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Ronald Weinberger
Gehirnakrobatik vom Feinsten
Essay

Citius, altius, fortius (schneller, höher, stärker bzw. weiter)

Diesem traditionellen, vor genau 130 Jahren vorgeschlagenen Motto der Olympischen Spiele – seit 3 Jahren durch communiter (gemeinsam) ergänzt – wird im Juli/August in Paris ausführlich gehuldigt werden. Unzweifelhaft wird viele Male das Dabei sein ist alles beschworen und die Rolle der Olympischen Spiele als nationenübergreifendes Projekt eines friedlichen Miteinanders gerühmt werden. 

Allein, derlei Beschwörungsformeln sind bloß Tünche, welche die wahre Natur der Veranstaltung überdeckt: beinharter Wettbewerb, ein gigantisches ökonomisches und mediales Spektakel.

Millionen werden sich enthusiasmiert fühlen, falls eine(r) aus ihrem Land 1 cm höher hüpft, weiter springt oder eine Zehntelsekunde schneller rennt als alle anderen – und sollten gar Weltrekorde purzeln, wird die Begeisterung grenzenlos sein und der/die Olympiasieger/in wird wirtschaftlich und in Bezug auf seine/ihre gesellschaftliche Stellung ausgesorgt haben. 

Dass die körperlichen Leistungsgrenzen des Menschen bereits zur Gänze oder beinahe ausgereizt sind und zukünftige Olympische Spiele und neue Athleten kaum noch neue Rekorde liefern werden, wird allzu gerne verdrängt, was aber auch bedeutet, dass der obgenannte Spektakelcharakter immer stärker dominieren wird. Panem et circenses im weitesten Sinne, nichts anderes. So ticken wir.

Die Überbewertung körperlichen Könnens im Sinne physischer Leistungsfähigkeit ist mir ein Dorn im Auge. Sport ist unbestritten vorteilhaft für Körper und Geist, und das Mens sana in corpore sano gilt; freilich sehe ich es partout nicht ein, dass geistige Hochleistungen bei weitem nicht jene öffentliche, vor allem mediale Anerkennung finden wie es physische vermögen. Nun kann man einwenden, dass Einstein durchaus ein Medien-Star war, aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel.

Um mich noch klarer zu positionieren: Meine Überlegungen sollen ein wenig dazu beitragen, sich zumindest darüber zu wundern, was auch geistig an Superleistungen möglich ist – und wenn dann nach meiner Schilderung insbesondere eines geistig höchst ungewöhnlichen, ja extrem herausragenden Menschen eine namhafte Prise Wertschätzung aufkommt, umso besser. Kurz: Ein sich in große Höhen emporschwingender Geist sollte meines Erachtens als ungleich bedeutsamer als ein auf Höchstleistungen getrimmter Körper angesehen werden.

Als Einstimmung auf das Kommende zuerst ein kräftiger Schuss Persönliches: Ein Exemplar wie ich, das man nach den obigen Zeilen verdächtigen könnte, Anhänger des Winston Churchill zugeschriebenen (in Wirklichkeit angedichteten) Ausspruchs No Sports zu sein, und das sich tatsächlich weitgehend von jeglichem halbwegs anstrengenden Sport fernhält, wird – denken Sie womöglich – über einen ähnlichen Körperbau wie jener verfügen, zumindest aber einen, nach ostösterreichischer Sprechweise Backhendlfriedhof vor sich hertragen bzw. Gössermuskeln entwickelt haben und folglich jeglichem Sport abhold sein.

Ätsch, falsch eingeschätzt! Ich esse zuweilen wie ein Scheunendrescher, liebe Süßes, habe in meinem langen Erwachsenen-Dasein nie auf mein Gewicht geachtet, achten müssen, und darf Ihnen meine Statur kurz vorstellen: Spargelartig, 190 cm lang und 88 +/- 2 kg leicht, seit vielen Jahrzehnten, mit einem Aussehen nicht unähnlich dem eines typischen Läufers (dabei verabscheue ich in praxi das Laufen und Joggen, gehe andererseits aber gerne und nehme jede Woche brav an einem Seniorenturnen teil), dem allerdings der nie existent gewesene Laufwind (eher sind’s jedoch die Gene) die weitaus meisten Haare vom Kopf geblasen hat.

Nun aber in medias res. In dem häufig als schwäbische Hauptstadt apostrophierten Stuttgart findet sich seit einer Reihe von Jahren einmal jährlich ein Kuratorium plus Beirat ein, um für eine von einem längst verstorbenen Ehepaar gegründete, gut dotierte Stiftung für ideologiefreie Wissenschaft passende Vortragende und Preisträger zu eruieren, zu diskutieren und die geeignetsten davon einzuladen. 

Ich habe die Ehre, seit etlichen Jahren Mitglied des Beirats zu sein – und vor wenigen Jahren war ich zum ersten Mal über den Vorsitzenden des Beirats erstaunt. Wie das? Gegen Ende der Sitzung wies unser Präsident nämlich darauf hin, wir mögen nun bitte doch festlegen, auf welches Datum der erste Montag im Mai folgenden Jahres falle – und deutete mit dem Kopf in Richtung des Vorsitzenden, der dann wie aus der Pistole geschossen die Antwort gab. Im nächsten Jahr schlug selbiger Vorsitzende in prägnant formulierten Sätzen vor, er hätte einen Kandidaten in petto, den er aus seinen Mensa-Kreisen kenne. (Einschub: Mensa International ist die älteste und bekannteste Hochbegabten-Vereinigung und umfasst Personen, die nachweislich zumindest einen Intelligenz-Quotienten von 130 aufweisen, den nur etwa 2 % der Weltbevölkerung haben). Die Bemerkung ließ mich aufhorchen, aber ich machte mich vorerst nicht weiter kundig.

