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Tom Wannenmacher
Die verborgene Anziehungskraft
von Verschwörungstheorien
Essay
mit einem Vorwort von Andreas Gradert

Vorwort

Gestern las ich einen ausgezeichneten Artikel Die Psychologie hinter Verschwörungstheorien: Warum Menschen an unlogische Erklärungen glauben von Tom Wannenmacher auf mimikama(1) und bat, den Text auch auf unserem Blog(2) veröffentlichen zu dürfen.

Tom meinte, das sei nicht so gut, und wies auf duplicate content hin, schrieb dann aber im gleichen Atemzug, er wolle uns einen eigenen Beitrag verfassen, bräuchte aber 24h Zeit dafür. Hocherfreut sagte ich zu, und heute erhielt ich ihn – nach 18h!

Für mich steckt in dem Thema viel Herzblut, ich habe nach Nine Eleven schon viele Freunde an das Lager der Verschwörungstheoretiker verloren, und während und nach Covid wurden es mehr und mehr. Das schmerzt, waren es doch wirklich gute und langjährige Freunde, die gingen, oder von denen ich Abstand nahm, nach teilweise 30 Jahren, weil kein Gespräch, keine wie auch immer geartete schriftliche Kommunikation mehr möglich war. Und weil ich mich schützen wollte.

Menschen, die unter solchen Trennungen leiden, geben sich häufig selbst die Schuld an dem Dilemma: Ach, hätte ich doch nur besser erklärt! Den Reflex hatte ich auch, und dabei habe ich die vier Grundregeln über den Umgang mit Desinformation gelesen:

1. Sich selbst gut informieren:
Bevor man das Gespräch sucht, sollte man sich zunächst möglichst kundig machen. Wer die Mechanismen des Verschwörungsglaubens versteht, ist zudem selbst besser vor ihnen geschützt.

2. Sprechen statt schreiben:
Wichtig ist, ein persönliches Gespräch unter vier Augen zu führen. Vor allem zu Beginn des Gesprächs sollte man möglichst eine direkte Konfrontation vermeiden. Denn dadurch könnten sich die Fronten verhärten. Hören Sie sich besser die Aussagen und Behauptungen zunächst in Ruhe an.

3. Fragen stellen, Angebote machen:
Die Gedanken des anderen als abstrus oder reinen Quatsch abzutun, ist nicht zielführend. Auch mit Logik und Fakten kommt man bei Verschwörungstheorien häufig nicht weiter. Offene Fragen zum Verschwörungsglauben führen zumeist eher dazu, dass das Gegenüber seine Gedanken reflektiert.

Empfehlen Sie stattdessen beispielsweise Literatur, Podcasts oder Filme zum Thema, sodass sich der- oder diejenige in Ruhe und allein noch einmal mit dem Thema beschäftigen kann. Das eröffnet die Möglichkeit, Zweifel zuzulassen und gegebenenfalls aus dem Verschwörungsdenken wieder herauszufinden. Bei der nächsten Gelegenheit kann dann noch einmal das Gespräch angeboten werden.

4. Hilfe holen:
Im Einzelfall kann es richtig sein, Hilfe zu holen, beispielsweise wenn Menschen sich oder andere direkt gefährden. Wenden Sie sich dann an Beratungsstellen vor Ort.

Habe ich gemacht, für Punkt 4 das Handbuch zum Umgang mit Verschwörungsmythen von COMPACT gelesen. COMPACT ist eine Comparative Analysis of Conspiracy Theories, dt. Vergleichende Analyse von Verschwörungserzählungen, ein von der EU finanziertes Forschungsnetzwerk, dem 150 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus ganz Europa angehören. COMPACT hat sich mit den Ursachen und Folgen von Verschwörungstheorien befasst.


Tom Wannenmacher: Warum kluge und zuverlässige Menschen sich unlogischen Erklärungen hingeben und wie wir die gesellschaftlichen Folgen bewältigen können.

In den letzten Jahren haben Verschwörungstheorien wie die 9/11-Verschwörung oder die Covid-Verschwörung eine erstaunliche Anziehungskraft auf scheinbar intelligente und vertrauenswürdige Menschen ausgeübt. Aber warum sind solche Theorien so attraktiv, selbst wenn sie offensichtliche Widersprüche und Unlogik aufweisen? Warum glauben Menschen an Verschwörungstheorien?

