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Marta Marková
Mama fährt nach Mähren
Erinnerung

„Schon wieder?“, fragte mein Mann und dachte sich: „Um Gottes Willen, was ist wieder passiert?“ Seit 24 Jahren renoviere ich Schritt für Schritt ein vom kommunistischen System konfisziertes Anwesen meiner Großmutter.

„Mama, ich fahre dich dorthin“ sagte entschlossen die Tochter, um das Schlimmste zu verhindern. Ihr Verhalten erinnerte mich an meine Kindheit in Mähren, als ich in den 1950er Jahren meinen Großeltern und meinem Vater vorauslief, um sie zu „beschützen“, hinaus in die Kurve, vorbei beim uralten erdgeschossigen Kaufhaus aus dem 18. Jahrhundert, um den potentiellen Zusammenstoß mit einem Leiterwagen oder einer Pferdekutsche zu vermeiden. Die drei waren nämlich durchaus fähig die ganze Dorfstraßenkurve zu belegen.

Ja, sie alle drei hatten den Ersten Weltkrieg und den Zusammenbruch der Monarchie erlebt, die Wirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg, Hitler und die Kommunisten… Man musste nach all den hungrigen Jahren sich endlich einmal satt essen, am liebsten mit Schmalz und Grammeln. Es musste immer eine Brotschnitte mit einem Zentimeter Schmalz zur Hand sein, und beim Kochen hatte alles in Schmalz zu schwimmen, und so sah das Ergebnis bald in der Erscheinung der Familienmitglieder auch aus.

Schon der Weg aus Innsbruck nach Mähren erwies sich mehr als beschwerlich, ich spreche gar nicht über den Aufenthalt. Bis jetzt weiß ich nicht, wo ich das Wiener Werkstätten Etui mit allen tschechischen Dokumenten verloren hab, ob es in dem verwilderten Garten in Groß Seelowitz / Židlochovice bei meinen Verwandten geblieben war, als ich voll Begeisterung von einer kanadischen Marillensorte Sundrop zur anderen lief – oder später, bei der Tankstelle. Keiner meiner Anrufe brachte ein Ergebnis. So versuchte ich, mich nicht beunruhigen zu lassen und das Verlorene zu verheimlichen.

Die neue Dorfstraße vor dem Haus und die neu eingeführte Kanalisation hatten das Anwesen verschmutzt, überall lag eine dicke Staubschicht. Und im Garten fanden besonders aggressive, wenn auch kleine Tiere an meinem Blut solche Freude, dass ich mich binnen 48 Stunden in die Notabteilung des nächstgelegenen Krankenhauses – 20km entfernt – begeben musste. Nach mehreren Stunden Wartezeit wurde nichts gefunden und mir ein kostbarer Rat nachhause mitgegeben: nicht mit einer Pinzette, sondern mit der flüssigen Seife entfernt man eine Zecke. Ende gut, alles gut – trotz der andauernden (bis jetzt) roten Stiche.

So widmete ich mich pflichtbewusst der hoffentlich letzten Phase der Hausrenovierung.

Handwerker sind in der Tschechischen Republik eine Rarität. Firmen, kleine und größere, sind überbeschäftigt. Sie meinen, dass heutzutage jeder studieren und vor dem Computer sitzen will. Manuell arbeiten will niemand. Ganze Fachbereiche sind nicht mehr besetzt, und manche Handwerke bereits ausgestorben.

Die wirklich guten Handwerker sind längst weg, sie arbeiten im Ausland, die daheim Gebliebenen sind zu alt oder zu beschäftigt, sodass ihre Arbeitshonorare wie die Materialkosten um 100 % bis zu 250% gestiegen sind. Und an allem ist natürlich Corona schuld. Und trotz dieser finanziellen Forderungen können sie auch bereits ausgemachte Termine nicht einhalten. Der Großteil der zuhause gebliebenen Handwerker arbeitet wie früher unter dem kommunistischen System – neben ihrem Hauptberuf in Pfusch.

