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Marta Marková
Schicksal und totalitäre Geschichtswahrnehmung
2. Teil: Mara

Mara (eigentlich Marie) kam als die Zweitgeborene der jungen griechischen Partisanen Savas und Partchena Piperidou im nordostböhmischen Städtchen Trutnov/Trautenau im November 1956 zur Welt. In der Region „Sudetenland“, wo nicht nur die NS-Elite wie Karl Hermann Frank und die Vorfahren eines Otto Gustav von Wächter ihre Zuhause hatten, sondern auch Josef Mühlberger, Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift für Kunst und Dichtung „Witiko“, einer kulturellen Brücke zwischen Deutschen und Tschechen. Fast elf Jahre nach der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung (zu denen auch Josef Mühlberger gehörte) wurde dort Mara geboren.

Sehnsüchtig war sie von ihrer fünfjährigen Schwester Dimitroula wie von ihrer gesamten kleinen Familie, der 24-jährigen Mutter, der Großmutter und dem Vater erwartet worden. Die Erinnerungen, die Häuser, die landwirtschaftlichen Güter, all die Gerätschaften der Vertriebenen bestimmten noch immer die Umgebung als verlassene Mahnmale. Alles stand leer – obgleich die Nachkriegs-Goldgräber häufig eine ausgeraubte, zerfallene Ruine doch noch für die Fremden gnädigst hinterlassen hatten, um sie zu besiedeln. Im Gegensatz zu den Städten im Landesinneren, wo inzwischen  Wohnungsnot und Stagnation herrschten, entwickelte sich in den Grenzgebieten bald wieder ein multikulturelles Leben der verschiedensten Minderheiten, ein Nomadenleben.

Im allgemeinem begegneten die Einheimischen, die böhmischen und mährischen Familien, den nach 1945 zugezogenen Griechen mit denselben nationalistischen, fremdenfeindlichen und oft auch antisemitischen Vorurteilen wie all den anderen, die anstelle der Vertriebenen angesiedelt wurden – den Slowaken, den Bulgaren, den Rumänen, den Roma oder den repatriierten Ukrainern aus Wolhynien. Die neu Zugezogenen stießen oft auf eine geradezu aggressive Ablehnung. Man betrachtete sie als persönliche Bedrohung. Diese emotionale Abwehrhaltung gegenüber den Neuankömmlingen war in der Bevölkerung stark verankert, ohne dass  es dafür eine institutionelle Befürwortung vonseiten des Staates gegeben hätte. Von der kommunistischen Regierung wurden die neuen Bürger vielmehr unter dem Banner internationaler Solidarität sogar unterstützt und bevorzugt. Die meisten von ihnen waren Angehörige der kommunistischen Partisanenarmee ELAS oder auch ehemalige Gefangene der griechischen Regierungsarmee. Dessen ungeachtet standen sie zugleich, als griechische Staatsbürger und als Angehörige einer nationalen Minderheit in der Tschechoslowakei, unter der ständigen Kontrolle der KPČ und des kommunistischen Staatsapparates. Das bedeutete eine weitere Ausgrenzung: eine Art Exil im Exil.

In der Familie Piperidou in der Trautenau kümmerte sich Maras Großmutter, die Seele der Familie, um den Haushalt. Die Enkelinnen besuchten die dortige Grundschule und betrieben in ihrer Freizeit Sport. Jeden Tag, wenn sie nach Hause kamen, stellten sie fest, dass am Tisch immer noch für eine weitere Person aufgedeckt war. Sie wunderten sich darüber, doch die Großmutter bestand darauf. Nein, ihr wisst doch nicht, wer noch kommen, wer noch Hunger haben könnte…

Maras Mutter arbeitete tagsüber in der Fabrik, nachts nähte sie für ihre Töchter und die Nachbarschaft. Dem Vater war Trautenau bald viel zu klein. Er versuchte, was er an Bildung und Leben verpasst hatte, nachzuholen, reiste mit dem Motorrad herum, organisierte und diskutierte und war fast nie zuhause. Ziemlich bald wurde er nach Mähren, nach Brno/Brünn berufen. Und ziemlich bald kam es auch zur Trennung der Ehe. Als gut aussehender Mann war er begehrt und von Frauen umworben. Es war ihm immer schwergefallen, auf seine männlichen Vorzüge zu verzichten und nur den Familienmenschen, den Familienvater zu spielen. Meinen Erinnerungen nach, trotz all der Vorurteile, gab es damals eine richtiggehende Schwärmerei für gut aussehende Griechen, die in ihrem auffälligen Outfit anders als die einheimischen Männern auftraten: Schwarzhaarig in weißen Hemden, immer picobello gekleidet. Dieses Urteil wurde auch von Mara und ihrer Schwester geteilt.

