Corvus Kowenzl
Im verdienten Ruhestand
Ostalpenländische Universitätssatiren
Folge 20
Folgende bescheidene Zeilen präsentieren einige der markantesten Erinnerungen meines Berufslebens als Lehrer und Forscher an einer Universität mitten in den Ostalpen, im Lande des Grüß Gott. Die meisten dieser Erinnerungen stammen aus meiner Zeit als Leiter eines Instituts, jedoch war diese Position nicht in jedem Fall ausschlaggebend, sondern ganz einfach die Tatsache, dass ich ein Angehöriger der Universität bin.
Schon oberflächliche Nachforschung ergab, dass der alte Routinier längst vorgesorgt hatte. Er hatte mehrere Projektchen und Kollaboratiönchen laufen, die er sich schlauerweise nicht erst von mir, sondern noch von meinem ahnungslosen (oder auch hinterlistigen) Amtsvorgänger hatte unterschreiben lassen.
Zwei der Projekte waren in nicht zeitbefristete Kooperationsprogramme eingebettet (ich wusste vorher gar nicht, dass es so etwas gibt), zwei der Kollaborationen endeten 2029, da können wir sowieso froh sein, wenn wir überhaupt noch am Leben sind.
Mein anfänglicher Ärger wich aber rasch dem Reiz der Herausforderung, schon noch etwas zu finden, womit ich den Alten delogieren kann; sofort schalt ich mich ob solch niedriger Gedanken, die mir drastisch vor Augen führten, wie weit sich der administrative Alzheimer bereits in mein Gemüt hineingefressen hatte. Schande. Ich werde Buße tun. . .
Dieser Vorfall ist nun drei Jahre her und der Herr Emeritus sitzt noch immer bei uns; er sitzt zwar nicht mehr in seinem früheren Büro (da ist jetzt sein ‚Naaachfolger‘ drin), sondern in einem kleineren Raum, aber er hat sein Büro.
Im Laufe der Zeit hat sich eine Art stille Übereinkunft herausgebildet. Er verhält sich unauffällig und im Gegenzug bemerke ich ihn nicht. Was nicht einfach ist, denn sein Kämmerchen liegt neben meinem Büro. Aber er gibt sich Mühe.
Vormittags, meistens so gegen zehn, höre ich, wie er das Büro betritt; dann ist es oft den ganzen Tag über mucksmäuschenstill, bis auf ein gelegentliches Rascheln von Papier oder das Klappern einer Tastatur. Abends geht er dann oft genauso still wie er gekommen war.
Eines Abends trieb mich die Neugier, doch einmal zu erfahren, wie weit er mit seinem opus magnum denn schon sei. Ich schaute zu ihm ins Büro. Kaum aber hatte ich nach dem Stand des Buches gefragt, da sackte er verkrümmt über dem Tisch zusammen und rief aus:
„Nichts stimmt zusammen in der Grauwacken-Zone, da stimmt nichts, der eine schreibt dies, der andere schreibt das, der dritte sagt wieder was andres, es ist zum Heulen. . . man müsste die ganze Gegend alles wieder von vorne geologisch kartieren, alles, von vorne, ganz von Anfang, neu.“
Und er winselte gequält und krümmte sich erneut. Aber diese Vorstellungen kannte ich seit vielen Jahren nur zu gut. Ich wusste sofort, worauf er hinaus wollte. Mit leicht gespitzten Lippen sagte ich:
„Nun, wenn du ganz fleißig ins Feld gehst, dann hast du dieses kleine Stückchen Gebirge in lumpigen 10 bis 15 Jahren doch neu kartiert. . . wo ist das Problem?“ Und ich empfahl mich freundlich und wünschte noch einen schönen Abend.
Der beschriebene Typ von Ruheständler tritt in vielen Sub-Spezies auf, die alle ein leicht unterschiedliches Verhalten zeigen und in unterschiedliche akademische Öko-Nischen adaptiert sind. Ihnen allen ist gemeinsam, dass das Verhältnis von wissenschaftlicher Produktivität – vor allem sichtbar in Artikeln oder Büchern – zur aufgewendeten Zeit (in Jahren gemessen) stets viel kleiner 1 ist. Aber darum geht es im Grunde gar nicht. Es geht darum, am Institut zu sein, es geht darum, dabei zu sein, es geht darum, präsent zu sein.
Viel seltener als die alternden Präsentisten ist dagegen eine andere Gattung, nämlich die des greisen Workaholics. Man kann über ihn sagen, was man will, aber er arbeitet und produziert wirklich.
Er unterscheidet sich vom Präsentisten aber nicht nur, was seine Produktivität anlangt, sondern auch darin, dass er wirklich überall und unter fast allen Umständen bis hin zum Artilleriebeschuss arbeitet, auch an Orten fernab des Instituts. Der Laptop macht’s möglich.
Für den Workaholic war der Ruhestand tatsächlich die lang ersehnte Gelegenheit, endlich frei von allem Uni-Kram geradezu obsessiv zu forschen. Natürlich arbeiten in seiner Weltsicht fast alle anderen zu wenig, und sein Urteil über Menschen schwankt wie der Luftdruck im Laufe eines Monats.
