Ronald Weinberger
Reise-Impressionen: China, Taiwan, Singapur
4. Streifzüge durch das ländliche China
Beginnen möchte ich mit ein paar Hinweisen auf Naturschönheiten der Sonderklasse, die bei einer angemessen langen Chinareise keinesfalls ausgelassen werden sollten. Ich wähle drei aus relativ vielen, die auf mich bleibenden Eindruck machten.
Die in China vielleicht schönste Landschaft – nach Meinung der Chinesen und ebenso nach meiner Meinung – findet man in der Südprovinz Guangxi. Die Gegend schlechthin für Hochzeitsreisen halbwegs finanziell solventer Inländer! Da kann man Ausflugsschiffe besteigen und für Stunden am Fluss Li („Li Jiang“) entlanggleiten. Geben Sie in Google die drei Worte li jiang karst ein und genießen Sie, als Vorgeschmack auf eine eventuell geplante Reise dorthin, die Bilder einer Landschaft aus zahllosen kegelförmigen Karstbergen, von denen zudem etliche, als Innenleben, zum Teil ausgedehnte und begehbare Höhlen aufweisen. Schööön!
Wem diese Landschaft zu lieblich wäre und wer etwas zugleich für das Auge und die körperliche Fitness tun möchte, der wäre mit dem Huang Shan Gebirge („Gelbe Berge“) bestens bedient. Es liegt im Süden der Provinz Anhui, besteht aus weniger gelbem, eher rotem Granit, und ist derart anmutig, dass es seit alters her eines der bevorzugten Malmotive chinesischer Künstler ist. Teile des in Bezug auf Einspielergebnisse weltweit erfolgreichsten Kinofilms, nämlich „Avatar“, wurden dort gedreht. Dieses bis zu 1864 m Seehöhe aufragende Gebirge ist mittels Abertausender Steinstufen erschlossen – und von so manchem Wanderweg vermag man in schauderhaft tiefe Schluchten zu blicken, so man nicht von Schwindelgefühlen erfasst wird. Ich wurde das ab und zu, denn obwohl diese Wege gut gesichert sind, reichen die Begrenzungsmäuerchen oder Drahtseile maximal in Hüfthöhe eines normal großen Chinesen. Ich, mit meinen 190 cm Körperlänge, hatte bisweilen die Befürchtung, sollte ich stolpern, würde ich über so eine Begrenzung purzeln.
Für Bergbegeisterte und ästhetisch Angehauchte ein Muss ist sodann die Zhangjiajie-Bergregion in der Provinz Hunan. Ähnliches habe ich nirgendwo auf der Welt gesehen: Zahlreiche, oftmals mehrere hundert Meter hohe schmale Felssäulen, die längste (430 m lang und bis zu 260 m über Grund) Glasboden-Brücke der Welt zwischen zweien solcher Felstürme, der mit 326 Meter längste, genauer gesagt höchste, mit Glaselementen ausgestattete Lift der Welt außen und zum Teil im Inneren eines solchen Felsenturms, unzählige Wandermöglichkeiten. Kein Wunder, dass für den oben erwähnten Film „Avatar“ auch hier Filmaufnahmen getätigt wurden.
Bleibt mir noch, eine Warnung auszusprechen: Besuchen Sie die drei genannten Naturschönheiten nie an einem Wochenende! Außer Sie lieben es, sich entlang der Wanderwege innerhalb einer kaum enden wollenden Menschenschlange vorwärts zu bewegen, oder sich am Fluss Li in einer Menschentraube auf den Ausflugsschiffen wiederzufinden.
Folgen Sie mir bitte jetzt in bäuerliche Gefilde! Ende 2019 lebten, laut statistischen Angaben, noch circa 550 Millionen Chinesen in ländlichen Regionen. Alleine von den Hochgeschwindigkeitszügen aus, die namentlich Mittel-, Ost- und Südchina in einem dichten Streckennetz überziehen, erhält man durchaus Einblicke in nicht nur städtische Strukturen, sondern auch in das Aussehen zahlloser Dörfer.
Diese An- und Einblicke sind in der Regel ernüchternd. Von „schmucken“ Dörfern kaum eine Spur. Zumeist erblickt man aus gebrannten Ziegeln beziehungsweise Betonsteinen errichtete maximal einstöckige schlichte Gebäude. Manche Touristen werden korrekt gemutmaßt haben, was denn die oft mitten in Feldern etwas außerhalb der Dörfer gelegenen, ein paar Meter großen und maximal etwa 2 m aufragenden, teils mit farbigen Stoffen oder Blumen mehr schlecht als recht verzierten Erdaufschüttungen darstellen. Es handelt sich um die Bestattungsörtlichkeiten der einzelnen Familien, denn Dorf-Friedhöfe in unserem Sinn gibt es höchst selten. Diese Art der Beisetzung, sagte man mir, sei längst verboten. Bloß: In nicht wenigen Dörfern ist der Arm des Gesetzes weit weg, und die Dörfler seien nicht selten ohnehin ein renitenter, lauter und rasch protestierender Menschenschlag, der sich von oben erlassenen Direktiven nur unter großem Druck beugt.
Insbesondere ein Dorf habe ich bis zu einem gewissen Grad haut- und lebensnah kennengelernt. Eines, das ich bislang dreimal besucht habe, das in einem lichten Wäldchen liegt, für ein paar hundert Menschen Heimat ist, sich in der Nord-Ost-Ecke der Provinz Anhui befindet, und für meine Frau von Bedeutung war und ist. Es ist der Geburtsort ihres Vaters.