Mitte der 1960er Jahre unterstützte Maras Vater als Vorsitzender der Griechischen Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei die politischen Erneuerungen des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Sobald er sich in Brünn etabliert hatte, sorgte er dafür, dass seine Töchter zur Weiterbildung nachkamen. Seine Idee stieß nicht gerade auf Begeisterung, da die beiden Mädchen in Trautenau ihre Freunde und vor allem ihren Sport gefunden hatten. Besonders in der Leichtathletik waren sie die Besten der Schule! Dennoch kam es vernünftigerweise zur Übersiedlung der Familie nach Brünn.

Vor dem Hintergrund dieser persönlichen Entwicklungen erfolgte 1967 in der Heimat von Maras Eltern, im damals noch königlichen Griechenland, ein Militärputsch und es kam zur Errichtung einer Militärdiktatur. Repressionen und die Missachtung der Menschenrechte waren an der Tagesordnung.

Sogleich nach dem 21. August 1968, als die Panzer der „brüderlichen“ kommunistischen Länder die Tschechoslowakei und deren politischen Versuch zum Aufbau eines „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ niederwalzten, verschwand Maras Vater. Weder die ursprüngliche noch seine neu gegründete Familie wussten, wo er sich befand. Erst nach einer Weile entdeckten sie ihn in einem Gefängnis in Mährisch Ostrau. Als er noch im selben Jahr daraus entlassen wurde, wurde über ihn ein Berufs- und Aufenthaltsverbot verhängt. Für den griechischen politischen Immigranten wurde das Exil also wieder einmal zu einem neuen Exil.

Im November 1973 entwickelte sich der Aufstand der griechischen Studenten an der Athener Technischen Universität Polytechnio zum Fanal für die Diktatur der griechischen Generäle und führte am 23. Juli 1974 zur Übergabe der Staatsmacht an eine zivile Regierung. Die Justiz der neuen, der Dritten Griechischen Republik ermöglichte es den politisch Verfolgten, nach Griechenland zurückzukehren. So beantragte auch Savas Piperidou mit seiner zweiten Familie die griechische Staatsbürgerschaft und betrieb die Rückkehr nach Thessaloniki. In den Jahren nach dem „Prager Frühling“ kehrten übrigens Tausende von Griechen aus der Tschechoslowakei und anderen kommunistischen Staaten nach Griechenland zurück. Enttäuscht von der politischen Entwicklung in Osteuropa suchten sie Zuflucht in ihrer alten Heimat. Aber fast vierzig Jahre nach dem II. Weltkrieg war es für sie allzuoft wieder nur eine Enttäuschung. Immer noch von den Träumen der kommunistischen Partisanen erfüllt, fühlten sie sich im westlich orientierten Griechenland nie wirklich zuhause.

Die nach dem „Prager Frühling“ vollzogene „Konsolidierung“ wie auch die „Normalisierung“ der tschechoslowakischen Gesellschaft bewirkte, dass die beiden Töchter von Savas Piperidou zunächst nicht studieren durften. Erst als die inzwischen geschiedene Mutter bei den Behörden in Brünn immer wieder mit eiserner Konsequenz intervenierte, wurde ihren Kindern das Erlernen eines technischen Berufs gestattet. Sie wurden Bauingenieurinnen. Während des Studiums lernte Mara einen um fünf Jahre älteren Studenten der Hochschule für angewandte Kunst kennen, den angehenden Maler Feodor/Feďa Šiškovský. Sie wurden ein Paar. Ihre ältere Schwester Dimitroula wiederum befreundete sich mit einem Studienkollegen aus Südmähren. Fast zur gleichen Zeit feierten sie die Hochzeit.

Feďas Familienangehörige väterlicherseits kamen aus dem ehemals zaristischen Russland. Sie hatten ihr Leben aus den Wirren der sowjetischen Revolution durch die Flucht nach dem Westen gerettet – in die soeben neu gegründete Tschechoslowakei. Hier wurde den Flüchtlingen aus Sowjetrussland eine menschwürdige Existenz ermöglicht. Die Tschechoslowakische Regierung erleichterte den Emigranten das Leben in ihrem neuen Heimatland – etwa in Form spezieller Bildungsgänge an Gymnasien und durch Stipendien an Hochschulen.
Damals, in den 1920er Jahren, lebten in Prag oder etwa im Städtchen Mährisch-Trübau Russisch sprechende Intellektuelle wie die Dichterin Marina Iwanowna Zwetajewa, aber auch ein Konstantin I. Šiškovskej, ein angehender Mediziner. Er assimilierte bald seinen Namen auf Šiškovský und heiratete. In seinem Brünner Umfeld wurde er bald als Facharzt für Gynäkologie berühmt und genoss hohes Ansehen.

