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Marta Marková
Der, die, das...Ludvík Vaculík in Wien.
Eine Erinnerung

Zum 30. Jahrestag von Ludvík Vaculíks legendärem Auftritt „Über die Intellektuellen in der heutigen Tschechoslowakei“ in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und zum 80. Geburtstag von Peter Huemer, Erfinder und Moderator der Sendereihe „Im Gespräch“.

Die 1990er-Jahre, gleich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, ermöglichten einen intensiven Kulturexport aus Osteuropa. Dissidenten und ihre Angehörigen kamen nach Westeuropa und Amerika. Václav Havel als Staatsoberhaupt folgte der Einladung in die USA. Bald schon flogen Maschinen voll mit Havels Freunden über den Atlantik. Seit dem Zerfall der Monarchie hatte es auch zwischen Wien und Prag nie eine solche Symbiose gegeben, die gelegentlich nur durch die Frage getrübt wurde, wo sich die wahre Mitte Mitteleuropas befinde.

Auch die einstige Kassandra der tschechoslowakischen Nation, Ludvík Vaculík, nahm die Einladung an, nach Wien zu kommen. Der streitbare Geist war mittlerweile zu einer Kultfigur der tschechischen Kulturschaffenden geworden. Als Erzieher in einem Internat und Rundfunkredakteur, als Ex-Kommunist und Schriftsteller, Autor der berühmten Novelle „Sekyra“ (Das Beil) und des „Manifests der Zweitausend Worte“ (einem Symbol des Prager Frühlings 1968), als Unterzeichner der Charta 77, Herausgeber in eigener Reihe des Samisdat-Verlages Edice Petlice (Verlag hinter Schloss und Riegel) symbolisierte Vaculík, wie auch Václav Havel, Milan Kundera oder Pavel Kohout, den entschlossenen Widerstand der Zivilgesellschaft. Hinter diesem Widerstand stand in Wahrheit allerdings nur eine sehr kleine Minderheit: vor allem prominente Schriftsteller, die ihrerseits einander eifersüchtig beobachteten – wie Hähne am Bauernhof. Dort braucht man bekanntlich nur einen einzigen.

Der Saal im Wiener Palais Wilczek war jedenfalls so überfüllt, dass man die Türen offen lassen musste und schnell noch ein paar Stühle hineinpresste. Der Rest des Publikums blieb auf dem Gang stehen. Da zwängte sich durch das Gedränge ein kleiner, traurig aussehender Mann mit großer Aktentasche. Er war irgendwie ganz anders und signalisierte schon im Voraus: Obwohl ich weiß, was mich erwartet, komme ich doch hierher! Er schaute sich im Saal um. Rechts vom Podium, wo jeden Augenblick Ludvík Vaculík Platz am Rednertisch nehmen sollte, waren noch zwei Plätze frei… Aber wer möchte sich schon ganz vorne hinsetzen, den Augen aller preisgegeben? So musterte er aufmerksam den Saal, bis sein Blick auf mich fiel. Schuldbewusst entschuldigte ich mich, den ich „bewachte“ noch einen Platz neben mir. Der Herr hob seine Schultern und ging zum Podium vor, um sich dort hinzusetzen. Er schleppte seine Tasche, als ob er sein ganzes bisheriges Leben in sie hineingestopft hätte.

Der Saal füllte sich mit einem ganz anderen, nicht dem sonst üblichen Publikum. In den vorderen Reihen saßen Repräsentanten der tschechische Sprachkolonie in Wien. Ich schätzte sie auf gut zwei Drittel der Besucher. Darunter befand sich auch die Milan-Kundera-Übersetzerin Susanne Roth und Jiří Pechar, der Übersetzer französischer und deutscher philosophischer Werke. Beiden waren am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen tätig, wo vor kurzem noch die Werke Jan Patočkas herausgegeben worden waren. Auch die Turnauers saßen im Publikum, ein österreichischer Malteserritter mit Gattin, Nachfahre einer der reichesten Industriellenfamilien Österreichs, mit Wurzeln in Böhmen. Dazu kamen Journalisten, Studenten und Vertreter des tschechischen Exils.

