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Diethard Sanders
Die Alpenländische Speisekarte
Ein Leitfaden
1. Folge
Aus "Abgründe des alpenländischen Alltags"

Nachdem sich mittlerweile bereits der April als eine Art von kombinierter Sommer/Winter-Monat präsentiert, in dem man wenigstens in dessen Sommer-Abschnitten in Schanigärten gemütlich zu Abend essen kann, ohne am Sessel festzufrieren, ist es hoch an der Zeit, eine kleine Einführung in die Welt der Alpenländischen Speisekarte zu geben. Des Älplers Neigung zu hintersinniger Mitteilung wird nämlich an wenigen Orten so offenbar wie in den Speisekarten. 

Während jeder gestandene Einheimische deren versteckte Botschaften meist rasch und halbwegs fehlerlos zu deuten weiß, kann es für Touristen, die unsere Berge und Schluchten bewuseln, bisweilen etwas schwierig sein, diese korrekt zu entschlüsseln. Das Folgende ist ein Kurzführer zum richtigen Decodieren des Enigma alpenländischer Speisekarten. Ich mache Sie vorher aber ausdrücklich darauf aufmerksam, dass das Lesen keinesfalls den Wert jahrelanger Feldforschung ersetzt.


1. Die Schlichte: 

Hier handelt es sich eigentlich nicht um eine Speisekarte, sondern um ihren Vorläufer, eine große schwarze Schreibtafel, die vor dem Lokal aufgestellt ist und auf der die Speisen angeschrieben sind. Wie sonst auch oft im Leben enthalten die Schlichten häufig die wahre Qualität. Selbst wenn es in der Gaststätte noch eine Speisekarte auf Papier gibt – meist sind die Speisen, die auf der Tafel hingekritzelt werden, besonders lecker (wie es bei unseren nördlichen Nachbarn heißt) und das Preis-Leistungsverhältnis ist äußerst stimmig. 

Die Schlichte ist sehr robust und man findet sie an vielen Standorten, sonnig bis schattig, feucht bis trocken, und von Tieflagen bis in die hochalpine Stufe. Gerne steht sie vor bewirtschafteten Almhütten, und dort kann man sich so gut wie sicher sein, dass sie hält, was sie verspricht. Auch an hanglagigen Gaststätten, Lokalen in Dörfern und in dergleichen Positionen ist sie stets ehrlich. Nur in einem Fall sollte man auf der Hut sein: Es gibt nämlich eine degenerierte Mutante der Schlichten, die sogenannte Pseudo-Schlichte, die vor Lokalen einer bestimmten Aufmachung in alpenländischen Siedlungen mit städtischem Charakter stehen. Diese Tafeln können täuschen. Wir werden auf sie noch zu sprechen kommen.


2. Die Ehrliche: 

Sie ist auf Papier gedruckt, nennt die Dinge unverschnörkelt beim Namen und ist recht vielfältig, ohne aber überladen zu wirken. Man könnte sagen, dass das Wechselspiel zwischen Qualität und Preis bei dieser Kategorie einen gewissen Spielraum hat, dass sie aber in den meisten Fällen nicht enttäuscht und oft auch freudig überrascht. 

Seit sich unter Südeuropäern und zukünftigen Süd-Europäern herumgesprochen hat, dass man die alpenländischen Winter mittlerweile auch ohne spezielles Überlebenstraining durchhalten kann, sprießen in Stadtsiedlungen immer mehr Lokale aus dem Boden, die die angestammten heimischen Essgewohnheiten meist aufs angenehmste auflockern. Auch in diesen Lokalen bedient man sich meist der Ehrlichen, und man wird fast immer zufrieden und nur selten enttäuscht sein.


3. Die Verkleiner-Verfeinernde:

Speisekarten mit verkleinernder und verfeinernder Sprache sind eine vergleichsweise neue Spezies. Eine Verkleiner-Verfeinernde liest sich wie Schönbrunnerdeutsch für Imbezile: Feinstes Rindsschnitzerl an hausgemachten [sic!, der Autor] Preiselbeerkonfitürchen mit einer Idee von pommes frites. Oder: Schweinsterrinchen an handverlesenen [sic!, der Autor] Mischgemüse und hausgemachten, rundum lustig runden Semmelknöderln.Oder: Zwei seidendünne Marillen-Omelettchen überstäubt mit einen [sic!, der Autor] Hauch von Zimt

Einmal abgesehen davon, dass der Akkusativ sowieso langsam ausstirbt, konnte die Forschung den Herkunftsort der Verkleiner-Verfeinernden immer noch nicht ermitteln. Einige Experten vermuten, dass ausgerechnet sie aus einer hochgelegenen Wintersportregion mit besonders schroffen und engen Talungen stammt, in denen die Menschen bis vor zwei Generationen nicht einmal wussten, was Bananen sind. 