Nach dem II. Weltkrieg, besonders nach dem kommunistischen Umsturz 1948, wurde er allerdings als Angehöriger der petite bourgeoisie angeprangert. Nein, Šiškovský prahlte keineswegs mit seiner Familiengeschichte, nur zuhause bewahrte er alle die amtlichen Dokumente und Verträge auf, die teilweise polnisch und litauisch verfasst waren. Sie bestätigten, dass Dr. Konstantin I. Šiškovskej in Belarus geboren worden war, in „Lida“ – einem Besitztum seiner adeligen Familie. Lida war einmal eine interessante multikulturelle Gegend. Heute ist es eine Stadt im Westen Weißrusslands, zwischen der polnischen und der litauischen Grenze.
Aus Hass und Missgunst wurden ziemlich bald auch medizinisch unerlaubte Praktiken bei ihm „gefunden“. Dem angesehenen Gynäkologen wurden verbotene Abtreibungen vorgeworfen, sein Zuhause und sein Besitz wurden beschlagnahmt, er und seine Frau verhaftet. Anders als seine Gattin, die noch in der Untersuchungszelle Selbstmord verübte, überlebte er.

Anfangs der 1980er Jahre beantragte Maras gesamte Familie die griechische Staatsbürgerschaft und die offizielle Ausreise aus der Tschechoslowakei. Die Lage in Griechenland schien aus der Ferne günstig, besonders für die Sportlerin Mara, da gerade die 13. Leichtathletik-Europameisterschaften in Athen stattfanden!

In der neuen/alten Heimat musste zuerst die Großmutter mit Hilfe ihrer Tochter und den beiden Enkelinnen ihr Haus in Athen samt Grundstück von ihrem griechischen Ehemann, eigentlich von seiner Witwe, zurückkaufen. Warum? Was hätte ein Mann im besten Alter machen sollen, wenn die Gattin mit der Tochter in irgendeinem fremden Land gestrandet war? Wie lange sollte er zuwarten? Wer sollte ihn bekochen, die Wäsche waschen, ihn umsorgen? Er hatte also nochmals geheiratet. Und das Familienhaus seiner Ex-Gattin gehörte nun ihm. Nach seinem Tod wurde sein Vermögen an die Witwe übertragen. Großmutters weibliche Nachkommen ließen in den 1980er Jahren dann das abgewohnte, alte Familienhaus abreissen und an seiner Stelle ein neues modernes Gebäude errichten, bequem für alle drei Generationen.

Maras Erzählungen stützten sich stets auf die Berichte der Großmutter. Deren Familie hatte ursprünglich zur wohlhabenden griechischen Minderheit auf der Krim gehört. Als auch dort im Zuge des Erstens Weltkriegs die Revolution ausbrach, wurde ein Teil der Verwandtschaft ausgeraubt und ermordet. Ihr bereits mit allen Habseligkeiten beladenes Schiff wurde von „Revolutionären“ requiriert. Im Alleingang rettete sich die Großmutter aus diesen Wirren mit ihrem im Korsett eingenähten Geld, das ihr später auch gestattete, ein Grundstück im Athen zu erwerben. Ohne es zu wissen, tat sie – fast zur selben Zeit – das Gleiche wie die russischen Zaren-Töchter mit ihren Juwelen. Aber im Unterschied zu diesen wurde sie nicht später ermordet. In Griechenland arbeitete sie hart, erwarb noch ein Grundstück und gründete eine eigene Familie.

