Diethard Sanders
Die Alpenländische Speisekarte
Ein Leitfaden
1. Folge
Aus "Abgründe des alpenländischen Alltags"

Nachdem sich mittlerweile bereits der April als eine Art von kombinierter Sommer/Winter-Monat präsentiert, in dem man wenigstens in dessen Sommer-Abschnitten in Schanigärten gemütlich zu Abend essen kann, ohne am Sessel festzufrieren, ist es hoch an der Zeit, eine kleine Einführung in die Welt der Alpenländischen Speisekarte zu geben. Des Älplers Neigung zu hintersinniger Mitteilung wird nämlich an wenigen Orten so offenbar wie in den Speisekarten. 

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Weitere Varianten:

5. Die Ernährungsbewusste

Sie ist im Grunde genommen eine ehrliche Haut, die es nur gut meint, und sie glaubt halt an den ethischen Fortschritt der Menschheit. Also ist sie ein getreulicher Spiegel des neuen Zeitgeists, in dessen Codex unter anderem steht: Du bist, was du isst. 

Zwar sollte man hier sofort dem Fehlurteil linguistisch ungebildeter Touristen zuvorkommen und klarstellen, dass die meisten alpenländischen Dialekte tatsächlich Sprachen und kein Grunzen sind, dennoch müsste dem neuen Ernährungscredo zufolge der Großteil der alpenländischen Bevölkerung quieken, muhen und gackern. Nun, ganz so wörtlich muss man es denn auch nicht nehmen, aber ein bisschen Wahrheit wird schon dran sein oder?

Die Ernährungsbewusste findet sich in speziellen Restaurants, die zumeist in eher ruhigen, städtischen Wohnvierteln liegen, die sonst nicht durch übertriebene gastronomische Infrastruktur auffallen. Selber würde man nie auf den Gedanken kommen, in genau jenem Viertel ein Restaurant zu vermuten, aber es wurde einem von einer neuen Bekanntschaft genau so angegeben. Und wozu gibt es schließlich Maps? 

Also reserviert man einen Tisch und findet sich brav zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Orte ein. Man betritt das Lokal. Es ist nicht voll, aber gut besucht. Sofort fällt einem auf, dass die meisten Gäste weiblich und eher jung bis mittleren Alters und vom Faserpelz-Strickpullover-Typ sind. Macht nix, es gibt schlimmere Belegschaften. Nachdem man von einer Frau mit offenem roten Haar und Strickpulli einen Tisch zugewiesen bekam, erscheint auch die neue Bekannte. Man setzt sich hin und beginnt zu plaudern, sagt, dass man dieses Lokal noch gar nicht kennt. Ja ja, das ist viel zu unbekannt, beginnt sie dann gleich, aber immerhin konnten sich die Pächter schon vier Jahre lang halten, denn es wird viel zu viel Fleisch gegessen. 

Man öffnet die Speisekarte, die am Tisch liegt, und beginnt sie zu studieren. Schon nach kurzem Überfliegen fällt auf, dass die hier Ernst machen und es nichts gibt, das nach Fleisch aussieht. Das hier ist ein veganes Restaurant, bekommt man dann zur Klarstellung von der Bekannten zugeraunt. Also auch keine Eier, kein Käse, überhaupt nichts, was Tier war oder vom Tier kommt. Nur Pflanze oder Alge. 

Immerhin gibt’s Wein. Die neue Bekannte bemerkt, dass man ein bisschen verloren ist und beginnt, einen zu beraten. Was bist du denn so für ein Typ, beginnt sie, ich meine, magst du es lieber stark gewürzt oder eher mild? Im folgenden Gespräch erweist sie sich als profunde Expertin nicht nur für Ernährung so ganz allgemein, sondern auch für die komplexe Beziehung zwischen der eigenen Persönlichkeit und verschiedenen Gemüsesorten, von denen man manche nicht mal dem Namen nach kennt.

Siehst du, dieser Bereich hier (sie zeigt auf die Speisekarte) ist mehr für Leute, die oft Stress haben, diese Speisen beruhigen und entspannen. . . und da drüben, diese Gerichte sind gut für Kreative oder Geistesarbeiter, die holen dich also zurück und erden dich wieder . . .

Doch so richtig hilfreich sind ihre Erläuterungen dennoch nicht. Wie könnte man auch Jahre intensiven Studiums durch einen fünfminütigen Schnellsiedekurs wettmachen? Wie gut, dass man eine Expertin dabei hat.