Ich wollte während meines Aufenthalts nicht nur einen Teil meines persönlichen Archivs aussortieren, sondern auch die Bauarbeiten im Erdgeschoss und im Dachboden erledigen, konkret Wasser und Elektrik in zwei kleinen Räumen anschließen und die Putzarbeiten für ein künftiges Bad fertigstellen. Am Dachboden stand die Verkleidung eines Dachstuhles am Programm. Material dafür lag bereits seit mehr als zwei Jahren bereit.

Den „Wassermann“ holte ich in der 20 km entfernten Ortschaft ab und brachte ihn jeweils nach der Arbeit zurück. In zwei Tagen war er fertig. Der Elektriker kam allein, aber seine Preise entsprachen „Gebirgstouren“. Danach sollte der Maurer sein Werk beginnen, aber das erwies sich als besonderes Problem. Sogar ein Cousin wollte mir helfen und fuhr aus 100km Entfernung zu mir mit einem „verlässlichen“ Bekannten, der schon in seinem Dorf fast bei allen Mitbürgern im Hause gezimmert und das Bad fertig gestellt hatte. Dieser zeigte sich höchst kompetent, aber interessiert nur an Wochenendarbeit, weil er tagsüber als Chauffeur des Sanitätsdienstes arbeitete. Er erstellte sein Anbot und erkundigte sich nebenbei, ob er im Haus auch schlafen dürfte? „Nein“, sagte ich zu ihm, „aber im Haus gegenüber, im Pfarrhaus.“ Damit hatte ich ihn verloren.

Nach langem Herumfragen kam eines Tages ein Maurer, welcher tatsächlich willig war, unter gewissen Bedingungen zu arbeiten – tagsüber jeden Nachmittag und am Wochenende den ganzen Tag, um die notwendigen Putzarbeiten zu erledigen. Doch kurz vor der Fertigstellung fiel mir etwas auf: Er hatte die Wand im künftigen Bad, um den Abfluss im Boden, in der Form des Buchstabens „L“ und in der Länge circa 1,5m x 30cm in der Höhe ohne Ziegelverputz gelassen. „Warum? Was bedeutet es?“ Der Maurer konnte mir keine Antwort geben, er beschloss, dass seine Arbeit zu Ende und dieser „nackte“ Teil der Wand der Zukunft zu überantworten sei. Er hatte einfach keine Lust weiter zu arbeiten und so erfand er die Ausrede, dass dieser ungeputzte Teil der Wand ins Aufgabengebiet der „Wassermänner“, also der Installateure gehöre.

Nein, ich wollte nichts an die Zukunft delegieren, sondern jetzt und auf der Stelle erledigen. So rief ich mir den „Wassermann“ zu Hilfe. Er brummte zwar, dass er schon 73 Jahre alt und gerade mit dem Abernten seiner 15 Zwetschgenbäume beschäftigt sei, und überdies stehe sein Wagen in der Autowerkstatt. Aber ich ließ ihn aus der 15km entfernten Ortschaft abholen. Und er kam tatsächlich, betrachtete das Loch beim Abfluss und gab seine Anordnungen. Und der Maurer – wir sind in Mähren – hatte ihm, einem Mann, genau zugehört: Das Loch in der Wand wurde also ohne jede Widerrede sofort „pico bello“ verputzt.

Nun wurde ich von meinen Freunden überredet, die Anzeige wegen der verlorenen Dokumente zu machen, schon aus Sicherheitsgründen. Schweren Herzens entschloss ich mich, weil ich immer zu tun gehabt hatte, doch in die Kreisstadt zu fahren und die Meldung bei der Polizei zu machen. Bei der Rückfahrt fuhr ich in einer Kolonne: drei Wagen, hinten ein dunkler Audi, ich in der Mitte mit meinem roten Toyota Corolla und einen rot-orangen VW vor mir.

