Peter Kurer
Der Staat ist digital inkompetent.
Und das ist gut so!
Essay

Wir leben in einer Welt, in der wir über alles streiten und uns über wenig einig sind. Einer der schönsten Zankäpfel der öffentlichen Diskussion betrifft die Rolle des Staates. Was soll er tun und was soll er besser lassen?

Dieser uralten Frage setzen wir soeben eine neue Variation hinzu, die wir in ihren möglichen Auswirkungen nicht unterschätzen dürfen: soll der Staat eine digitale Macht sein?

Zu den Grenzen staatlichen Wirkens gibt es radikale Ansichten wie die libertäre, die nichts vom Staat erwartet, oder die sozialistische, wonach dieser für alles verantwortlich sein soll. Dazwischen tummelt sich ein buntes Volk von linksliberalen Anspruchsträgern, religiösen Kommunitaristen, klassischen Liberalen, Bittgängern ganz ohne Philosophie, wie auch ein grosses Heer von politischen Karrieristen: solchen, die gerne technokratisch fixen und den vielen andern, die einfach die politische Scharade lieben.

Zum Glück gibt es Fakten, die eine unsichtbare Grenzen um dieses Treiben setzen. Die wichtigste davon bilden die finanziellen Ressourcen. Der Anteil des Staates am Bruttosozialprodukt hat sich in den demokratischen Ländern irgendwo zwischen 40 und 60 Prozent eingependelt. Wo ein bestimmtes Land auf diesem Kontinuum genau liegt, hängt von vielen Faktoren ab, wie beispielsweise der Organisation des Gesundheitswesens, der Rolle privater Anbieter im Bildungsbereich, der Finanzierungsform für die Sozialhilfe.

Interessanterweise gibt der Anteil des Staates am GDP nur eine unzureichende Antwort darauf, ob wir in ihm ein erfolgreiches oder ein weniger erfolgreiches Modell sehen. Am unteren Ende des Spektrums (ich folge den Zahlen des «Economist» für das Jahr 2019) tummeln sich Länder wie Neuseeland, Australien, die baltischen Staaten und auch die Schweiz, denen wir im Grossen und Ganzen ein gutes Management öffentlicher Angelegenheiten nachsagen.

Am oberen Ende der Skala finden sich beispielsweise Frankreich und Italien, Paradebeispiele von inkompetenten Demokratien. Interessanterweise sieht man aber auch das Gegenteil: alle skandinavischen Länder, die durchwegs als erfolgreich gelten, haben hohe Staatsquoten, während die USA, die Mühe mit der fairen Erledigung öffentlicher Aufgaben haben, dafür (noch) einen relativ tiefen Anteil des Bruttoinlandprodukte aufwenden. Das sind starke Vereinfachungen, lassen aber den Schluss zu, dass wir über die Staatsquote nur unzureichend die Qualität staatlichen Wirkens erklären können.

Es gibt nun aber eine weitere faktische Grenze staatlichen Tuns, und das ist das Gesetz der Kompetenz. Man kann sich Gebiet für Gebiet überlegen, was der Staat gut macht und was nicht. Die Wirtschaftsgeschichte gibt dazu reiche empirische Antworten, und Corona sollte uns zusätzlich die Augen geöffnet haben.

Viele Staaten haben ihre Bürger einigermassen heil durch die Pandemie geführt; oftmals haben sie die delikate Balance zwischen gesundheitlicher Vorsorge und Begrenzung des wirtschaftlichen Schadens gut adjustiert; und insgesamt haben sie sich fürsorglich um die Verlierer in der Pandemie gesorgt. Umgekehrt haben Regierungen, insbesondere auch in Europa, oft in zwei Bereichen versagt: der Logistik und der digitalen Bearbeitung der Krise.

Obwohl eine grosse Pandemie schon seit Jahren zuoberst auf der globalen Risikoliste stand, gab es am Tage X keine Masken, zu wenig Beatmungsgeräte, keine Systeme zum raschen digitalen Datenaustausch. Vakzine wurden zu spät bestellt, Impfzentren nur mühsam aufgebaut.

In der Logistik machte der Staat im Laufe der Zeit sichtbare Fortschritte, kaum aber im digitalen Bereich. Die Covid-App löschen wir jetzt ungebraucht. Und hier knüpft meine zentrale These an: Digitalisierung ist jenseits der Grenze staatlicher Kompetenz!