Mara erzählte oft über die Emigration ihrer Großmutter von der Krim und auch über ihre spätere Flucht aus Griechenland. Diese Geschichte war der höchst emotionale, der subjektive Ausdruck ihrer persönlichen Wahrnehmung, ohne jede Zeit-Angabe, ohne jede historische Rückversicherung: Eines Nachts sei die Großmutter plötzlich von ihrem 16jährigen Sohn aus dem Schlaf gerissen worden. Sie weilte mit ihrer Tochter gerade im Hause ihrer Verwandten in Thessaloniki. „Aufwachen, die Deutschen marschieren ein!“ Der Sohn drängte die Mutter und auch die Schwester aus dem Bett, nur im Schlafrock, darunter leichte Bekleidung und barfuss, aus dem Hause, nur schnell von hier weg in Sicherheit! Der junge Mann genoss ihr volles Vertrauen und sie folgten ihm. Sie rannten um ihr Leben, sie wussten gar nicht mehr, wie lange und wohin sie flüchteten. Laut familiärer Abmachung war der Großvater mit den anderen Söhnen zuhause in Athen geblieben, während seine Frau mit der Tochter in das Landsinnere gefahren war, um Lebensmittel zu besorgen. Ihr älterer Sohn, Dimitri, brachte die beiden Frauen in das Gebirge zu den Partisanen nach Jugoslawien und versprach „Ich komme später und hole Euch ab.“ Er kam aber nie wieder. Sie lebten die ganze Zeit immer noch in ihrem Gewand, das sie bei der Flucht angehabt hatten, arbeiteten schwer in den Bergen, in einer provisorischen Fabrik für Eisschränke. Als Griechinnen im Lager wurden sie bald zum Freiwild, da ihnen ein männlicher „Beschützer“ fehlte. Besonders der jugoslawische Kommandant, der gerade auf der Suche nach einer neuen Frau war, warf sein Auge auf Partchena. Da schritt die Großmutter zum Gegenangriff: „Heirate diesen Jungen da, er stammte aus unserem Dorf. Dann muss der Jugo Ruhe geben. Seinem Genossen wird er sich doch nicht trauen, die Braut wegzunehmen.“

In der chaotischen Nachkriegszeit landeten die beiden Mädchen dann, jede für sich, ganz woanders. Sie suchten einander über das Rote Kreuz: Der Vater aus der Sowjetunion, die Großmutter mit ihrer Tochter aus Deutschland. Zurück nach Hause, nach Griechenland, war nicht möglich, sie wären dort eingesperrt worden. So wurden sie wie viele Repatriierte in die Tschechoslowakei nach Trutnov/Trautenau gebracht.

Ich lernte Mara und ihren Mann erst in den 1990er Jahren in Wien kennen, als ich während meiner „Nach-Emigrationszeit“ in Österreich bereits zum dritten Mal übersiedelte. Im eher ärmlichen Haus im 9. Wiener Bezirk war für mich die dortige Multikulti-Atmosphäre sehr anziehend, zumal es dort eine tschechischsprachige Oase gab. Deutsch war zwar nicht verpönt, aber aus dem Alltag fast verschwunden, im Stiegenhaus hörte man vor allem Tschechisch. Dass einige Bewohner auch Landsleute aus Mähren waren, habe ich viel später erfahren, erst als Mara mit ihrer Familie aus Griechenland zurück nach Wien gekommen war.

Natürlich, im realen Leben sah alles anders aus. Mara lebte jeweils längere Zeit einmal in Wien und dann wieder in Athen, wo sie auch arbeitete. Ihr Mann, der es in Griechenland nicht aushalten konnte, lebte mit dem Sohn fast ausschließlich in Wien. Tagsüber war er in der Leitung der Wiener Stadtgärtnerei beschäftigt,  in seiner Freizeit nützte er im Erdgeschoss des Hauses die frühere Werkstatt eines Installateurs als sein Atelier, in dem er seine expressionistischen Bilder gestaltete. Mit seinem Kater Tommy, Tomášek, der ihn stets im Stiegenhaus die drei Stockwerke auf Schritt und Tritt begleitet hatte, bildete er ein unzertrennliches Paar wie Don Quichotte und Sancho Pansa. Ein großgewachsener, sensibler Mann, der sich eines ziemlich ordinären Brünner Dialektes bediente. Sein bekannter Spruch gegenüber den herumstehenden Besserwissern war legendär: „Takových za noc vyseru plnou ošatku.“

