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Regina Hilber
Apopemptikon und Propemptikon
Ein Essay über
die ZWEI.
Oder:
Die Paare nehmen Aufstellung
2. Teil

1. Teil:
https://schoepfblog.at/regina-hilber-apopemptikon-und-propemptikon/

 

Das Paar als 1 Autorität

Auch Kriege schweißen zusammen (Variante: Kriege schweißen auch zusammen). Alice B. Toklas und ihre Lebensgefährtin Gertrude Stein dürfen als zusammengewachsenes Paar, das sowohl den Ersten als auch den Zweiten Weltkrieg in Frankreich erlebte, als 1 Autorität auftreten, damit sie an dieser Stelle wiederum eine Paarung bilden können mit ihrem geliebten, hochgeschätzten Vehikel, Tante Pauline (kurz: Auntie) (1) genannt.

Für den American Trust for French Wounded transportierte das illustre Paar während des Ersten Weltkrieges medizinische Hilfsgüter von A nach B (Maulschelle) in ihrem eigenen (und ersten) Auto, einem T Ford – zu einem Zeitpunkt also, an dem das Lenken eines Autos ein absolutes Novum darstellte.

Auntie mutierte schnell zur unentbehrlichen Errungenschaft für die beiden. Ein ganz neues Spektrum an Freiheitsgefühl, gepaart mit bis dato ungeahnten Annehmlichkeiten im Alltag, offerierte ihnen die Fortbewegung mit dem robusten, aber sperrigen Automobil. Das Gespann Alice-Getrude verschmolz mit dem Vehikel zu einem echten Vorzeigepaar. Später, als Auntie nur noch den Autofriedhof ansteuerte, kam Lady Godiva (das neue Fahrzeug) ins Spiel.

„Gertrude war kein versierter, aber ein verantwortungsbewusster Chauffeur“, schreibt Alice B. Toklas später.
„Sie konnte alles, nur nicht zurücksetzen.“(2)

In Alice B. Toklas Kochbuch finden sich nicht nur (heute kaum nachkochbare Rezepte – wer will schon acht Tauben für ein Abendessen rupfen?) aus dem frühen 20. Jahrhundert, vielmehr führt die Autorin ein loses Journal durch Frankreich und die USA und adelt die darin beschriebenen Begegnungen mit berühmten wie berüchtigten Persönlichkeiten mit kulinarischen Köstlichkeiten, die dabei kredenzt wurden.

Gegessen wie getrunken wurde viel. Zu Kriegs- und Nachkriegszeiten griffen Gertrude und Alice, die wie viele andere Zeitgenossinnen notgedrungen zu erstaunlich erfinderischen Strateginnen mutierten, zu unorthodoxen Maßnahmen. Nicht wegzudenken bei den halsbrecherischen Beschaffungsaktionen war Gefährt wie Gefährte Auntie.

Apopemptikon I – Fort Model T an die Autobesitzerinnen:

Liebe Gertrude, erschrocken unerschrockene Chauffeurin, die den Rückwärtsgang nicht bedienen kann, liebe Alice als tapfere Beifahrerin, ich stelle hiermit meine Dienste ein. Adieu!

Propemptikon I (als Kopfgeburt):

Ein Schreck ist ein Schreck ist ein Schreck. Wir müssen telegraphieren! Dringend! Man sehe sich die fünf Perlhühner in der Kiste an. Die werden schon ganz grau. In Notzeiten hast du bewundernswert die Richtung gehalten, Pauline, blicken wir nach vorn: In der Werkstatt in Gimont soll man dich in alle Einzelteile zerlegen. Das eisenhaltige Gestänge werde Gaspard zur Einschmelzung nach Toulouse verbringen. Für zwei bis drei einläufige Schrotflinten sollte das reichen.

Ein neues Gefährt werden wir uns anschaffen das uns stets vorwärts bringen wird, aber niemals zurückgesetzt werden muss in engen Kurven oder abschüssigen Einfahrten. Wir werden es Lady Godiva nennen und heute Abend, sofern wir jemals aus diesem gottverlassenen Nest wieder herauskommen, werden wir auf dich, liebe Auntie, anstoßen mit einem Dubliner Kaffee James Joyce aus irischem Whiskey, Zucker und Sahne. Wir schütteln dich – wir selbst rühren uns jedoch nicht von der Stelle.

