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Alois Schöpf
Wir wollen modern sein!
Verlust der Tradition und des Publikums
durch fragwürdige musiksoziologische Selbstverortung
Essay

Statt in farbenprächtiger Tracht, an der die auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch eifrig wirkende Reichstrachtenbeauftragte Gertrud Pesendorfer aus Innsbruck ihre Freude gehabt hätte, treten sie im schwarzen Anzug auf, der an die domestikenhafte Gewandung der klassischen Symphonieorchester erinnern soll, womit sie sich von der ruralen Musikkapelle am Dorf zum symphonischen, wenn nicht gar philharmonischen Blasorchester der Stadt aufzuwerten versuchen.

Und ja, sie spielen auf Basis eines exzellent arbeitenden Musikschulwerks tatsächlich auf sehr hohem technischen Niveau, alle Register sind bestens besetzt, das Verhältnis zwischen Holzblasinstrumenten und Blech- bzw. Schlaginstrumenten entspricht mit 3:2 den internationalen Vorgaben, die Orchester sind groß, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen mit 50:50 geradezu vorbildlich, der Altersdurchschnitt weit unter 30, nur wenige Grauköpfe trüben das Bild.

Vor allem jedoch: Sie spielen modern. Sie sind modern, denn sie wollen modern sein! Sie haben, wenn sie auf der Konzertbühne sitzen, um endlich ihr wahres Können und ihre wahre Sicht der Dinge zu präsentieren, zuvor genug unter den Demütigungen einer gestrigen Welt gelitten. Sie haben in ihren dicken Lodenjankern schweißgebadet an schönen Sommertagen bei Prozessionen gespielt, ewig lange Hochämter mit Kirchenmusik zu Festen gemacht, die öden Reden von Politikern mit Märschen aufgewertet, Märkte und Verkaufsmessen eröffnet, die Einweihung von neuen Schulgebäuden und Kläranlagen umrahmt, bei Zeltfesten den Alkoholmissbrauch kulturell veredelt und vor Touristen die Alpen-Aborigines gegeben.

Sie sind also, um den Bestand ihres Vereines abzusichern, vor allem, wenn sie ein wenig gebildet sind und als Kapellmeister oder Vereinsvorstände das Vorbild vor allem für die jungen Leute abzugeben haben, in Rollen geschlüpft, die so gar nichts mit ihnen selbst zu tun haben. Sie definieren sich als Weltbürger und fühlen sich als konservativ-christlich-nationalsozialistische Schausteller (Thomas Bernhard) missbraucht. Denn längst sind sie, wenn nicht überhaupt aus der Kirche ausgetreten, nicht mehr streng gläubig, bestenfalls volkskulturell an farbenprächtigen Riten interessiert, wählen in der Wahlzelle grün, ganz bestimmt jedoch nicht rechts, vielleicht noch verstohlen konservativ, haben das Gymnasium oder sogar ein Studium hinter sich gebracht und versuchen nun die Spanne zwischen dem ländlichen Gestern, der grünen Idylle von Heute und einer globalisierten Welt nicht nur zu rechtfertigen, sondern auch zu genießen, wenngleich sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts die Gelegenheiten häufen, immer mehr darunter zu leiden.

Denn ganz bestimmt wollen sie mit jenen lächerlichen Figuren, die es in Lederhose und Trachtenjanker zur Medien-Prominenz gebracht haben, ob sie nun sogenannte volkstümliche Musik oder sogenannte volkstümliche Schlager oder zuweilen sogar sogenannte echte Volksmusik präsentieren, nichts zu tun haben. Aber auch nicht mit jener uniformierten Parademusikkapelle, bei deren Hauptkonzert im Herbst Landeshauptmann, Bürgermeister von Innsbruck und Bischof als Triumvirat auftreten und das Publikum sich gehorsam zur Kaiserhymne erhebt, als wäre der 1. Weltkrieg von den Österreichern gewonnen worden, statt noch in den letzten Tagen in eine endgültige politische und menschliche Katastrophe auszuarten.