Ja, wir unterhielten uns, obwohl am Ende der Tage nur wir zwei, Mara und ich, der tschechischen Sprache als einzige im gesamten Hause verbunden blieben. Die Sterberate war hoch…Da Heimatlose offenbar eine besondere Sensibilität haben, hörte ich – an meinem Schreibtisch – jedes Mal durch die Mauer Maras Schritte im Stiegenhaus, wenn sie mit ihrem charakteristischen „staccatissimo“ zu ihrer Wohnung – und von dieser kommend – durch das Stiegenhaus lief. Wir unterhielten uns dann zum großen Erstaunen unserer jungen westdeutschen Nachbarn auf Tschechisch, sodass mich die freundlichen Mitbewohner eines Tages direkt fragten, in welcher Sprache ich denn als Tschechin mit einer Griechin spreche. Beinahe wollte ich spontan und ganz vertraulich mitteilen „Russisch“, aber das wäre schon gar nicht mehr verstanden worden. Ich hielt mich mit meiner Ironie lieber zurück. Sie, die deutschen Mieter, im Alter unserer Kinder, waren erst viel später in das Haus eingezogen, um wieder nach einigen Jahren auszuziehen. Ihnen, kultivierte Akademiker, im Bildungswesen beschäftigt, blieb die vergangenheitsbezogene spezielle Atmosphäre in unserem Hause ebenso fremd wie auch die gesamte Nachkriegsgeschichte in Süd-Osteuropa.

Unsere gemeinsame Bekannte, eine Ärztin, die ich gleich nach der Mitteilung meines Mannes von Maras Tod anrief, meinte: „Ja, ich weiß es. Maras Sohn rief mich vor einigen Tagen an. Sie starb an der gleicher Krankheit wie vor 18 Jahren ihr Mann… auch er war damals noch relativ jung, erst in seinem 51. Lebensjahr… vielleicht rauchten sie zu viele Tschiks, diese tschechischen und griechischen Zigaretten… vielleicht hätte sie noch zwei bis drei Jahre gelebt, hätte sie sich doch entschieden, nach Wien zurückzukehren und hier eine Therapie zu machen… Die Verwandten wollten es zuerst nicht … und als sie zustimmte und ich eine Flugambulanz für den Montag organisiert hatte, starb sie an diesem Tag in einem Athener Krankenhaus.“ Erst nach Monaten, unter der Flut der Coronavirus-Informationen, korrigierte sie ihre damalige Ferndiagnose. Wie dies auch der Schilderung von Maras Sohn entsprach, hatte Mara wegen erheblicher Atembeschwerden das Spital aufgesucht. Dort war sie buchstäblich erstickt.

Doch Maras Geschichten gingen mir nicht aus dem Kopf. Ich begann diesen Geschehnissen – wie auch nach dem Ableben von Jan – nachzuspüren. Das, was Mara erzählt hatte, spiegelte auch ganz nebenbei ihre Abneigung gegen Österreich und gegenüber den Österreichern wider. In ihren Erinnerungen waren es immer wieder doch die Deutschen (und unter den Deutschen  verstand sie wohl auch die Österreicher), die besonders brutal in Serbien und in Griechenland als NS-Besatzungsarmee vorgegangen waren. Dahinein passte auch die Geschichte von Waldheim in Thessaloniki.

Irgendwie eigenartig erschien mir auch immer schon die Flucht ihrer Großmutter und Mutter während des II. Weltkrieges. Wenn ich bedenke, dass Maras Mutter erst im Jahre 1932 Jahre geboren worden war, musste sie 1941, als die Deutschen nach Thessaloniki kamen, im schulpflichtigen Alter gewesen sein. Der politischen Absprache der Besatzungsmächte Deutschland und Italien entsprechend unterstanden ab Mai 1941 Thessaloniki, die zweitgrößte Stadt Griechenlands, ebenso wie die Regionen Saloniki-Ägäis, Athen-Piräus und der Westteil Kretas der deutschen Militärverwaltung. Bulgarien und Italien hatten die übrigen Teile Griechenlands okkupiert. Obwohl es während des Krieges zu Verschiebungen kam, gab es nach wie vor nördlich von Thessaloniki eine große deutsche NS-Besatzung. Durch all diese Gebiete zu den jugoslawischen Partisanen zu fliehen, wäre unmöglich gewesen. Aber sehr wohl war es möglich, in die ganz andere, entgegengesetzte Richtung, nach Süden oder Westen, in das italienische Besatzungsgebiet auszuweichen. Das hätte damals Sinn ergeben, zumindest bis in das Jahr 1943 – bis die Deutsche Wehrmacht auch dort einmarschierte und diesen Teil des Landes besetzte. Danach brach auch dort die Hölle auf der Erde los. Die deutschen Besatzer suchten nach Juden, holten sie genauso wie die Regimegegner und Andersdenkende aus den Häusern oder Verstecken, erschossen sie auf der Stelle oder ließen sie in die KZ-Lager abtransportieren.