Nach 20 km ununterbrochener Fahrt in der Kolonne, auf einer Landstraße bei einer Kurve noch vor meinem Dorf, zirka 200 Meter vor einer relativ engen Wald- und Hügel Steigung, bekam ich einen starken Stoß vorne beim linken Kotflügel. Der dunkle Audi fuhr schnell vorbei und ich, im Schock, drückte ununterbrochen auf die Hupe. Inmitten einer kurvenreichen Steigung blieb der Fahrer mit seinem Wagen quer zur Straße stehen und wollte wissen: „Um was geht es?“ Ich schrie etwas in dem Sinn, was er da gemacht habe, worauf er ganz ruhig zu mir nur sagte „Schauen Sie, gleich sind Sie auf dem Video!“ und fotografierte mich. In diesem Moment wollte ein Linienbus vorbei fahren, so dass der Audi-Lenker seinen Wagen auf die Seite schieben musste. Zitternd stieg ich in den Wagen, die Einladung des Fahrers zu einer Aussprache in eine Waldkreuzung lehnte ich ab und fuhr zur nächsten Autowerkstatt im Nebendorf, um den Schaden besichtigen zu lassen. Der Automechaniker hatte bereits Urlaub. Er nahm sich dennoch die Zeit, das verbogene Blech an meinem Wagen gerade zu biegen und den Kotflügel zu säubern.

„So wird es für den ersten Moment reichen. Irgendwann müssen Sie es halt richten lassen, darüber lackieren“. „Ja“ antwortete ich, erleichtert, dass es nicht schlimmer war, und ich fuhr nach Hause und sperrte den Wagen in den Garten.

Warum hat dieser rücksichtslose Autofahrer sich so verhalten? – fragte ich mich. Er hätte mich ganz einfach schon früher überholen können. Vielleicht wollte er sich, der seit 20km hinter mir gefahren war, nur überzeugen, wer da im Wagen vor ihm sitzt?

Ein kleiner Nebbich, wie Ruth Deutsch in ihrem Wagen, mit dem sie seinerzeit die Umgebung von Cambridge, Massachusetts, verunsichert hatte? Man sah immer nur das gepflegte menschenleere Auto vorbei fahren, noch Jahrzehnte bevor über fahrerloses Fahren diskutiert wurde. Trotz all ihrer Bemühungen, sich sichtbar zu machen – mit zwei bis drei Polstern als Sitzunterlage – blieb sie aus der Entfernung unsichtbar. Die breiten US- Straßen ermöglichten den Vorbeifahrenden einen Blick hinein in den Wagen, auf die kleine Frau in ihren 90er Jahren! Sie saß fest und bequem hinter ihrem Volant. Dieser Erfahrungen ungeachtet hatte die Professorin der Deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts, die Ehefrau des Politikwissenschaftlers Karl W. Deutsch, nie den geringsten Unfall auf der Straße. Aber das war im privilegierten Umfeld der Harvard University und nicht im Niemandsland Nordmährens! Nein, nicht die Frau hinter dem Volant, sondern das ausländische Kennzeichnen hatte wohl den Fahrer gereizt.

Ich griff zum Telefon um meine Freundin Eva anzurufen. Sie besitzt eine Fahrschule, sie und die Familie kennen sich in der Region aus. Sie unterbrach meinen Gesprächsfluss.
„Um Gottes Willen, was Dir hier immer passiert! Öffne Dir eine Flasche Wein, beruhige Dich.“ „Nein, Eva, wenn ich so was mache, ist hier gleich die Polizei.“ „Warum malst Du immer einen Teufel an die Wand?“ Sie hatte noch nicht ihren Satz beendet, schon klingelte es.

Die Verkehrspolizei, die vom Audi-Fahrer verständigt worden war, stand vor der Tür. Die Beamten schauten sich meinen Wagen an, nahmen meine Daten auf und wollten wissen, auf welcher Seite der Straße ich gefahren wäre. Ich musste „atmen“, ob ich ja nicht alkoholisiert sei, und sie nahmen ein Protokoll auf, ohne mir einen Durchschlag zu geben. Ich betonte, dass ich unschuldig sei und dass der vorbei gefahrene Fahrer mein Auto beschädigt habe.