Die Verkleiner-Verfeinernde evoluierte vermutlich durch wüste Mutation aus einer Einfachen Speisekarte durch schändliches Zutun irgend eines ebenso mutierten Gastwirtes, der die schlichte Ankündigung der Speisen mit Neuem Älplerischen Tiefsinn versehen wollte. Dabei übersieht man leicht, dass die so angepriesenen Gerichte zumeist recht konventioneller Natur sind. Und wer prüft schon in der Küche nach, ob das Preiselbeerkonfitürchen tatsächlich hausgemacht ist? 

Zuletzt aber kann man der Verkleiner-Verfeinernden in manchen Fällen zu Recht vorwerfen, dass der Zunahme an schwülstiger Poesie meist nur ein Anstieg der Preise, weniger aber der Qualität entspricht. Eine bewährte Methode, eine Verkleiner-Verfeindernde zu entlarven besteht darin, die Beschreibung der Gerichte in die Sprache einer ehrlichen Speisekarte zu übersetzen. Also: Rindsschnitzel mit Preiselbeer-Marmelade und pommes frites. Klingt schon nicht mehr so nach haute cuisine. Schweinsterrine mit Mischgemüse und Semmelknödel. Könnte es in jedem anderen Gasthaus geben. Natürlich beruft man sich darauf, dass die Qualität sämtlicher Zutaten und die Raffinesse der Zubereitung deutlich über dem liegt, das sonst so zirkuliert; aber man möchte nicht in jedem Fall den Test mit verbundenen Augen machen. 

Vorsicht: vor Lokalitäten, die sich der Verkleiner-Verfeinernden bedienen, kann fallweise auch eine Pseudo-Schlichte ihr Unwesen treiben.



4. Die Üppige: 

Sie ist die Rubensfrau unter den Speisekarten. Großgewachsen, meist in dickes Leder gebunden, im wahrsten Sinne des Wortes vielseitig und voller Geheimnisse – und vielleicht trügerisch. Die Üppige will vor allem durch grosse Vielfalt des Angebotenen beeindrucken, doch bei ihr beginnt das schwierigere Terrain und die eigentliche Kunst der Exegese alpenländischer Speisekarten. 

In den meisten Fällen wird diese Vielfalt auch tatsächlich wenigstens großteils geboten, doch kann es bei der Üppigen schon mal vorkommen, dass man auf die erwünschte Bestellung von einer betont aufgeräumten Kellnerin zur Antwort kriegt Haben wir heute nicht, oder Ist leider grade aus, oder Da muss ich erst in der Küche fragen oder nur ein knappes Ist aus, wobei sie gelangweilt zu einer Gruppe von Touristen hinüberschaut, die gerade den Raum betritt. 

Das alles muss nicht unbedingt ein Zeichen niedriger Qualität sein, aber wenn beim dritten eher gängigen Gericht abschlägig bestellt wird, dann ist Grund zu diesem Verdacht gegeben. Andererseits ist auch die Erhältlichkeit jedes Gerichts noch kein Grund, sich sicher zu wähnen. Man betrachte die Üppige genau – wie oft wird dieselbe, leicht herzustellende oder schnell aufzuwärmende Zuspeise angeboten, wie sehr variieren die Gerichte wirklich, oder ist es nur ein Tausch von Rind nach Schwein nach Huhn nach Ente nach Kalb nach Pute – an den ständig gleichen Beilagen? 

Eine bemerkenswerte Eigenart der Üppigen ist es, dass sie mit erhöhter Wahrscheinlichkeit in Gaststätten zu finden ist, die aus irgendwelchen Gründen häufig die Pächter wechseln. Rubensfrauen haben eben ihre Geheimnisse.

Fortsetzung in einer Woche zu: 5. Die Ernährungsbewusste / 6. Die Pseudo-Schlichte / 7. Die Nicht-Vorhandene


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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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