Bei der heurigen Mai-Sitzung wurde ich allerdings plötzlich davon elektrisiert, als gewisse statistische Überlegungen thematisiert wurden, und der Vorsitzende blitzschnell Resultate lieferte. Nach meiner Rückkehr aus Tirol gab ich, neugierig geworden, seinen Namen ins Internet ein und fand, vor allem im Wikipedia-Beitrag über ihn, höchst Erstaunliches. Da ist von einem Weltrekordler die Rede, einem Großmeister, einem vielfachen Goldmedaillengewinner im Kopfrechnen bei der Mind Sports Olympiad. Und weiters, dass dieser Herr zusätzlich zu seinem Diplom in Informatik zwei Doktorgrade innehat. Und von vielerlei anderem überaus Bemerkenswertem. In meinen Augen also ein Genie!

Eines ist klar: Der Mann ist keiner der berühmt-berüchtigten sogenannten Inselbegabungen, sondern ein weitgeistiger Überflieger par excellence, d.h. ausgestattet mit einer Gehirnakrobatik vom Feinsten. Nun habe ich, der ich mich lange genug im universitären Ambiente habe tummeln dürfen, auf eine Anzahl hochgebildeter und hochintelligenter Menschen treffen können, aber auf eine Person wie ihn stieß ich vermutlich noch nie. Wie muss das Gehirn eines solchen Menschen beschaffen sein?

Bei Untersuchungen des („gestohlenen“ – wussten Sie das?) Gehirn Einsteins fand man ungewöhnliche Strukturen, vor allem überdurchschnittlich große Scheitellappen. Was wird wohl bei einem menschlichen Wesen, das – laut dem oben erwähnten Wikipedia-Beitrag – unter anderem in 13,3 Sekunden die 13. Wurzel aus einer hundertstelligen Zahl zu ziehen vermag, biologisch verschieden von den Gehirnen von uns Normalsterblichen sein? Täte mich brennend interessieren.

Man, sprich gewisse Forscher, könnte(n) angesichts der rasanten Fortschritte auf vielen Gebieten auf die Idee kommen, mehrere wahrscheinlich bereits in den Genen angelegte Sonderbegabungen zu kombinieren und in Zukunft eine Art biologischen Übermenschen (Homo superior, aber weniger den so in der Philosophie genannten) zu schaffen. Eine Horrorvorstellung!? Wird sich aber nicht spielen, meine ich, denn die KI-Forschung ist drauf und dran, einen mehr als vollwertigen Ersatz dafür zu kreieren.

Zurück zu Geist und Körper. Es ist anzunehmen, dass trotz einer in den Genen und dann im Gehirn angelegten biologischen Sonderausstattung unentwegtes Training vonnöten ist, um geistige (physische ohnehin) Höchstleistungen zu erzielen bzw. aufrechtzuerhalten. Hier schließt sich also der Kreis – und ich moniere erneut, weshalb etwa in den Medien dem Körper-Sport derart viel (m. E. viel zu viel) Platz eingeräumt wird, dem Geistes-Sport und den Geistesfähigkeiten indes so wenig. 

Das sollte sich ändern – wird sich aber in absehbarer Zeit nicht. Zu unheimlich, zu unverständlich sind und bleiben nämlich dem Volk die Geistesakrobaten. Schade.

Das Unheimliche derartiger Provenienz ist freilich auch mir nicht ganz fremd. Wenn ich nächstes Jahr, meinem letzten im Beirat, in Stuttgart erneut an der Seite des Herrn zu sitzen komme, will ich mich trotz meiner nunmehrigen Kenntnisse über ihn bemühen, keine Anflüge von Minderwertigkeitskomplexen zu entwickeln und schon gar nicht zu zeigen. Der wird doch auch irgendwelche nennenswerte Defizite haben. Hoffe ich zumindest …

Weiterführende Informationen: Gert Mittring – Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Gert_Mittring

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Ronald Weinberger

Ronald Weinberger, Astronom und Schriftsteller, 1948 im oberösterreichischen Bad Schallerbach geboren, war von 1973 bis 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Von 1977 bis zum Pensionsantritt im Dezember 2011 war Weinberger an der Universität Innsbruck am Institut für Astronomie (heute Institut für Astro- und Teilchenphysik) als Fachastronom tätig. Als Schriftsteller verfasst Weinberger humorvolle Kurzgedichte und Aphorismen, aber auch mehrere Sachbücher hat er in seinem literarischen Gepäck: Seine beiden letzten Bücher erschienen 2022 im Verlag Hannes Hofinger, im Februar das mit schrägem Humor punktende Werk "Irrlichternde Gedichte" und im September das Sachbuch „Die Astronomie und der liebe Gott“ mit dem ironischen, aber womöglich zutreffenden, Untertitel „Sündige Gedanken eines vormaligen Naturwissenschaftlers“.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Reinhard Kocznar

    orandum est… erinnere ich mich vor Jahrzehnten im Liber Latinus gefunden zu haben.

  2. Susanne Preglau

    Zum Zitat „Mens sana in corpore sano“ habe ich in Wikipedia Folgendes gefunden:
    „Mens sana in corpore sano“ ist eine lateinische Redewendung. Sie bedeutet „ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“. Die Redewendung ist ein verkürztes Zitat aus den Satiren des römischen Dichters Juvenal (1./2. Jahrhundert). Wörtlich heißt es in Satire 10, 356: […] orandum est ut sit mens sana in corpore sano. „Beten sollte man darum, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sei.“

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