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H.W. Valerian
Am Eisernen Vorhang
Erinnerung

Nach einer einwöchigen Gruppenreise durch die Sowjetunion – von Leningrad über Moskau nach Kiew – befanden wir uns auf dem Heimweg mit der Eisenbahn. Die Fahrt dauerte zwei Nächte und einen Tag, sie führte über Lemberg nach Tschop, dem Grenzbahnhof. Dort rollten wir am späten Nachmittag ein. Hier wurden auch die Fahrgestelle gewechselt, von russischer zu europäischer Normalspur. Das würde ziemlich lange dauern, so viel war uns klar. Was uns nicht klar war: was uns sonst noch erwartete.

Wir – das war eine Gruppe meiner Schüler zusammen mit ein paar sonstigen Jugendlichen und Erwachsenen. Die Reise, der so genannte Jugendzug, stellte eine Propaganda-Veranstaltung der Österreichisch-sowjetischen Gesellschaft dar. Die bekam ihr Geld aus Moskau. Deshalb war die Reise ja auch so billig, dass sich Schüler und Studenten selbige leisten konnten. Erstaunlicherweise gelang es den Sowjets, die westlichen Jugendlichen derart zu vergraulen, dass bloß noch Widerwillen übrig blieb. Wir Lehrer brauchten gar nichts dazu beizutragen. Das besorgten die Sowjets selbst.

Nun fuhren wir also in den Bahnhof von Tschop ein.
„Geht’s noch schnell aufs Klo“, sagte meine Begleiterin, als studierte Slawistin eine erfahrene Russland-Reisende. „Die werden nämlich zugesperrt.“

Ich stand im Gang unseres Waggons und hoffte von dort aus ein paar Eindrücke aufzuschnappen vom Prozess des Drehgestell-Tausches. Was ich hingegen sah, das schockierte mich: Da stürmten plötzlich Rudel von Grenzsoldaten den Zug, Männlein wie Weiblein, Maschinenpistolen im Anschlag, begleitet von hysterisch kläffenden Hunden. Schon waren sie mit Getöse im Waggon.
„In die Abteile“, schrien sie. „Alles in die Abteile!“ (Ob sie Deutsch sprachen oder ob ich mich bloß an die Übersetzung meiner Freundin erinnere, das könnte ich heute nicht mehr sagen.)

Schön. Da saßen wir also gehorsam in unseren Abteilen. Im Korridor draußen überprüften die Grenzsoldaten jedes einzelne Rollo, ja mehr noch: Sie öffneten jedes Deckenpanel mit einem Vierkantschlüssel und tasteten den Hohlraum ab. Das dauerte ewig.
„Was suchen die?“, wollten die Schüler wissen.
„Dokumente, Photokopien, Mikrofilme“, antwortete meine Freundin.
Schließlich war die Inspektion des Korridors beendet. Wiederum Geschrei, gebellte Kommandos.
„Alles raus auf den Gang,“ übersetzte unsere Slawistin.

Da standen wir nun und warteten. Die Schüler schauten inzwischen schon ziemlich eingeschüchtert drein. So was hatten sie noch nie erlebt. Hatten es wahrscheinlich nicht für möglich gehalten.

Die Grenzsoldaten begannen, die Abteile zu filzen, genau so unbewegt, mechanisch und minutiös wie zuvor den Gang. Jedes Rollo wurde heruntergezogen, jede Sitzbank wurde angehoben, der Hohlraum abgetastet.

Endlich, endlich: Wiederum aggressive Kommandos, dieses Mal hieß es: Alle zurück in die Abteile. Nun begann erst die eigentliche Grenzkontrolle. Pässe zuerst: Die Soldaten hatten eine Art, erst das Foto im Pass zu studieren und dann das Gesicht des Inhabers, die angst und bange machte. Dann kamen die Koffer dran. Auch sie wurden nach Schriftstücken und Mikrofilmen durchsucht.

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, ehe die Soldaten abzogen. Ruhe kehrte ein. Wir konnten es gar nicht richtig glauben, erwarteten jeden Augenblick die nächste Welle von geschrieenen Kommandos. Doch sie blieb aus. Langsam, langsam befreiten wir uns aus der Schockstarre, in die wir alle verfallen waren. Ich sah zum Fenster hinaus. Es schien, als seien die Drehgestelle inzwischen gewechselt worden.