Dadurch stieß ich auf ein weitere Ungereimtheit: Wieso kam niemals der Bürgerkrieg in Griechenland 1945 und 1946 zur Sprache, in dem die kommunistischen Partisanen die prowestliche königliche Armee Georg II. von Griechenland bekämpften? Wieso wurde in der kommunistischen Erzählung der gemeinsamen nationalen Geschichte die griechische königliche prowestliche Armee mit der deutschen NS-Armee, sprich Wehrmacht, stets gleichgesetzt?

Die blutige Auseinandersetzung des griechischen Ost-West Konfliktes über die Staatsform, die im Juni 1946 ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde erst in Oktober 1949 beendet. Im kommunistisch geführten Nachbarland Jugoslawien kam es 1948 zu einer brisanten politischen Kursänderung: Josip Broz Tito hatte sich von Stalins Politik abgewendet – und war von Stalin „verstoßen“ worden. Und sie, die griechischen Kommunisten, wurden in ihrer Hoffnung auf Stalin enttäuscht: Stalin ließ sie „fallen“. Er hielt sich an die Abmachung mit den Westmächten über die Aufteilung Europas.

Vielleicht hatte sich Maras familiäre Geschichte, die von einer Generation zur anderen weitergegeben wurde, auch ein wenig mit einer Verdrängung vermischt, weil das Erlebte in den Menschen als offene Wunde fortlebte. Am Ende ihres in der Vergangenheit Erlebten mussten sie für ihre Nachkommen offenbar die Fakten vereinfachen und bereinigen. Weil als der Ausgangspunkt der ganz persönlichen Geschichte der Bürgerkrieg zwischen den Hellenen stand? Der Kampf der eigenen Landsleute gegeneinander, und nicht gegen „die Deutschen“? Welch nationaler Schmerz!

Mara wie auch ihre Schwester hatten gegenüber ihrem Vater – erst vor kurzem war er in Thessaloniki verstorben – großen Respekt, sie verehrten ihn. Niemals zweifelten sie an seiner Meinung oder hätten auch nur einen Versuch zu einem kritischen Disput unternommen. In seinem Geiste äußerte sich Mara auch bei unserer allerletzten Wiener Begegnung: „Wir sollten um die gesellschaftlichen Errungenschaften kämpfen, und diesen Kampf nicht den konservativen Kräften, den Liberalen überlassen…“

Fortsetzung: 07. Juli 2021

Marta Markova

Marta Marková, Kulturpublizistin und Autorin, geb. in Spieglitz/Špiklice (Tschechische Republik), lebt heute in Wien und Innsbruck. Studium an der Prager Karlsuniversität, Tätigkeit als Journalistin, Verlags-und Hörfunkredakteurin. 1980 Flucht nach Österreich, ab 1989 Kulturpublizistin für den ORF, für die Wiener Zeitung, den Standard und für tschechische und slovakische Medien (Aspekt). Sie forschte u.a. zu „Kafkas Freundin“ Milena Jesenská und Alice Rühle-Gerstel, Milenas Freundin, und war Lektorin für die Tschechische Sprache am Institut für Slawistik der Universität Innsbruck. Demnächst erscheint im Innsbrucker Limbus Verlag das Kulturbuch "Daheim – und doch nicht zu Hause. Kochen im fremden Land."

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Peter Miroschnikoff

    Liebe Marta,
    von Mara wusste ich bislang ja wenig. Aber Deine Schilderungen der Biografie dieser Familie faszinieren mich. Denn leider ist bei uns (und selbst in Jugoslawien) nur wenig und Einseitiges, außerdem kurzzeitig, über das Schicksal der griechischen Partisanen und Kommunisten berichtet worden. Wie Du richtig schreibst, war nach Stalins blockierter Unterstützung der damalige Ostblock kein Helfer mehr. Du weißt vielleicht, dass ich 1973/74 für die ARD auch aus Griechenland berichtet habe. Für die Obristen waren das ja Verräter und Vaterlandsfeinde. Aber an die Machthaber von damals, die ich kennenlernte, erinnert sich heutzutage kaum noch ein junger Hellene. So ähnlich wie in den neuen Bundesländern die Jugend keine Erinnerung mehr an SED und Sozialismus hat. Darum sind die Wiederholungen von TV-Sendungen von vor 1989 im MDR für diese Generation fast irreale Rückblenden. Nach Honnecker gefragt, war ein Gymnasiast in Sachsen kürzlich nicht ganz sicher, ob der vor oder nach Hitler gelebt hat. Aber wenn die Mara-Geschichte nach dem 7. Juli weitergeht, würde ich gerne mehr darüber wissen.
    Herzlich Peter

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