Endlich zeigte sich Herr Vaculík, und zwar ziemlich gereizt – und das nicht nur deshalb, weil ich nicht bereit stand, obwohl ich es versprochen hatte, wenn sein Deutsch nicht ausreichen würde. Sondern überhaupt! Ja, er schwor nämlich Stein und Bein, nicht Deutsch zu können, und ich glaubte ihm das. Obwohl er kurz nach mir die Österreichische Gesellschaft für Literatur betreten hatte, hatte er mich nicht registriert. Seit dem Morgen hatte er nichts gegessen und war unruhig. Er wollte das alles schleunigst hinter sich haben.

Ich setzte mich also wie eine Grasmücke in die hintere Ecke des Saales, die mir noch genug Überblick bot, falls Vaculík wirklich Hilfe benötigte. Es erschien mir überflüssig, neben ihm zu sitzen, bis er seine dreizehn Seiten gelesen hatte. Und bis zur Diskussion selbst blieb noch reichlich  Zeit. Ich hatte ihm rasch die paar Seiten übersetzt, wozu noch ein Freund, der sich gerade auf einer Fahrt quer durch Österreich befand, beigetragen hatte, indem er für den endgültigen „Feinschliff“ sorgte.

Dennoch: Vaculíks Äuglein hinter den dicken Brillengläsern blinzelten gefährlich und sein Schnauzer sträubte sich, als ich ihm die Übersetzung übergab: „Was haben Sie mir nur damit angetan, schließlich habe ich Ihnen doch nur sechs, sieben Seiten gegeben… Wieso sind das auf einmal so viele?!“

„Im Deutschen ist das immer mehr. Und außerdem, beim Ausdrucken habe ich immer eine Zeile ausgelassen, damit Sie das besser lesen können…“, versuchte ich mich zu entschuldigen.
„Hmm!“

Und er war damit einverstanden: „ Es reicht, wenn Sie in der Nähe sind…, wenn ich etwa das Wort für Bahnhof nicht wissen sollte …“ und er blinzelte wieder gefährlich..

„Einverstanden“, sagte ich, überwältigt von seiner Hinterlist, „aber Sie dürfen nicht auf den Artikeln bestehen … Sie kennen doch unseren alten tschechischen Spruch: der – die – das … Hundeschwanz.“

Noch bevor Ludvík Vaculík ordentlich am Tisch Platz genommen hatte, empörte er sich, da sein Buch „Český snář“ (Tagträume. Alle Tage eines Jahres) bei seiner Vorstellung als „Dokument“ bezeichnet worden war. „Das ist ein Roman!“ brüllte er. Dadurch kam der Vorsitzende der Gesellschaft für Literatur aus dem Konzept, Vaculíks plötzlicher Widerspruch war ihm vollkommen unverständlich, ein böhmisches Dorf sozusagen. Mit seinen Gedankenschleifen überforderte Vaculik wieder einmal auch die Wiener. Die Diskussion, die sich an den Vortrag anschloss, erreichte ihren Höhepunkt in genau jenem Moment, in dem Vaculík in großer Verzweiflung, da das Tschechische frei davon ist, wieder einmal für ein Wort nach dem richtigen deutschen Artikel suchte, sodass es laut vom Rednerpult tönte: „No, no … sakra!“, worauf nicht nur meiner, sondern sich den Kehlen der übrigen, in den ersten Reihen sitzenden Tschechen wie aus einem Munde ein mitleidsvolles und gleichsam solidarisches Stöhnen entrang. „Ó!“ Wie waren wir plötzlich eine geeinte Nation!

