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Helmuth Schönauer
Jahr für Jahr
Stichpunkt

Die wenigsten Leser schauen sich die Chronik genauer an, weil sie ja jeder schon von damals kennt, als sie in Einzelteilen frisch erschienen ist. Dennoch lohnt es sich, das Jahr noch einmal durchzugehen, und sich Überraschungen auszudenken, die durchaus hätten passieren können.

So juckt es Journalisten und Glossisten zwischendurch, noch einmal an den Tasten zu drücken und die Veränderungen zu kommentieren, die zwischen damals und Jahresende aufgetreten sind.

In unterhaltsamen Gedankenspielen lässt sich zum Beispiel ausmalen, was der Altbundeskanzler zum Jahreswechsel sagen würde, wenn er die Silvesteransprache halten müsste. Er würde seinen Standardsatz unterbringen und alle beruhigen: „Das Jahr ist vorbei!“ Zum Unterschied von der Pandemie würde das sogar stimmen.

Und was würde der polnische Ministerpräsident zu Silvester sagen, wenn die Grenze zu Belarus zusammengebrochen wäre? Dem Armen, der wahrscheinlich weggeputscht worden wäre, blieben wohl nur die Floskeln vom Christlichen Abendland, das nun aus Nächstenliebe die Pforten hin zum Morgenland geöffnet habe.

Was würde der Tiroler Landeshauptmann seinen Tirolern sagen, wenn er nicht nur Touristiker vor dem Neujahrspult hätte? Vermutlich würde er noch einmal seinen Standardsatz zur Pandemie auspacken: „Bleibts zu Hause, damit die anderen kommen können!“

Was würden die Ungeimpften im Jenseits sagen, wenn sie schon gestorben wären? Wahrscheinlich nichts, weil das Jenseits ja eine Fake-News aus der theologischen Abteilung ist.

Und was würde ein Untergrundschriftsteller sagen, von dem plötzlich jemand sein Werk gelesen hat? „Mit dem habe ich nicht gerechnet, ich habe ja extra so geschrieben, dass es niemand versteht, ich bin baff!“

Nicht nur die Glossisten geraten beim Jahresrückblick gerne in den Konjunktiv, auch die Leser schweifen zwischendurch vom Text ab und gären und sinnieren. Wo sind die hellen Stellen, die mich aufgemuntert haben? Wo ist es rund um mich dunkel geworden, weil ich es so nicht habe kommen sehen?

Manche Leser wollen am Jahresende wissen, was hinter der Panzertür passiert, wenn die Jahrespapiere eingeworfen sind. Ein erfahrener Archivar wird im Sinne von Franz Kafka antworten: „Nichts! Du darfst im Archiv nur jene Papiere bearbeiten, die aus der Zeit vor dir stammen. Erst deine Nachfahren werden das aktuelle Jahr bearbeiten und ihm gerecht werden, weil es abgekühlt ist.“

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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