Der Blick schweift an diversen Aufläufen, Gratins (ohne Käse, nur Soja) und Eintöpfen entlang und man bestellt schließlich aus purer Ratlosigkeit das Bio-Melanzani-Bio-Topinambur-Gratin mit gebratenen Bio-Soja-Scheiben (alles aus fairem Bio-Anbau) auf bio-kambodschanische Art, vielleicht, weil es einen im Unterbewusstsein entfernt an die Beschreibung eines Cordon Bleu erinnert. Die neue Bekannte erweist sich bei der Bestellung als Stammgästin, die mit der Pächterin per Du ist. Nach etwas großzügig bemessener Wartezeit (wird alles frisch gemacht) kommt das Bio-Melanzani-ETC auf den Tisch – und es schmeckt wirklich gut. Könnte vielleicht ein bisschen mehr sein, wagt man zu monieren, aber das wird sofort abgefedert mit dem sanften Hinweis, dass wir sowieso alle ständig viel zu viel essen. 

Als man das Lokal verlässt, hat man keinen schlechten Eindruck, aber für ein abschließendes Urteil ist es auch noch zu früh. Vielleicht sollte man nochmals hingehen.


6. Die Pseudoschlichte

Eigentlich hat sie es ja nicht verdient, in einer eigenen Kategorie behandelt zu werden. Aber genau wegen ihres miesen Charakters soll sie hier einmal ins Rampenlicht gezerrt werden. Ihr Habitat ist die engere Umgebung von im betont ländlichen Stil gebauten kleinen Weilern, die nicht nur aus dem Wirtshaus selber bestehen, sondern die noch andere Gebäude beinhalten und vor allem mindestens eine riesige, im schwülstigem Laubsäge-Stil gehaltene Holz-Gartenlaube, unter deren Dach man auch im Regen trocken wie die alten Wikinger in ihrer Walhalla zechen kann. 

Nicht selten steht so ein Gastro-Weiler inmitten einer Stadt. Immerhin, das Anwesen ist großzügig, man hat Auslauf. Und wenn man vom ersten Mal pinkeln zurückkommt, geht man nicht direkt zu seinem Platz zurück, sondern es treibt einen die Neugier, was sich auf diesem Firmengelände wohl sonst noch so alles findet. 

Intuitiv gerät man schnell in den Bereich für die gehobene Gastronomie, kommt aber nicht weit, weil man sogleich von einem dienstfertigen chef du range abgefangen wird: Kann ich ihnen helfen? . . . äh?, nein, danke, ich möchte nur schnell schauen, ob sich inzwischen jemand eingefunden hat (bei Bedarf empfiehlt es sich, die etwas umschreibendere Sprache zu verwenden, die Bildung und Stand suggerieren soll), die ich sehnsüchtig erwarte. Oh, verstehe, der Chef sogleich, und er gibt den Weg mit einer Miene frei die in etwa besagt der Liebe sollte man nicht im Wege stehen. Geschafft!

Und jetzt schnell eine kleine Kurve gekratzt, damit der Chef einem nicht mehr mit seinen Blicken folgen kann und – unter den einschätzenden Blicken der distinguierten Gäste – an einen freien Tisch. Man schaut sich um. Schon steht ein Kellner da. Sie wünschen zu speisen?, seine Frage. Nein danke, jetzt noch nicht, ich warte auf jemanden. Wie sie wünschen, der Kellner, und tritt mit etwas pikiertem Gestus ab (soll er doch am Bahnhof warten, aber nicht bei uns). 

Hektik erfasst einen. Wo ist denn hier eine Speisekarte, verdammt nochmal? Man scannt das Blickfeld. Da! – da drüben, diese Frau, äh, Dame hat eine neben sich am Tisch liegen. Schnell hin, bevor ein Kellner kommt. Entschuldigen sie vielmals, gnädige Frau, dass ich sie anspreche. Es scheint, dass wir ein Problem mit den Ausdrucken der Speisekarten haben. . . dürfte ich mir diese mal genauer ansehen? Sie gestattet es. 

Man nimmt die Karte, verdrückt sich damit in eine Nische und macht mit dem Handy schnell ein paar Photos davon. Wenn jetzt nur nicht plötzlich jemand auftaucht. Geschafft! Ruhig geht man zum Tisch der Dame zurück, doch da steht ein Kellner. Also daran vorbeigehen, so, als gehöre man hier dazu, dann schnell das corpus delicti auf einem leeren Tisch abgelegt und dann wieder als freier, unbescholtener Mann freundlich grüssend am chef du range vorbei in den Bereich für Normalverbraucher. 