Kognitive Verzerrungen
Menschen sind anfällig für kognitive Verzerrungen, die ihr Denken und ihre Wahrnehmung der Realität beeinflussen. Eine solche Verzerrung ist die sogenannte Bestätigungs-Bias, bei der Menschen dazu neigen, Informationen zu suchen, zu interpretieren und sich zu merken, die ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen. In Bezug auf Verschwörungstheorien führt dies dazu, dass Menschen selektiv Informationen aufnehmen und alternative Erklärungen ablehnen, die nicht in ihr Weltbild passen.

Die Rolle der Unsicherheit
In einer Welt voller Unsicherheiten und komplexer Zusammenhänge suchen Menschen nach einfachen Erklärungen und Mustern, um mit diesen Unsicherheiten umzugehen. Verschwörungstheorien bieten oft einfache, wenn auch unlogische Erklärungen für komplexe Ereignisse und Situationen, was sie attraktiv macht. Sie geben den Menschen das Gefühl, die Welt und ihre Abläufe zu verstehen und vermitteln ihnen dadurch ein gewisses Maß an Kontrolle und Sicherheit.

Soziale Identität und Gruppenzugehörigkeit
Menschen sind soziale Wesen, die sich in Gruppen organisieren und eine starke Bindung zu diesen Gruppen empfinden. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die an eine bestimmte Verschwörungstheorie glaubt, kann das Zusammengehörigkeitsgefühl und die gemeinsame Identität stärken. Die Ablehnung der vorherrschenden Meinung und das Teilen alternativer Ansichten können als Zeichen der Loyalität und des Engagements für die Gruppe angesehen werden.

Die Rolle des Internets und sozialer Medien
Das Internet und die sozialen Medien haben die Verbreitung von Verschwörungstheorien und die Bildung von Gruppen, die diese Theorien unterstützen, erleichtert. Die Algorithmen der sozialen Medien fördern häufig Echokammern und Filterblasen, in denen Menschen nur Informationen und Meinungen ausgesetzt sind, die ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen. Dies verstärkt die Bestätigungsverzerrung und erschwert es, alternative Sichtweisen zu erkennen und zu akzeptieren.

Die Anziehungskraft auf Intellektuelle
Verschwörungstheorien können besonders für intellektuelle und gebildete Menschen attraktiv sein, da sie oft eine Art Insiderwissen suggerieren. Diejenigen, die an Verschwörungstheorien glauben, können sich als Teil einer Elite fühlen, die die Wahrheit erkannt hat, während der Rest der Gesellschaft unwissend bleibt. Dieses Gefühl der Überlegenheit kann für intelligente und vertrauenswürdige Menschen verführerisch sein.

Kritische Denkfähigkeiten und Skepsis
Einige intelligente und vertrauenswürdige Menschen verfügen über eine ausgeprägte Fähigkeit zum kritischen Denken und zur Skepsis gegenüber etablierten Autoritäten. Obwohl diese Eigenschaften im Allgemeinen als positiv angesehen werden, können sie, wenn sie unangemessen eingesetzt werden, zu einer übermäßigen Ablehnung von Expertenmeinungen und zu einem verstärkten Glauben an Verschwörungstheorien führen.

Emotionale Anfälligkeit
Menschen, auch die intelligentesten und zuverlässigsten, sind emotionale Wesen, die aufgrund von persönlichen Erfahrungen, Stress oder Ängsten anfällig für unlogische Überzeugungen sein können. In Zeiten großer Unsicherheit oder Angst, wie z.B. während der Covid-Pandemie, können Verschwörungstheorien ein Weg sein, mit diesen negativen Emotionen umzugehen und eine scheinbare Kontrolle über die Situation zu erlangen.

Die Polarisierung der Gesellschaft
Die zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien trägt zur Polarisierung der Gesellschaft bei, indem sie die Bildung von Gruppen mit gegensätzlichen Weltbildern fördert. Diese Polarisierung kann zu Konflikten, Misstrauen und einer Abnahme des sozialen Zusammenhalts führen.