 

Propemptikon I (als Gedicht):

ein Schreck ist ein Schreck ist ein Schreck
Telegramm
Telegramm
fünf Perlhühner in der Kiste
                      grau gram in der Ecke
Auntie in Notzeiten – gestern wars
Eisen Schrot Schrott nochmal Eisen
bei Louis in Gimont alles in Splitter

fort Auntie fort Ford T
verschmolzen in Toulouse
einläufig zurück
die Eins, die Zwei, die Drei
                       we are saved

Irish Whiskey mit Zucker und Sahne
Telegramm
Telegramm
drei Perlhühner in der Kiste
                        illegal

 

Ich kann es nicht und kann es doch

Wie ein fiktiver Maxim Biller ganz unglücklich (aber fiktiv) das Bad ausschüttet über Péter Nádas´ umfangreichen Roman Parallelgeschichten.(3)

Jahrhundertbuch, Weltroman, eine der großartigsten Zumutungen der neuesten Literatur oder Mammut-Roman sowie den wohl längsten Fick der Weltliteratur – Péter Nádas´ Werk Parallelgeschichten wurde im Feuilleton einiges attestiert, während Maxim Billers Biografie (4) weit weniger wohlwollend besprochen, um nicht zu sagen, verrissen, wurde.

Fact in Fiction. Auf Grundlage meiner bruchstückhaften Lektüreerinnerungssplitter sowie eigenmächtiger Schreiblust führe ich die Autoren ins fiktive Paarlaufen, die beiden Akteure dabei munter begaffend. Eine sadistische Ader übernimmt die Regie.

Maxim Biller an Péter Nádas – (fiktives) Apopemtikon II:

Und wie ich es kann! Ich gehe (und das Gehen liegt mir seit meiner Geburt). Ich trete bereits vor dem Morgenappell hinaus auf den Hof, bevor auch nur ein halber Ton die frühe Stunde zerschneiden kann.

Das literarische Quartett ist ohne mich ein Kaffeekränzchen. Sieh dir diese Westermann an, wie sie am Brillenbügelende nagt wie ein hilfloses Hörnchen, dessen Gattung bereits ausgestorben ist. Nicht einmal ein Kind möchte auf es drauftreten.

Auf zweifacher Bibellänge legst du die Parallelgeschichten an und hast doch viel weniger zu sagen als ich auf achthundertneunzig Seiten. Halbe, halbe? Punktum. Als ob es in Prag keine prachtvollen Bäder gäbe, wo du deinen Arsch rausstrecken könntest! Gevögelt wird da und dort – aber so ohne Witz? Ich verlasse diese Schiene, die entlang zu schreiten sich nicht lohnt. Mit sechs Koffern (5) werde ich dabei sein. Du verstehst.

Péter Nádas an Maxim Biller – (fiktives) Propemptikon II:

Deine zwei fiktiven Ichs in Biografie – Soli und Noah – welcher von beiden warst du mehr gewesen bzw. bist es immer noch? Wohin zieht es dich und wozu?
Gegen meine tausendsiebenhundertsechsundzwanzig Seiten kommt dein schmaler Band (achthundert Seiten) nicht an. Seien wir doch ehrlich, wenn ich deine beiden Alter-Egos Soli und Noah, von denen du behauptest, sie stünden für zwei eigenständige Protagonisten, als EIN Alter-Ego zusammenführte – ja – was bliebe dann noch übrig von deiner Biografie?

Ein Roman in Normallänge! Ich sehe das gelassen vom Schwanzende eines Gesättigten aus betrachtet. Mit meinen Parallelgeschichten habe ich alles gesagt, was ich zu denken und zu schreiben noch vermochte. Es ist getan. Wenn einer getrost bleiben kann, in Budapest, in einer angestaubten Altbauwohnung mit Blick auf das Gellértbad, so werde ich dieser jemand sein.

Ich belasse es dabei. Übergangslos.

 

Post von Elsa

Apopemptikon III:
Gedicht von Elsa von Freytag-Loringhoven

Schwanzende eines Fehlers: Amerika (6)

Ein Ende im Anfang

Unendlich ließen sich derlei Konstellationen fortsetzen. Wo ist die Zwei verblieben? Milchshake als Kitt. Jetzt auch mit Mandelmilch, dieser scheinheilige Milchersatz, der die Gastronomiewelt verseucht. Kollege XY und ich haben zuletzt im simply raw den Kaffee mit Mandelmilch ausgiebig beweint. Von Verschandelung war da die Rede gewesen. Das Schwanzende der Zwei markiert vielleicht ausschließlich ein Surrogat bzw. eklektizistische Einschübe, die nicht an das Original heranreichen.

