun in aller Ruhe der Stiege und meinen mit ihr verschränkten Emotionen und Erinnerungen widmen.
Eine Stiege als Brücke
Bevor Sie nun mutmaßen, ich hätte dort, bei oder auf der Stiege, als Student das eine oder andere Liebesabenteuer erlebt, oder ich wäre auf ihr seinerzeit ausgeglitten bzw. hätte seinerzeit schon ihre Schönheit bewundert … Nichts dergleichen! Soweit ich mich erinnern kann, spielte sie keinerlei Rolle, die über die Kenntnis, dass da gleich weiter vorne – ich näherte mich meiner Ausbildungsstätte nämlich immer von der Gegenrichtung her – irgendeine Stiege sei, hinausgereicht hätte.
Ich näherte mich also der Stiege, machte, wie es sich ziemt, ein paar Fotos, schritt sodann, beinahe jede Stufe auskostend, empor und las das grandiose, da tiefsinnige und damit berührende Gedicht, das dort auf einer steinernen Tafel, in dunkler Schrift, verewigt ist:
Wenn die Blätter auf den Stufen liegen
herbstlich atmet aus den alten Stiegen
was vor Zeiten über sie gegangen.
Mond darin sich zweie dicht umfangen
hielten, leichte Schuh und schwere Tritte,
die bemooste Vase in der Mitte
überdauert Jahre zwischen Kriegen.
Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.
Rechts unten auf der Tafel der Autor: Heimito von Doderer – und oberhalb der Verse die Worte AUF DIE STRUDLHOFSTIEGE ZU WIEN.
Womit sich für Sie bestätigt haben könnte, was Sie womöglich ohnehin bereits erahnten: Die wundervolle, anmutige Strudlhofstiege, eine historische Sehenswürdigkeit in Wien! Die freilich nicht zuletzt oder vor allem wegen ihrer literarischen Verarbeitung in Heimito von Doderers Roman Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre (1951) zu einer Art Preziose evolvierte.
Und eben dieser Roman ist es, der in mir, als ich ihn vor mehr als einem Dutzend Jahren las, einen Gefühlssturm hervorrief, den ich selbst heute noch fallweise ein wenig wiederzuerwecken vermag.
Bisweilen liest man oder man wird gefragt: Welches Buch von allen bisher gelesenen hat Dir am meisten zugesagt? Ich pflege dann daran zu denken oder zu sagen: Es sind deren zwei. Ex äquo Thomas Manns Der Zauberberg und Heimito von Doderers Die Strudlhofstiege, wobei das erstgenannte Werk eher meinen sich an exzellenter Sprache delektierenden Intellekt, indes das letztgenannte mehr parallel dazu ebenso meine Emotionen ansprach. Eine Wucht, dieses Meisterwerk!
Nun sollte ich mich freilich längst wieder auf die Reihe kriegen. Mein Anspruch für diesen Artikel war nämlich, Sie anzulocken, gemäß:
Reisende(r), kommst du – wieder mal – nach Wien, so besuche doch das jederzeit mehr als lohnende Gartenpalais Lichtenstein. Promeniere anschließend die Strudlhofstiege hinauf und lasse dabei das dortige Gedicht sowie das sonstige Ambiente auf dich wirken. Betrachte außerdem diese Stiege als Brücke zwischen der Kunst, die du unten genossen hast und der Forschungsstätte oben, zu der du dich nunmehr begeben sollst.
Schlendere also weiter bis zur Strudlhofgasse 4. Tritt ein. Nimm behände die paar Stufen, lies die Marmortafel, begib dich über die breite Treppe in das nächste Stockwerk, verharre kurz vor der kaiserlichen Büste, wirf vielleicht einen Blick in den Hörsaal – und verschwende doch bitt gar schön kurz einen Gedanken an einen, der sich hier vor einer halben Ewigkeit abmühte, sein Studium namens Astronomie mit dem Nebenfach Physik mit einer gehörigen Portion Mathematik und Physik passabel einzuläuten. Besten Dank dafür!
Ach ja, und ehe ich’s vergesse. Sollten Sie zur Strudlhofstiege noch keinerlei Bezug gehabt haben: Kombinieren Sie doch die echte mit dem Roman!
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ach, wie wunderbar geschraubt wird doch hier die liebe zur strudlhofstiege und jene zur bronze-kunst mit gedanken an die eigene jugend verbunden! ab und zu tut es gut, solches zu lesen, obwohl ich normalerweise eine anhängerin moderner ausdrucksweisen bin, sind sie aus der feder eines autors der gegenwart.