Die Erosion des Vertrauens in Institutionen
Der Glaube an Verschwörungstheorien untergräbt das Vertrauen in Institutionen wie Regierungen, wissenschaftliche Einrichtungen und die Medien. Dies kann dazu führen, dass die Menschen weniger bereit sind, auf offizielle Informationen und Expertenmeinungen zu hören, was wiederum die Fähigkeit der Gesellschaft beeinträchtigt, auf gemeinsame Herausforderungen zu reagieren.

Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit
Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit Gesundheitsfragen, wie z. B. Covid, können erhebliche Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben. Sie können dazu führen, dass Menschen sich weigern, sich impfen zu lassen, die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Eindämmung von Infektionen anzuerkennen, da sie wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen. Dies kann die Ausbreitung von Krankheiten begünstigen und die Bemühungen zur Eindämmung von Pandemien erschweren.


Fazit:
Die Attraktivität von Verschwörungstheorien für intelligente und vertrauenswürdige Menschen kann auf eine Reihe psychologischer Mechanismen zurückgeführt werden, darunter kognitive Verzerrungen, das Streben nach Sicherheit, soziale Identität und Gruppenzugehörigkeit sowie die Rolle des Internets und der sozialen Medien. Um wirksame Strategien zur Bekämpfung von Verschwörungstheorien und ihren negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft zu entwickeln ist es wichtig, die Mechanismen dahinter zu verstehen.


Ansätze zur Bekämpfung von Verschwörungstheorien

Bildung und Aufklärung: Eine gut informierte Bevölkerung ist weniger anfällig für unlogische Erklärungen. Bildung und Aufklärung können dazu beitragen, kritisches Denken und die Fähigkeit, Informationen aus verschiedenen Quellen zu bewerten und zu hinterfragen, zu fördern.

Faktenchecks und Transparenz: Die Bereitstellung von Faktenchecks und transparenten Informationen kann dazu beitragen, Fehlinformationen und Verschwörungstheorien zu entlarven. Medien und Regierungen sollten sich bemühen, klar und verständlich zu kommunizieren und ihre Entscheidungsprozesse offen zu legen.

Empathie und Dialog: Es ist wichtig, Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, nicht zu stigmatisieren oder abzustempeln. Stattdessen sollte ein offener und einfühlsamer Dialog gefördert werden, um Verständnis und gemeinsame Grundlagen zu schaffen.

Regulierung sozialer Medien: Die Regulierung von Social-Media-Plattformen kann dazu beitragen, die Verbreitung von Fehlinformationen und Verschwörungstheorien einzudämmen. Dazu gehört die Identifizierung und Entfernung gefährlicher Inhalte und die Förderung von Vielfalt und Pluralismus bei den Informationsquellen, denen die Nutzer ausgesetzt sind.

Indem wir die Gründe für den Glauben an Verschwörungstheorien verstehen und angehen, können wir dazu beitragen, die negativen Auswirkungen solcher Theorien auf unsere Gesellschaft zu verringern. Es ist wichtig, dass wir zusammenarbeiten, um den Verlust intelligenter und vertrauenswürdiger Menschen an die Welt der Verschwörungstheorien zu stoppen und eine informierte, rational denkende und zusammenarbeitende Gesellschaft zu fördern.


Tom Wannenmacher: Kreativdirektor des Vereins Minikama zur Aufklärung von Internetmissbrauch

Andreas Gradert: Präsident des Humanistischen Verbands Österreich

(1) Mimikama ist ein 2011 durch Tom Wannenmacher gegründeter österreichischer Verein mit dem Ziel der Aufklärung über Internetmissbrauch. Er wurde vor allem durch seinen Facebook-Account ZDDK (zuerst denken – dann klicken) bekannt, der im August 2020 rund 680.800 Abonnenten hatte. (Wikipedia)

(2) Der Humanistische Verband Österreich (HVÖ) ist eine österreichische säkular-laizistische Freidenkerorganisation. Er hat seinen Sitz in Wien und wurde 1978 unter dem Namen Freidenkerbund Österreich gegründet. Auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung am 30. Juni 2018 wurde die Umbenennung von „Freidenkerbund Österreich“ in „Humanistischer Verband Österreich“[2] mit erweiterten Schwerpunkten, Zielen und Tätigkeiten beschlossen.

schoepfblog zur Verfügung gestellt von Andreas Gradert und Tom Wannemacher. Wir danken herzlich.


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