Genug der Zwei, genug der dualistischen Begriffspaare, der Aufzählungen, Antagonismen, Polaritäten. Schluss mit Zufall & Folge, Bindung & Lösung, Kraut & Rüben.

Daraus die logische Konsequenz: von der Zwei auf die Eins wechseln zu wollen, auf den Monismus. Was wäre folgerichtiger, ja, erlösender als auf die simple Eins zurückzukehren, gar die einzige Eins schaffen zu wollen – ein Wort, das nur 1 Mal in der gesamten Literatur (also nicht nur 1 Mal innerhalb eines Textkorpus) vorkommt – ein Hapaxlegomenon erdichten zu wollen – oder als Steigerung dessen einen ganzen Satz, ausschließlich aus Hapaxlegomena bestehend, zu erschaffen?

Nur einmal Gesagtes. Als Roman gar, Wort für Wort aus einzigartigen Hapaxlegomena zusammengefügt und damit in die Literaturgeschichte eingehen.

Dazu bedürfe es keiner tausendachthundert Buchseiten. Ein experimentelles Textgebilde würde entstehen, gespickt mit Neologismen. Erfrischend knapp wie unverständlich auf hundert Seiten Buchlänge. Maximal.

Das Ende im Anfang markieren: in meinem ersten Textbeitrag innerhalb der Wolfgangseer Literaturtage im Jahr 2015 gelingt es im Text Das Schreiben als Unvermögen dem Alter Ego Barney Cockless nicht, „[…] einen einzigen Satz zu schreiben bis ihm schließlich unerwartet Barbie Zoegerer zu Hilfe kommt […] mit einer nicht nur zündenden, sondern geradezu formidablen Idee: sie wollte das Unvermögen in ein Vermögen umwandeln […]“ (Maulschelle).

Aber Halt, da ist es schon wieder – das Paar, das nur als Duo diesen einen einzigen Satz zu schreiben vermochte. Verflixt.

 

1 so nannten Getrude Stein und Alice B. Toklas ihren Ford Model T
2 benannt nach Gertrude Steins gleichnamiger Tante, die in Notfällen immer bewundernswert agierte
3 Aus Das Alice B. Toklas Kochbuch (Byblos Verlag Berlin)
4 erschienen im Rowohlt Verlag 2012
5 erschienen bei Kiepenheuer & Witsch 2016
6 Aus Mein Mund ist lüstern – I got lusting palate (Edition Ebersbach) von Elsa von Freytag-Loringhoven

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Regina Hilber

Regina Hilber, geb. 1970, lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Essays, Erzählungen sowie Lyrik. Sie ist auch als Publizistin und Herausgeberin tätig. Zuletzt erschienen ihre gesellschaftskritischen Essays in Lettre International, Literatur und Kritik und in der Zwischenwelt. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Poesiefestivals und geladenen Schreibaufenthalten in ganz Europa. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018) und Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. c. h. huber

    irgendwie finde ichs schade, dass du mir und anderen bildung (?) mit extrem gefülltem, großem löffel einzugeben versuchst. wobei ich natürlich vermute, du schreibst in einer gewissen tradition, die ich nicht kenne, dumm und dalget (dialekt-ausspruch) wie ich bin.

  2. Susanne Preglau

    Ich habe folgende Begriffe bei wikipedia gesucht:
    Propemptikon:
    Gedichtform, in der einem Abschiednehmenden Glück für seine Reise gewünscht wird
    Apopemptikon:
    Abschiedsgedicht eines Fortgehenden an die Zurückbleibenden
    Hapaxlegomenon:
    nur einmal Gesagtes
    „Bei der Erforschung älterer Texte können Hapax legomena ein besonderes Problem darstellen. Da sie nur einmal vorkommen und daher auch nur in einem einzigen Kontext belegt sind, kann es sich als schwierig herausstellen, die exakte Bedeutung des betreffenden Wortes zu bestimmen, wenn nicht andere Hilfsmittel zur Verfügung stehen.“

    Leider habe ich keine anderen Hilfsmittel gefunden, diese beiden Texte auch nur ansatzweise zu verstehen.

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