Der Staat wird sich zwar in einigen Bereichen digitale Fähigkeiten aneignen. Zumindest unter demokratischen Bedingungen wird er aber nie irgendeine gestaltende und führende Rolle spielen, wenn es um die eigentliche Digitalisierung der Gesellschaft geht.

Für diese Sicht gibt es viele Gründe. Der wichtigste ist aber, dass das staatliche Leben nach ganz anderen Regeln abläuft als die digitale Welt; die beiden Universen verhalten sich zueinander wie Öl und Wasser. Staaten sind hierarchische Gebilde, die nach vorgegebenen Regeln operieren. Die digitale und technologische Sphäre ist demgegenüber nach den Regeln von Netzwerken geformt. Diese gliedern sich durch Knoten und Verbindungen, sie nutzen und kreieren Skaleneffekte, verdichten sich zu riesigen Plattformen, um sich dann im nächsten Moment wieder neu zu konfigurieren oder gar zu zerfallen.

Diese Dichotomie zwischen Hierarchien und Netzwerken, die Niall Ferguson in seinem Buch «The Square and the Tower» (deutsche Übersetzung „Türme und Plätze“ , Propyläen Verlag) brillant beschreibt, ist ein gutes Paradigma, um sinnvolles staatliches Wirken zu lokalisieren. Die meisten von uns könnten sich wohl darauf einigen, dass erfolgreiche Staaten in vier oder fünf Bereichen gut gearbeitet haben: Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, Bildungswesen (Eliminierung des Analphabetismus), Gesundheitswesen (Erhöhung der Lebenserwartung) und Wohlfahrt (Verhinderung von Armut). Dies sind aber genau jene Bereiche, die sich nach hierarchischen Gesetzen organisieren lassen, in Form von Armeen, Polizeikorps, Schulen und Universitäten, Spitälern und Universitätskliniken, Sozialagenturen und Arbeitsämtern.

Viel grössere Mühe haben die Staaten in Bereichen, die nicht nach vorgegebenen Hierarchien und Regeln ablaufen: die makroökonomische Entwicklung, Märkte, Innovation und Handel. In diesem Reiche Merkurs, des Gottes der Händler und Diebe wie auch lateinischer Namensgeber des Quecksilbers, herrschen andere Gesetze als hierarchisch erfassbare, es sind die Regeln von fluiden Netzwerken, Skaleneffekten, tausendfachen und kaum sichtbaren Marktinformationen und sinnvollen Zufällen.

Auch in diesen Bereichen kann und muss der Staat wichtige Funktionen erfüllen wie umsichtiges Regulieren, Grundlagenforschung oder direkte Krisenintervention. Indessen kann er kein merkurial Beteiligter sein.

In den allermeisten Fällen, wo Staaten solche unsichtbare Kompetenzgrenzen überschritten, endete dies im Unglück. Systeme, die sich als Totalunternehmer sahen, wie die DDR, sind am Schluss implodiert, weil sie die einfachsten Produktionsprobleme nicht mehr lösen konnten. Staaten, die von ihrer DNA her zum Merkantilismus und der Dauerintervention neigen wie Frankreich und Indien, marschieren nahe am Abgrund. Viele Länder mussten wichtige Elemente ihrer Infrastruktur privatisieren, nicht weil die Politiker und Beamten dies lustig fanden, sondern weil die Wasserrohre verrosteten, Briefe nicht mehr zugestellt wurden und Züge chronisch zu spät kamen.

Im Bereich der Digitalisierung sind wir nun gerade im Begriff, einen neuen Mammutfehler gouvernementaler Inkompetenz zu setzen. Amerika will 50 Milliarden Dollar in die Förderung des Chipsektors stecken, obwohl es die führende Technologienation ist und Firmen wie Intel und Nividia wohl in der Lage sein sollten, ihre momentanen Kapazitätsengpässe mit eigenen finanziellen Mitteln zu überwinden. Die EU beabsichtigt, mehr als 145 Milliarden Euros in digitale Projekte wie den Aufbau eigener Chipfabriken zu investieren. Zudem gibt es Pläne für eine europäische Cloud. Auch in der Schweiz wird zunehmend von digitalen Offensiven des Staates und «Public Private Partnerships» in diesem Bereich gesprochen, worin man eine verkappte Industriepolitik sehen kann.