Und tatsächlich: irgendwann, nach einer neuerlichen unergründlichen Wartezeit, setzte sich der Zug in Bewegung. Aber nur ganz langsam, und nicht sehr weit. Zu meiner Verblüffung stellte ich fest, dass wir an eine Art Eisernen Vorhang geraten waren: Hohe Stacheldrahtzäune, Wachtürme, Hunde, Minenfelder. Aber wieso? Wir befanden uns doch bloß an der Grenze zur Tschechoslowakei beziehungsweise zu Ungarn! Ihrerseits kommunistische Staaten, Mitglieder von COMECON und Warschauer Pakt. Wovor hatten die solche Angst?

Der Zug hielt im Niemandsland, und auch das wieder für lange, unerklärlich lange Zeit. Es war bereits dunkel, als wir in die Tschechoslowakei hinein rollten. Und da gab’s wieder Kontrollen, glücklicherweise nicht ganz so aufwändig wie zuvor. Die Nacht verschliefen wir. Das war das Positive an dieser Reise: Wir reisten in Schlafwagen der russischen Bahn, und die waren großzügig ausgelegt und höchst komfortabel.

Als ich am Morgen aufwachte, war’s draußen grau. Der Zug hielt in einem vielgeleisigen Bahnhof. Aber was war das? – Grenzsoldaten! Mit Maschinenpistolen und Schäferhunden. Das Ganze ging von vorne los! Wir hatten inzwischen resigniert, ließen die Prozedur nur noch stoisch über uns ergehen.
Wozu machten die das? Wir waren die ganze Nacht durchgefahren, hatten nicht angehalten. Hatten sie Angst, die Staatsfeinde und Republikflüchtlinge könnten sich aus der Luft materialisieren?

Nach einer Zeitspanne, die uns wie eine halbe Ewigkeit vorkam, endete auch diese Veranstaltung, und irgendwann setzte sich der Zug in Bewegung, aber nur sehr langsam. Mit freudiger Spannung stand ich am Fenster im Korridor und schaute hinaus. Eine kurze Brücke – das musste die March sein! Und dann eine Station, typisch österreichische Bahnhofsgebäude: Marchegg. Aber – ich traute meinen Augen nicht – da stand ein österreichischer Gendarm am Bahnsteig. Mit Maschinenpistole!
Hörte das denn nie auf?

Der Zug hielt quietschend an. Die Tür zu unserem Waggon wurde geöffnet, ein österreichischer Zöllner kraxelte in den Waggon. Er war ziemlich groß, beleibt. Die graue, unansehnliche Uniform saß schlecht auf seinem schwabbeligen Körper.
„Guten Morgen“, rief er freundlich in den Waggon. Und dann in breitem niederösterreichischen Dialekt: „Österreichische Zollkontrolle. Die Ausweise, bitte!“

Wie wenn plötzlich die Sonne durch finstere Wolken bricht. Wie wenn – es fällt mir schwer, passende Vergleiche zu finden für die Erleichterung, die wir alle verspürten. Eine Woche sowjetischer Bedrückung löste sich auf in das breite, freundliche Lächeln dieses Beamten. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Und als ich mich umsah, stellte ich fest: den anderen auch, Mädchen wie Burschen.

Der ganze Waggon begann spontan zu klatschen. Ich bin sicher, so mancher oder so manche wäre ihm gerne um den Hals gefallen. Der Mann nahm den Applaus schelmisch lächelnd entgegen. Er war solches offenbar gewöhnt.

Endlich hatte er unseren Waggon abgefertigt und ging weiter in den nächsten. Der war von einer Schülergruppe aus dem Tiroler Unterland besetzt.
„Guten Morgen! Österreichische Zollkontrolle…“
Und da ertönte, laut und inbrünstig im Chor, ein ganzer Waggon voller österreichischer Schüler:

Land der Berge, Land am Strome,
Land der Äcker, Land der Dome…



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H.W. Valerian

H.W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950, lebt und arbeitet in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für "Die Gegenwart". Mehrere Bücher. H.W. Valerian ist im August 2022 verstorben.

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