Etwas später fragte eine Frau mit prägnant hochdeutscher Aussprache: „Und was halten Sie von Wien, was halten Sie von uns?“„Günstig!“, antwortete Vaculík. Im Saal herrschte einige Sekunde lang Stille, man hätte eine Stecknadel fallen hören. Irgendwann begann jemand zu lachen, und die anderen schlossen sich an. Warum auch nicht, schließlich gilt doch gerade den „günstigen“ Dingen das Hauptinteresse der westlichen Gesellschaften.

„Wie das?“ ließ die Frau nicht locker. Vaculík zauste seinen Schnauzer und schaute sie entgeistert an. „Leider muss ich immer schreiben, ich bin Schriftsteller, wissen sie, sonst würde ich das Angebot des Reisebüros nützen und zum Wochenende nach Pressburg fahren. Wissen Sie, wie viel eine Reise dorthin und zurück…, wissen Sie, wie viel das kostet?“ Selbstverständlich wusste es keiner der Anwesenden. „Fünfzig Bleistifte“, verkündete Vaculík und lächelte seine Schäfchen im Saal an. Niemand wusste, was nur ein einzelner, ganz gewöhnlicher Bleistift kostet… „Günstig, nicht wahr?“, wiederholte Vaculík und zog die Spitzen seines Schnauzers noch etwas weiter in die Breite.

Auch der traurige Mann mit der Aktentasche, der in der Nähe des Podiums Platz genommen hatte, wurde jetzt mutig und fragte Herrn Vaculík, ob er richtig verstanden habe, dass ein Schriftsteller eigentlich die Bedeutung hat, die er für sich selbst hat… Und ob Herr Vaculík das wirklich genau so meine?

„Ja“, antwortete Vaculík fest und schaute ihn unverwandt an. Der Mann wurde augenscheinlich noch trauriger. „Stimmen Sie mir etwa nicht zu?“ fragte Vaculík hinterlistig.

„Nein“, antwortete der Herr und hielt dabei seine Tasche noch fester umklammert. Vielleicht stammte seine Großmutter aus Mähren. Dort haben sie immer Angst, dass ihnen alles gestohlen wird. Es meldeten sich noch weitere Zuhörer zu Wort, aber  ihren Meldungen eignete bei weitem nicht die poetische Nuance des Männerflirts, der sich vor aller Augen abspielte. Vaculík schaute immer wieder mit forschendem Blick auf den traurigen Mann hin. Irgendwann hielt der es nicht mehr aus und ging: noch vor dem offiziellen Abschluss der Vorlesung „Über die Intellektuellen in der heutigen Tschechoslowakei“. Im graublauen Anzug, mit der großen Aktentasche in der  rechten Hand: das Bild eines Empörten, vielleicht auch eines Enttäuschten, dem plötzlich das ganze Leben auf den Kopf gestellt worden war. Sein Abgang gab Anlass zu Spekulationen über seine Identität, obgleich er eigentlich der passende Kommentar zur allzugroßen Erwartung an einen Protagonisten der 1968er und der Samtenen Revolution war, als deren Vertreter Vaculík galt – eine Revolution, die bekanntlich als eine der letzten, noch vor Rumänien, in Osteuropa stattgefunden hatte.

Am nächsten Tag gestand Vaculík mir, dass er in der Nacht nicht hatte schlafen können, weil er eben an diesen Mann hatte denken müssen. Und es passierte etwas noch weit Schlimmeres! Etwas unvorstellbar Schlimmeres… Als wir mit Vaculík ein Gespräch für den Österreichischen Hörfunk aufnahmen, war die Mittagszeit längst vorbei, aber ein Essen im kleinen Wirtshaus über der Gasse bekamen wir noch. Wir tranken einträchtig Bier, als auf einmal Vaculíks Äuglein aufblitzten. „Schauen Sie den an“, sagte er mir, „schauen Sie nur den Moderator an, wie euphorisch er ist, dass ihm das gelungen ist,… dass er das hinter sich hat!“ Wahrhaftig, von Peter Huemer fiel die Spannung ab, quirlig verhandelte er mit der jungen Photographin Xandi, wohin sie mit Herrn Vaculík fahren sollte, wo es gut wäre, ihn zu fotografieren. Da sagte Vaculík auf einmal mir nichts dir nichts über den Tisch hinweg: „Und Sie… Und Sie haben dort bei der Aufnahme im Studio ebenfalls einen falschen Artikel gebraucht! ´Das´ statt ´der´…!“ Und Vaculíks Schnauzer flog wie ein Pfeil in Richtung Decke.