Solche Initiativen sind gefährliche Trugbilder. Die amerikanische Technologie bedarf keiner Förderung mehr, und es wird kaum je eine europäische Cloud geben, die Amazon, Microsoft oder Google die Stirn bieten kann. Und ebenso wenig eine europäische Chipindustrie, die zu den Taiwanesen aufschliesst.

All dies heisst aber nicht, dass der Staat nicht in seine eigene digitale Kompetenz investieren soll, wo das notwendig und angezeigt ist. Die rasche Digitalisierung des Gesundheitswesens ist wichtig, ebenso die Cybersecurity im staatlichen Bereich. Smarte Strom- und Wasserzähler sparen Geld und Ressourcen. All dies setzt weder eine digitale Industriepolitik noch grosse Anschubfinanzierungen und Public Private Partnerships voraus. Die meisten der notwendigen technologischen Produkte und Softwareapplikationen können nämlich irgendwo eingekauft werden.

Der Staat sollte eine beschränkte Anzahl von begabten Experten einstellen und trainieren, die diese Software finden, beurteilen und einführen. Anderweitig gibt es keinen Platz für staatliche Kompetenz. Der digitale Zug ist längst abgefahren, und es nützt wenig, wenn die Industriepolitiker ihm schweratmend hinterherrennen.
Das ist auch gut so.

Der moderne Staat stösst mit seinen bestehenden Aufgaben und dem neuen Megathema des Kilmaschutzes ohnehin an seine Grenzen. Es ist nicht notwendig, dass wir ihm eine neue, überbordende Aufgabe zuweisen. Und schliesslich sollen wir das auch nicht wollen. Es gibt nämlich eine einzige Bedingung, unter der der moderne Staat digitale Kompetenz ausspielen kann, und das ist die Tyrannei.

China hat wettbewerbsfähige Alternativen zur amerikanischen Vorherrschaft im technologischen Bereich aufgebaut. Die dortigen Mandarine und Parteibonzen sind Herren über die Cloud und das Internet. Sie wissen alles, hören alles, steuern über raffinierte Algorithmen die Präferenzen des Fussvolkes und sanktionieren abweichendes Verhalten.

Solche Macht dürfen demokratisch gewählte Regierungen nie haben, es würde die Substanz bürgerlicher Freiheiten aushöhlen, selbst wenn die digitale Macht nur paternalistisch und milde ausgeübt würde.

Gewiss, auch im Westen haben die grossen digitalen Plattformen zu viel Macht über uns. Aber es fehlt ihnen die Sanktionsmacht des Staates, und dieser kann und sollte sie im Auftrag des Volkes kontrollieren und in Schranken weisen. Dies allein ist Grund genug, um die digitale und die staatlichen Sphären getrennt zu halten.


Der vorliegende Artikel erschien in einer geringfügig abweichenden Form in der NZZ.

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Peter Kurer

Peter Kurer, Rechtsanwalt, Unternehmer, Publizist, wuchs in Zürich auf und besuchte das Gymnasium Stella Matutina in Feldkirch. Die Matura machte er am Kollegium Appenzell im Jahre 1969. Er studierte Rechts-, Staats- und Politikwissenschaften an den Universitäten Zürich (Dr. iur.) und Chicago (LL.M). Danach war er Anwalt und Partner bei der internationalen Anwaltssozietät Baker & McKenzie. Im Jahre 1991 gründete er mit sieben Kollegen die Kanzlei Homburger in Zürich. Er praktizierte hauptsächlich im Bereich M&A und war gleichzeitig Mitglied mehrerer Verwaltungsräte wie Holcim, Kraft Jacobs Suchard, Danzas, und Rothschild Continuation Holdings. 2001 wechselte Peter Kurer als General Counsel (Chefjurist) und Mitglied der Konzernleitung zur UBS. Im Jahre 2008 übernahm er während der Finanzkrise für ein Jahr das Präsidium der Bank. Von 2016 bis 2020 war er Präsident des Telekommunikationsunternehmens Sunrise. Heute ist Peter Kurer Verwaltungsratspräsident des Verlages „Kein & Aber“ sowie Mitglied des Verwaltungsrates von SoftwareOne. Daneben ist er publizistisch tätig. Sein Buch “Legal and Compliance Risk: A Strategic Response to a Rising Threat for Global Business” erschien im Februar 2015 in der Oxford University Press.

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