Allzu verständlich daher, dass es nicht nur der Wunsch der jugendlichen Musikerinnen und Musiker ist, bei ihren Unterhaltungskonzerten durch Ausflüge in die Welt der aktuellen Popmusik den Beweis anzutreten, dass man den Anschluss an die Gegenwart nicht verpasst hat. Und ebenso verständlich der Wunsch, bei Konzerten bewusst durch die Wahl gehobener zeitgenössischer Musikliteratur zumindest einmal im Jahr das Image des alpinen Dodels abzulegen und als engagierter, kenntnisreicher und versierter Musiker und Dirigent dazustehen!

Die Programme, die sich aus solchen Sehnsüchten ergeben, sind denn auch durchwegs international und reichen von amerikanischen, südamerikanischen und japanischen Komponisten bis hin zu den zeitgenössischen, genauer müsste man sagen, auf das Können von gehobenen Amateur-Blasorchestern spezialisierten europäischen Tonschöpfern, zu denen auch einige Österreicher gehören, die internationale Reputation genießen und deren Werke weltweit aufgeführt werden.

Die Programme solcher Konzerte lassen inklusive Adjustierung in keiner Weise mehr darauf schließen, ob es sich hier um ein österreichisches, deutsches, belgisches, italienisches, französisches, niederländisches oder schwedisches Blasorchester handelt, bestenfalls für den Kenner ergeben sich aus der Bevorzugung gewisser Instrumentengruppen wie der Saxophone oder der Flügelhörner Hinweise auf die Herkunft und den kulturellen Hintergrund der Damen und Herren, die ihre globalisierte kompositorische Ware über ein Publikum ausschütten, dessen ratloser Kommentar immer wieder in Sätze mündet wie diesen:

„Die Stücke waren alle sehr lang, sie haben alle gleich geklungen, ich kannte keines und kann mich auch an nichts mehr genau erinnern!“

Mit dem sehr oft daran anschließenden Satz „Sie haben nur einen einzigen Marsch, keine Ouvertüre und schon gar nicht einen Walzer oder eine Polka gespielt“ sind wir denn auch beim Kern der vorliegenden Überlegungen angelangt. Denn so sehr das Habsburgerreich, in dem ein Friedrich Smetana oder ein Antonin Dvorak in gleicher Weise „Österreicher“ waren wie der Venezianer Antonio Vivaldi es zum kaiserlichen Hofmusikus brachte und die Stars der norditalienischen Szene des 19. Jahrhunderts in der Zeit der größten Ausdehnung der Donaumonarchie oft von Wien aus regiert wurden – sosehr dies alles längst Geschichte ist: die aus und in diesem Kulturkreis entstandene Musik, die von Wolfgang Amadeus Mozart über Franz Schubert, Johann Strauß, Anton Bruckner und Gustav Mahler bis Arnold Schönberg reicht, ist ein kompositorisches Weltkulturerbe, welches das kleine Österreich mit seinen Nachbarn zumindest im Bereich der Kunst- aber auch der gehobenen Unterhaltungsmusik des 19. Jahrhunderts immer noch als musikalische Weltmacht dastehen lässt.

Dem muss für alle in die Geschichte der Bläsermusik weniger Eingeweihten hinzugefügt werden, dass es bereits seit den Zeiten der Wiener Klassik üblich war, die erfolgreichsten Melodien, wie sie in den Konzert- und Opernhäusern der Donaumonarchie erklangen, bei abendlichen Serenaden in Bläserfassungen dem Publikum darzubieten. Diese Gepflogenheit, die am Anfang von kleinen sogenannten Harmoniemusiken getragen wurde, entwickelte sich mit dem Aufkommen der Nationalstaaten und der nationalen Armeen nach dem Wiener Kongress zur altösterreichischen Militärmusik, deren Aufgabe auch in diesem Fall neben der Begleitung militärischer Rituale darin bestand, die Werke der hohen Kunst bei Promenadenkonzerten in Bläserfassungen dem sogenannten gemeinen Volk zugänglich zu machen.