„Haha“, kicherte Peter Huemer, der bekennender Tschechophile, „die Unterlagen habe ich doch von Euch beiden bekommen“ und er zeigte dabei mit dem Zeigefinger auf mich. Er war glücklich, dass die Panne, die durch meine unverschämten Fragen an Vaculík entstanden war, nunmehr erledigt schien; dass Vaculík nicht nachtragend war und unser Gespräch ungestört zu Ende geführt worden war. Ja, ich konnte es nicht lassen und hatte gefragt, wie es eigentlich war, wie er sich gefühlt hatte, als eines Tages in den 1970er alle wichtigen tschechoslowakischen Zeitungen die Fotos eines nackten Mannes und seiner Geliebten veröffentlicht hatten, beide am Rande eines Grabes am Friedhof – in aufreizender Pose sich darbietend?

Huemer als Diskussionsleiter sperrt bei der Frage den Mund auf wie ein Weihnachtskarpfen kurz vor der Schlachtung. Vaculík sprang auf, wie von der Tarantel gestochen, lief durch den engen Gang der engen Tonstudios des Hörfunks in der Argentinierstraße, rot und zornig wie eine verletzte Diva. Und ich lief ihm hinterher und versuchte, alles – mit dem Hinweis auf den festen Sendetermin und mich für meine provozierende Frage entschuldigend – wieder auszubügeln: Er als Profi-Journalist müsse doch solche Fragen gewöhnt sein!

Erst Jahre später informierte mich eine bekannte Schriftstellerkollegin, dass Vaculík sich mit dieser Aktion selbst ans Messer geliefert habe. Denn als damals, zur Zeit der Husák- Diktatur, die Geheimpolizei in seine Wohnung eindrang, hatten die Beamten zu ihrer Überraschung all die inkriminierenden Fotos vorgefunden, an den Wänden seiner Wohnung aufgeklebt. Und die alte Dissidentin konnte sich auch folgenden Spruch nicht verkneifen: Der alte Depp, ein Hitzkopf, musste um jeden Preis provozieren, ohne Rücksicht auf seine Frau und die drei Kinder…

Aber 1991, als schon alles vorbei war – die Aufnahme und das verspätete Mittagessen und das Posieren und Fotografieren – sagte Vaculík, der noch vor ganz kurzer Zeit unschuldig beteuert hatte, dass er nicht Deutsch könne:
„ Und wissen Sie, was mir die Photographin Xandi gesagt hat, was Ihrem Kollegen so gefallen hat? Dass sie einen ´Lebensgefährten´ hat. Und ich habe ihr darauf geantwortet: ´Hm, was Ihnen nicht einfällt! Lebensgefährte! Das ist doch ein Lebensgefährdeter´!“



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Marta Markova

Marta Marková, Kulturpublizistin und Autorin, geb. in Spieglitz/Špiklice (Tschechische Republik), lebt heute in Wien und Innsbruck. Studium an der Prager Karlsuniversität, Tätigkeit als Journalistin, Verlags-und Hörfunkredakteurin. 1980 Flucht nach Österreich, ab 1989 Kulturpublizistin für den ORF, für die Wiener Zeitung, den Standard und für tschechische und slovakische Medien (Aspekt). Sie forschte u.a. zu „Kafkas Freundin“ Milena Jesenská und Alice Rühle-Gerstel, Milenas Freundin, und war Lektorin für die Tschechische Sprache am Institut für Slawistik der Universität Innsbruck. Demnächst erscheint im Innsbrucker Limbus Verlag das Kulturbuch "Daheim – und doch nicht zu Hause. Kochen im fremden Land."

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