Dort zückt man sofort das Handy zum Speisekarten-Vergleich. Es erweist sich: die Karte für Normalverbraucher, eine Ehrliche mit einem Hang zum Verkleinerverfeinern, ist nicht identisch mit der Karte für den exclusiveren Bereich. Immerhin, die Letztere liest sich wirklich gehoben. Da besinnt man sich, dass man doch auch draußen, im Dunstkreis der Holzlaube, einige Schlichte herumstehen sah. Natürlich, ein paar Schlichte braucht es immer, um das ländliche Flair zu unterstreichen, das so gut zur Stadtautobahn in etwa 50 m Entfernung passt. 

Gewohnt, dass Schlichte mehr halten als sie versprechen, begeht man einen Fehler: man bestellt ein Gericht von der Schlichten, deren Pseudo einem rasch klar wird, wenn man Wartezeit, Qualität und Preis gegeneinander abwägt. Die Begleiterin dagegen, die sich eine andere Speise von derselben Pseudoschlichten bestellt hatte, ist sehr zufrieden. 

Merke alsos: Pseudo-Schlichte sind hinterhältig und beinhalten stets ein hohes Restrisiko. Bevor man den Gastro-Weiler verlässt, sollte man mindestens eine davon mit einem als Stolpern getarnten kräftigen Tritt zur Strecke bringen.


7. Die Nichtvorhandene

Zuletzt die Meisterprüfung. Denn es gibt eine alpenländische Speisekarte, die es gar nicht gibt, zumindest nicht auf dem Papier, dafür aber im Gedächtnis des Gaststätten- oder Almpächters, von wo er sie bei Bedarf verbal abruft. 

Auf eine solche sozusagen mentale Speisekarte sollte sich ein Fremder nur in Begleitung einer ortskundigen, erwachsenen Begleitperson einlassen. Denn die Nichtvorhandene ist zerklüftet und unvorhersehbar wie das alpine Terrain – von höchsten sonnigen Höhen bis zu kalten schattigen Tiefen ist alles drin. 

Zumeist ist eine Nichtvorhandene eher kurz und nicht besonders facettenreich. Das ist klar: der Wirt käme sonst aus dem Rezitieren nicht mehr raus. Meistens befindet sich in dieser Speiseliste ein Gericht, das legendär schmackhaft und bei den Einheimischen landauf landab bekannt ist. Zum Beispiel der Kaiserschmarrn. Nein, damit soll nicht der Regierungsstil des letzten amtierenden Habsburger Kaisers gemeint sein, sondern es handelt sich um ein Gericht, eine typisch ostalpenländische Mehlspeise, denn wie so oft in den Ostalpen verstecken sich hinter einfacher Fassade – Zutaten wie Mehl, Eier, Rosinen – die entscheidenden Nuancen und Abgründe. 

Der Schreiber dieser Zeilen hat viele Jahre lang das Phänomen Kaiserschmarrn erforscht und ist zum Schluss gekommen, dass die weltbesten Kaiserschmarrn nicht in der gehobenen Gastronomie, sondern in Almhütten und ähnlichen Niederlassungen hergestellt werden. 

Hat ein Wirt also einen umwerfend guten Kaiserschmarrn in seinem Angebot, so will das gewusst sein – denn schon des gleichen Wirtens Schweinsbradl mit Sauerkraut kann irgendwie fade schmecken und ziemlich zerkocht sein. So etwas weiß der Einheimische natürlich, der nie auf die Idee kommen würde, beim Almwirt Soundso einen Schweinsbraten zu bestellen. Dafür muss man schon auf die Hudlerhütte gehen, wo der Wirt persönlich einen traumhaft guten Schweinsbraten macht, der selbst hartgesottene Veganer binnen Minuten zum Widerruf treiben kann. Dort sollte man andererseits aber wiederum keinen Kaiserschmarrn bestellen, es sei denn, man nimmt eineinhalb Stunden Wartezeit für ein paar gelbliche Teigbrocken, die nach gar nichts schmecken, in Kauf. 

So zeigt sich, weshalb es besonders vor einem Besuch von Lokalitäten, bei denen eine Nichtvorhandene zu erwarten ist, ratsam sein kann, vorher die einheimische Bevölkerung zu konsultieren. Leider kann man nichts gegen die unvermeidlichen Spaßvögel machen, die dann sagen Kaiserschmarrn? – ihr wollt Kaiserschmarrn? Da müsst ihr auf die Hudlerhütte, dort gibts den besten.

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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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