Ursula Christmann bespricht:
Norbert Groeben
Sterbenswille
Verteidigung des rationalen Suizids

Das Buch ‚Sterbenswille‘ fügt dem bisherigen Diskurs über Sterbehilfe vier Argumentationslinien hinzu, die als unverzichtbare Eckpunkte für die zukünftige rationale Diskussion und Konzeption des ärztlich-assistieren Suizids gelten können.

Es sind dies:

– das Herausarbeiten von vier Möglichkeiten des rationalen Suizids, mit denen die ausschließliche Fokussierung auf die Beendigung eines Leidens (im Endstadium einer Krankheit) überwunden wird, und zwar indem darüber hinaus die Kategorien des Präventiv-, Bilanz- und Symbiose-Suizids einbezogen werden;

– die Rechtfertigung dieser Kategorien durch Rückgriff auf das Konzept der Willensfreiheit als Übereinstimmung mit persönlichkeitszentralen Werthaltungen, die an historisch-biographischen Beispielen auch emotional nachvollziehbar gemacht werden;

– die empirische Prüfung und Zurückweisung der immer wieder vorgebrachten Schiefe-Ebene-Warnungen, die – unberechtigterweise – das Abgleiten in moralisch destruktive Folgen einer Legalisierung von Sterbehilfe behaupten;

– essenzielle Elemente eines Verfahrensmodells zum ärztlich-assistierten Suizid, in dem die Willensfreiheit der Suizid-Willigen mit der Gewissens- und Handlungsfreiheit der Mediziner/innen zu einem konstruktiven Umbau des Gesundheitssystems verbunden werden.

Im Einzelnen: Im Februar 2020 hat das (deutsche) Bundesverfassungsgericht das bis dahin geltende „Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe“ als verfassungswidrig außer Kraft gesetzt, weil es gegen die Selbstbestimmung des Menschen verstieß, wie sie im Grundgesetz der BRD (in Art.1, Menschenwürde, und Art. 2, Allgemeine Persönlichkeitsrechte) verankert ist. Dabei hat das Gericht explizit festgehalten, das dieses Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben nicht auf die Situation eines krankheitsbedingten Leidens (im Endstadium) begrenzt ist, sondern ‚in jeder Lebensphase‘ gilt. Um welche Lebenslagen es sich dabei handeln kann, blieb dabei allerdings offen.

Diese Leerstelle schließt nun Norbert Groeben, indem er die Kategorien des Präventiv-, Bilanz- und Symbiose-Suizids als rationale Möglichkeiten eines selbstbestimmten Sterbens herausarbeitet.

Beim Präventiv-Suizid wird es aufgrund der steigenden Lebenserwartung in unserer Gesellschaft höchstwahrscheinlich vor allem darum gehen, dem demenzbedingten Persönlichkeitszerfall zuvorzukommen. Der Bilanz-Suizid bezieht sich auf die Situation, in der eine Person den Sinn ihres Lebens (in positiver, ggf. aber auch in negativer Bedeutung) als erfüllt ansieht; das kann mit dem Versiegen der Lebenskräfte einhergehen, genauso gut jedoch auch mit dem positiven Fazit, alle Lebensziele erreicht zu haben. Beim Symbiose-Suizid dagegen wird es immer um den völligen Verlust des Lebenssinns gehen, der mit dem Tod des einen geliebten Menschen verbunden ist.

Das Gemeinsame all dieser Varianten des rationalen Suizids besteht darin, dass nach den eigenen, je individuellen Wertvorstellungen ein Weiterleben keinen Sinn mehr macht.

Diese persönlichen Wertvorstellungen sind dann auch das entscheidende Kriterium für die Rationalität des Suizids, insoweit er auf der Willensfreiheit des Individuums basiert. Denn Willensfreiheit besteht nach der Position des Kompatibilismus (die Determinismus und Freiheit verbindet) darin, dass die situationale Handlungsintention mit den übergeordneten Werthaltungen der Person übereinstimmt: dass man also das will, was man wollen möchte.