Als ich dieses Dorf, vor ungefähr einem Vierteljahrhundert, mit meiner Frau zum ersten Mal besuchte, hatte ich für einen kurzen Moment den Eindruck von einer ländlichen Idylle: Lehmige, damals trockene Dorfstraßen, unzählige, fast immer von grünem Zeug (Wasserlinsen, Algen?) bedeckte Teiche, frei herumlaufende Zwergziegen, Schafe und Geflügel, einfache aus Betonsteinen zusammengefügte erdgeschoßige Hütten – und eine umfangreiche Verwandtschaft meiner Frau in einfachen Kitteln, die uns herzlich und außerordentlich lautstark begrüßte.
Nach wenigen Minuten zeigte man uns eine technische Errungenschaft, die für diese Großfamilie von offensichtlich herausragender Bedeutung war und die man ein Jahr zuvor erhalten hatte: Eine mit einem Schwengel versehene einfache Wasserpumpe, mit der man Grundwasser heraufpumpen konnte. Woher das Wasser zum Kochen und Wäschewaschen bislang kam? Man schöpfte es aus den Teichen. Elektrischer Strom? Fehlanzeige. Wasserleitung? Fehlanzeige. Kanalisation? Dito. Senkgrube, um den menschlichen Kot usw. zu deponieren? Dito. Man nahm eine Schaufel, ging hinters Haus, immer an eine andere Stelle, und…
Etwa 15 Jahre später Besuch Nummer zwei. Fast alle Teiche waren komplett ausgetrocknet, die Tiere, außer dem Geflügel, verschwunden. Elektrischer Strom war jetzt aber vorhanden. Sonst alles wie früher, außer dass die Bauern begonnen hatten, ihr Gemüse und Obst gewinnbringend in einer nahen, rasch gewachsenen Stadt, zu verkaufen. Es ginge ihnen viel besser als früher, sagten sie.
Vor etwa sechs Jahren mein dritter und vorläufig letzter Besuch. Die Straßen endlich asphaltiert, eine Wasserleitung und Kanalisation vorhanden? Nein! Aber bessere Kleidung, und: Ein neues, schick aussehendes, zweistöckiges Haus stand da (ohne Wasserleitung, ohne Kanalisation, soll heißen: ohne Badezimmer und Toilette!), kurz vor dem Einzug der künftigen Bewohner. Stolz erzählte man uns, mehrere Junge aus dem Dorf würden nun höhere Schulen besuchen können, und überhaupt ginge es ihnen ungleich besser als früher, man sei größtenteils zufrieden.
Nun will ich noch ein wenig ins Private abdriften. Wie konnte bloß mein Schwiegervater, der eine Militärakademie besucht hatte, junger Offizier unter Chiang-Kai-shek war (und es in Taiwan zum Rang als Oberst und zum Universitätslehrer gebracht hatte) diesen mittelalterlich-primitiven Verhältnissen entkommen? Weil er bereits als Kind sehr gute Schulleistungen zeigte, worauf die Dorfgemeinschaft zusammenlegte und ihm den Besuch einer besseren Schule ermöglichte, wo er erneut brillieren konnte.
Jahrzehntelang war dann keinerlei Kontakt mit seinen Verwandten möglich. Als er, als alter Mann, auf Schleichwegen, anfangs via Hongkong, in sein Dorf zwecks Besuch zurückgekehrt war, musste er erfahren, dass der Vater längst tot und die Mutter und zwei seiner Brüder elendiglich verhungert waren – eine Folge des „Großen Sprungs nach vorn“, den der von den westlichen 1968er-Studenten verherrlichte Mao den Dorfbevölkerungen Chinas 1958 – 1961 aufoktroyiert hatte und der nach heutigen Schätzungen 15 bis 55 Millionen Hungertote gefordert hatte. Diese „Heimkehr“, die ganz anders verlaufen war, als er sich erträumt hatte, führte nicht lange nach seiner Rückkehr nach Taiwan zu einem Schlaganfall, von dem er sich nie mehr erholen sollte.
Zurück zum Allgemeinen: Sehr viele chinesische Dörfer werden zurzeit, in einem Langzeitprojekt, geschliffen und die Bevölkerung in eigens neu errichtete Städte umgesiedelt, wo sie unter modernen hygienischen und insgesamt besseren Verhältnissen zu sehr geringen Mietkosten leben können. Wohl finden sie entweder dort Arbeit oder dürfen, falls sie dies wünschen, ihre Felder noch weiterhin bestellen, aber der dörfliche Zusammenhalt ist dadurch verloren, was – wie uns ein Taxifahrer erzählte – zu einigem Murren, aber keiner Auflehnung der (ehemaligen) Landbevölkerung Anlass gab. Auf diese Weise möchten die chinesischen Kommunisten bis zur 100-Jahr-Feier ihrer Machtübernahme (2049) ihre Bevölkerung weitgehend „in das 21. Jahrhundert geführt“ haben.
Das Ihnen von mir so ausführlich geschilderte Herkunftsdorf meines (nach 12 Jahren im Wachkoma verstorbenen) Schwiegervaters soll übrigens in einigen Jahren „dran“ sein.
In der nächsten und letzten Folge will ich Ihnen, auf eine eher ungewöhnliche Weise, Taiwan und Singapur näherbringen.
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