Es vergingen Tage und Wochen, und statt von der Polizei wurde ich von meinem Mann informiert, dass ich von meiner Versicherung eine Verständigung in Innsbruck erhalten habe. So erfuhr ich auch endlich den Namen des Fahrers des anderen Wagens. So musste ich auch meinem Mann dieses Ereignis schildern, das ich lieber vergessen hätte.

Eines Tages klingelte doch wieder die tschechische Polizei bei mir, ich öffnete und überhäufte sie mit Vorwürfen, dass die Polizei – unser Freund und Helfer – mir noch immer keinen Durchschlag meiner Aussage zugestellt hätte. „Nein, nein, wir sind nicht von der Verkehrspolizei, wir sind die anderen… wir haben ein Problem… Könnten Sie uns, bitte, helfen und in ihre Kamera schauen?“ „Warum?“ „Hier im Dorf kam es zu einem Diebstahl. Hinter der Kirche. Um die Mittagszeit kamen Diebe, als Arbeiter verkleidet, nahmen das gesamte Baumaterial aus dem Hof mit. Vielleicht hat Ihre Kamera sie erfasst. Wer hat hier im Dorf noch Kameras?“ „Das Lebensmittelgeschäft.“ Sie stiegen in ihren Dienstwagen, um dorthin zu fahren, und in diesem Moment fuhr der Automechaniker vorbei. Er hielt kurz an. „Die Polizei war bei mir.“ „Ja, wegen dieses Diebstahls?“ „Nein, Ihretwegen“. „Warum?“
„Sie wollten wissen, ob ich Ihnen was am Wagen repariert hätte, ob ich davon eine Faktura habe. Ich musste es wahrhaft beantworten, nein, ich habe keine Reparatur durchgeführt, nur eine Empfehlung für die Reparatur und Lackieren gegeben. So fragte ich sie, wie es mit dem Fall überhaupt aussieht, und wer daran schuld ist? Und sie antworteten: Höchstwahrscheinlich die Frau, weil wir haben die Überholspur sogar im Gras gefunden, weil der Audi-Lenker beim Überholmanöver sogar durch das Gras fahren musste.“

Der Diebstahl war Tagesgespräch. Dann hörte ich plötzlich, dass die Diebe ergriffen worden seien. Die Kamera im Lebensmittelgeschäft hatte sie bei der Rückgabe von zwei gestohlenen Kisten Leergut erfasst. So fragte ich bei der Gelegenheit den Sohn des Besitzers, ob das stimmt? Eine solche Pointe hätte alle meine Erwartungen an den allgemeinen Intelligenzquotienten der Polizei übertroffen. Er hüllte sich eisern in Schweigen.

Nun ja. Als ich kurz vor meiner Abreise die Verkehrspolizei in Mährisch Schönberg besuchte, um den Durchschlag des Protokolls endlich in die Hände zu bekommen, hieß es, der Akt sei nicht mehr vorhanden, sie hätten den Fall an die Verwaltungsbehörde abgetreten.
„Wann wirst Du wieder nach Mähren fahren?“, fragte nach meiner Rückkehr gewitzt die Tochter. „Erst in einem Jahr“, antwortete mein Mann statt mir, mit einem untersetzten Ton als wollte er auf wienerisch sagen – nimmermehr. Glaubte er das wirklich, oder war es nur sein Wunsch?


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Marta Markova

Marta Marková, Kulturpublizistin und Autorin, geb. in Spieglitz/Špiklice (Tschechische Republik), lebt heute in Wien und Innsbruck. Studium an der Prager Karlsuniversität, Tätigkeit als Journalistin, Verlags-und Hörfunkredakteurin. 1980 Flucht nach Österreich, ab 1989 Kulturpublizistin für den ORF, für die Wiener Zeitung, den Standard und für tschechische und slovakische Medien (Aspekt). Sie forschte u.a. zu „Kafkas Freundin“ Milena Jesenská und Alice Rühle-Gerstel, Milenas Freundin, und war Lektorin für die Tschechische Sprache am Institut für Slawistik der Universität Innsbruck. Demnächst erscheint im Innsbrucker Limbus Verlag das Kulturbuch "Daheim – und doch nicht zu Hause. Kochen im fremden Land."

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