Diese Transkriptionen wurden naturgemäß von kreativen Kapellmeistern durch eigene Werke, die sich jedoch streng an die formalen Grundsätze ihrer Vorbilder aus der Kunstmusik hielten, ergänzt. Dadurch entstand neben den Kompositionen der Klassik und der klassischen Unterhaltungsmusik rund um das Genie Strauß ein eigener Werkskorpus, von dem etwa die Märsche, Walzer oder Ouvertüren eines Julius Fučík oder Karl Komzák sen. und jun. beispielhafter Ausdruck sind.

Damit jedoch steht die Frage im Raum: Wie verrückt muss man eigentlich als für das Programm Verantwortlicher und als noch so engagierter Dirigent eines Blasorchesters sein, wenn man, selbst Österreicher, auf das Angebot dieser Literatur aus einer großartigen musikalischen Vergangenheit des eigenen Heimatlandes verzichtet und sich im Konzert als Anhäufung musizierender Anzugträger mit globalisierter Kompositionsware verwechselbar und austauschbar macht?

Und all dies vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ein naturgemäß in der Musiklehrerschaft zutiefst verachteter André Rieu mit Programmen der österreichischen Unterhaltungsmusik des 19. Jahrhunderts in Maastricht alljährlich an die 100.000 Besucher und an den Fernsehschirmen Millionen um sich versammelt. Aber auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Wiener Philharmoniker mit ihrem alljährlichen Neujahrskonzert die ganze Welt erreichen und bei diesem österreichischen Spitzenorchester wohl niemand auf die Idee käme, je den Vorwurf zu erheben, es sei nicht modern, weil vor allem die Werke eines Mozart, Beethoven, Bruckner, Johann und Richard Strauß gespielt werden.

Die fast vollständige Absenz der sogenannten altösterreichischen Musikliteratur, sowohl was die Kunstmusik in Form von Transkriptionen als auch die Unterhaltungsmusik und Original-Kompositionen der davon inspirierten Militärmusiker bei den Konzerten unserer besten österreichischen Blasorchester betrifft, ist daher eine unentschuldbare und traurige Fehlentwicklung.

Der nicht weiter hinterfragte Wunsch, modern sein zu wollen, was in der Regel nur bedeutet, nicht regional zu sein, nicht dezidiert tirolerisch, steiermärkisch oder kärntnerisch, nicht österreichisch, also nicht all dem verbunden zu sein, was in den Medien als fremdenverkehrskompatible österreichische Identität vermarktet wird, sondern sich als Weltbürger zu präsentieren, führt nämlich auf geradem Wege in die Aporien der zeitgenössischen Kunstmusik, die in den allermeisten Fällen nicht nur für noch so exzellente Amateure zu schwierig zu spielen, sondern spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Paralleluniversum ohne Publikum verkommen ist.

Dies ist jedoch bestimmt nicht das Ziel, das die ehrgeizigsten unserer Blasorchester und ihre Dirigenten und Obleute anstreben, womit sich umso dringlicher die Frage stellt, was sie eigentlich darunter verstehen, wenn sie beschließen, modern sein zu wollen. Und was sie eigentlich darunter verstehen sollten?

Fortsetzung folgt

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Georg Astenwald

    Auf den Punkt getroffen

  2. wolfgang winkler

    erkannt, gratuliere!
    Aber noch nicht die Norm. In OÖ gibt es 400 kapellen, die mehr oder weniger ungeniert nicht modern sein wollen – nimmt man die grandiose Spieltechnik davon aus.

  3. Klaus Lechner

    Gefällt mir. Die sächsische Bläserphilharmonie Leipzig bildet aber eine wunderbare Ausnahme. Sie wird seit 2021 von einem Österreicher geleitet, was man erfreulicherweise an der Programmierung bemerkt. Soweit mein Beitrag!

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