Die Rationalität der Willensfreiheit kommt dadurch zustande, dass man als Individuum die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit mitbestimmt, so dass die Determination des Willens die ‚richtige‘, von der selbstbestimmten Entwicklung abhängige Verursachung darstellt. Dies gilt nicht zuletzt auch für den willensfreien, rationalen Suizid-Entschluss, wie es auch das Bundesverfassungsgericht festgehalten hat: nämlich dass die Übereinstimmung mit den persönlichen Wertvorstellungen entscheidend ist, die sich in einer pluralistischen Gesellschaft allen vorgeblich objektiven, übergeordneten Normen entziehen – soweit dadurch nicht die Rechte anderer verletzt sind.

Die Genese solcher persönlicher Wertvorstellungen wird durch die acht historisch-biographischen Miniaturen (zu den vier Suizid-Kategorien mit je einem weiblichen und männlichen Protagonisten) auch emotional nachvollziehbar gemacht. Dabei zeigt sich auch immer wieder, mit welchen Problemen die Realisierung eines selbstbestimmten Sterbens in Zeiten nicht-legalisierter Sterbehilfe zu kämpfen hatte.

Die Verhinderung dieser Legalisierung ist bisher in erster Linie von den christlichen Kirchen mit ihrer These von der ‚Unverfügbarkeit des Lebens‘ betrieben worden, weil danach das Leben ein Geschenk Gottes sei, über das der Mensch gerade nicht selbstbestimmt verfügen dürfe.

Diese Position wird allerdings, wie Umfragen zeigen, von der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr geteilt. Um die Ablehnung des Suizids und der Sterbehilfe trotzdem auch gegen den Pluralismus unserer Gesellschaft durchzusetzen, werden daher moralisch negative Folgen einer Legalisierung von Sterbehilfe beschworen.

Danach soll eine solche Legalisierung zu immer weiter ausgreifenden rechtlichen Ausweitungen (bis hin zur Tötung ohne oder gegen Verlangen der Betroffenen) führen; desgleichen zu einem ‚Dammbruch‘, der über die statistische Normalität des Suizids zum sozialen Missbrauch verleitet, indem der Suizid als Norm etabliert wird; eine solche soziale Norm aber würde vor allem bei vulnerablen Personen einen Druck in Richtung auf ‚selbstbestimmtes Sterben‘ ausüben, das dann letztlich gerade ein fremdbestimmtes wäre.

Das Buch ‚Sterbenswille‘ bietet diesbezüglich eine systematische Überprüfung solcher ‚Schiefe-Ebene-Argumente‘ anhand jener Länder, in denen schon ca. zwei Jahrzehnte eine legalisierte Sterbehilfe existiert (Oregon in den USA, Niederlande in Europa). Die Prüfung zeigt, dass diese Kassandrarufe empirisch unbegründet sind.

Auch die häufig behauptete Entgegensetzung von palliativer Versorgung (im Rahmen einer Hospiz-Betreuung) ist empirisch zu widerlegen; im Gegenteil führt eine Legalisierung von Sterbehilfe gerade zu einem Ausbau der palliativen Versorgung. Außerdem sorgt die Zulassung des ärztlich-assistierten Suizids eher zu einer Verbesserung der Arzt-Patient-Relation, nicht zu einer Verschlechterung!

Auf der Grundlage dieser empirischen Ergebnisse und der normativ-philosophischen Rechtfertigung des rationalen Suizids lässt sich sodann auch ein Verfahrensmodell für den ärztlich-assistierten Suizid ableiten. Dabei dürften bestimmte rechtliche Konsequenzen wie die Zulassung des Sterbebeistands durch die Berufsrichtlinien der Ärztekammern sowie die Rezeptierbarkeit des Mittels Natrium-Pentobarbital (Anpassung des Betäubungsmittel-Gesetzes) unstrittig, weil unumgänglich sein.

Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht aber sehr wohl das Recht und die Pflicht des Staates anerkannt, die Bürger/innen vor suizidalen Kurzschlusshandlungen so weit wie möglich zu schützen. Das betrifft in erster Linie den Indikator der Dauerhaftigkeit als willensfreie Stabilität des Suizid-Entschlusses, für die Groeben eine Sterbeverfügung (analog zur Patientenverfügung) vorschlägt.

Besonders kontrovers wird wahrscheinlich diskutiert werden, ob für die Wohlbegründetheit dieses Entschlusses eine Beratungspflicht hinsichtlich möglicher Alternativen einzuführen ist oder (gemäß dem Vorschlag von Groeben) lediglich ein Beratungsangebot.

Schlussendlich impliziert die Einführung des ärztlichen Suizidbeistands zumindest partiell einen Umbau des Gesundheitssystems, insofern es eine Dokumentation bezüglich beistandswilliger Mediziner/innen geben sollte einschließlich deren Rechts, über diese Bereitschaft im Einzelnen zu informieren.

Am Weitestgehenden dürfte allerdings sicher die Antwort von Groeben zur Aufhebung der unsinnigen Entgegensetzung von palliativer Hospizversorgung und Sterbehilfe sein: nämlich dass die Gesellschaft schlicht jedem, der es wünscht, einen Hospizplatz zur Verfügung stellt (in Parallelität zur Garantie eines Kita-Platzes am Lebensanfang).

Fazit: Die differenzierte Argumentation dieses Buches verbindet philosophisch-normative Rechtfertigung mit empirisch-sozialwissenschaftlicher Begründung, um daraus praktisch-moralische Konsequenzen für die Ausfaltung des historischen Bundesverfassungsgerichts-Urteils zum selbstbestimmten Sterben abzuleiten. Damit sind Eckpunkte für einen rationalen Diskurs gegeben, hinter die jede Diskussion im Problembereich der Sterbehilfe nicht mehr zurückfallen sollte!


Norbert Groeben: Sterbenswille. Verteidigung des rationalen Suizids.
Darmstadt: wbg-academic; ISBN 978-3-534-40513-8; 24,- Euro

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Werner Lehr

    Die Argumentation ist nachvollziehbar. Was mich persönlich stört, ist die Ausdrucksweise. Ich habe humanistisches Abitur und ein abgeschlossenes Studium (nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal).
    Aber wenn ich diesen Artikel nicht verstehen kann, ohne viele Begriffe nachzuschlagen, dann muss die Frage erlaubt sein, wer dieses Werk lesen und verstehen will, wenn er nicht einer Schicht angehört, die sich nur mit hochtrabenden Ausdrücken untereinander verständigt.

  2. Rainer Haselberger

    An der Diskussion stört mich die Rolle der Ärzte. Ich habe diesen gegenüber ein gewisses Misstrauen und halte Assistenz beim Suizid nicht für eine ärztliche Aufgabe! Sie ist keine „Heilbehandlung“.
    Die Beschaffung und das Übergeben des tödlichen Medikaments an den Suizidwilligen sollte durch eine Vertrauensperson nach klar definierten Regeln und gut dokumentiert erfolgen, wie man das in der Schweiz und in den NL sehen kann.
    Der Arzt muss unter Umständen bei der Feststellung der Willensfreiheit mitwirken, aber das geschieht im Vorfeld und nicht im Rahmen der Suizidhandlung.
    Wenn der Suizidwillige nicht die ausreichende Dosis des Mittels zu sich nimmt, weil er mittendrin Bedenken hat, ist der Notarzt zu rufen, wie bei jedem Unfall.
    Den Ärzten hier eine Vormundschaft einzuräumen, gibt ihnen eine Macht, die ihnen nicht zusteht!

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