Mit so einem Exemplar hatte ich es ebenfalls einmal längere Zeit zu tun. Er schien mich für wissenschaftlich irgendwie talentiert betrachtet zu haben, aber als Anhänger einer kernsozialistischen 50- bis 60-Stunden Woche war und bin ich halt einfach zu faul, um seinem Arbeitsethos gerecht zu werden. Eines Tages stand er im Eingang meines Büros. Er blieb erst einmal schicksalsträchtig im Türrahmen stehen und schaute mich nur stumm an, dann brach das Geständnis aus ihm heraus:
„Jetzt habe ich doch glatt fünf Tage lang nicht gearbeitet!“
„Also so was“, meine Antwort, „da könnte man doch glatt meinen, du bist in Pension!“
Neben dem seltenen Workaholic und dem häufigen Präsentisten gibt es noch eine weitere Gruppe von Ruheständlern, die auf Instituten umgehen, die ich hier etwas salopp als Gespenster zusammenfasse. Die Gespenster sind strenggenommen keine intrinsisch geschlossene Gruppe, da alle ihre Vertreter weiter evoluierte Formen verschiedener Gattungen von Präsentisten sind, als evoluierte Formen aber genügend eigenständige Merkmale aufweisen, um als abgrenzbare Einheit geführt zu werden.
Die Gespenster sind also in der Fachsprache der Evolutionsforschung polyphyletisch. Vereinfacht, für die Laien: ein Gespenst beginnt als Präsentist und verwandelt sich erst im Laufe der Zeit zu einem Gespenst. Aber nicht alle Präsentisten werden notwendigerweise zu Gespenstern; manche verlassen die Institute bevor sie zu Gespenstern werden.
Der Grund für die vielleicht etwas rüde scheinende Bezeichnung Gespenst liegt darin, dass die Vertreter dieser Gruppe so ziemlich alle Eigenschaften zeigen, die man als Kind mit Gespenstern verbindet. Zum ersten tauchen sie oft völlig unvermutet an Orten auf, wo man sie keinesfalls vermutet, in Labors, oder sie stehen knapp hinter Ecken in frequentierten Gängen, oder plötzlich stehen sie hinter einem.
Das liegt an einem schleppenden, leisen Gang, der andere Bewegungsabläufe hervorruft als jene der stets Jüngeren, die bekanntlich stets von Besprechung zu Besprechung eilen. Ich erschrecke immer aufs Neue, wenn ich wieder einmal vollkommen unvermittelt vor einem Gespenst stehe.
Zum zweiten ist das Aussehen und die Gebrechlichkeit von so manchem geeignet, sich eh nicht so recht auf den Ruhestand zu freuen. Und zum dritten tragen manche von ihnen stets einen weißen Labormantel, was im Zusammenspiel mit den gebeugten Körpern den Eindruck eines Gespenstes noch verstärkt. Man lässt sie solange es irgendwie geht gewähren, denn jeder noch zum Mitfühlen befähigte Mensch versteht, dass in der Metamorphose vom Präsentisten zum Gespenst völlig andere Motive als Forschung eine Rolle spielen.
Meist sind Gespenster harmlos, manchmal aber auch lustig oder wunderlich. Ab und zu sind sie ausgesprochen ‚grantig‘ (ostälplerisch für nörglerisch) oder mischen sich ungebeten mit unpraktikablen Vorschlägen in irgendwelche Sachen ein. Aber das ist leicht ausgestanden. Und so kommt es, dass die Universität wie jedes gute Märchen-Schloss, das auf sich hält, auch ihre eigenen Geister hat.
Und damit wäre zu den Ruheständlern eigentlich alles wesentliche gesagt. . .
doch halt stopp Moment: eine Gruppe habe ich doch glatt vergessen.
Es sind jene, die mit Beginn des Ruhestandes tatsächlich: IN DEN RUHESTAND GEHEN. So ein Fall ereignete sich vor Jahren auf einem der anderen Institute unserer Fakultät. Ich fand die Sache hochinteressant und erkundigte mich nach dem genauen Hergang.
„Der Max hat im Verlauf des September sein Büro ausgeräumt, bis es punktgenau am letzten Arbeitstag leer war, hat sich von allen verabschiedet und ist dann gegangen“, erklärte mir ein Kollege.
„Wie?“ frage ich erstaunt, „einfach gegangen, ohne wiederzukommen? Ich meine, hatte der Max nicht noch Projekte oder sonstige Sachen laufen?“
„Soviel ich weiss, hatte er noch ein Projekt zusammen mit den Archäologen, aber das erledigte er von zu Hause aus.“
„Hast du ihn nochmals gesehen?“
„Ja. Er hat dann im Abstand von mehreren Monaten noch ein paarmal kurz vorbeigeschaut, aber jetzt hab ich ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Er hat gesagt, es gehe ihm gut, er fährt jetzt viel mit seiner Frau in der Welt herum und macht sich das Leben angenehm.“
Ich: „Also sooo was!“
„Ja, ich war auch ziemlich enttäuscht über so einen Abgang. . . keine echte Forscherseele eben!“
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