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Markus Fenner
Amassas Zeit
Roman in Fortsetzungen
2. Folge

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die weltweiten Aufbruchsbewegungen erreichen auch das Jesuiten-Internat „Regina Caeli“ als fernes Rauschen. In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge ihren eigenen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen. Mehr vom emanzipatorischen Zeitgeist beseelt ist dagegen die Maturandin Anna, die beharrlich nach dem wahren Ansatz für ein selbstbestimmtes Leben sucht. Schwärmerische Ziele, für die etwa ihr schräger Fast-Freund Anderl nur Hohn übrig hat.


Plötzlich war Anderl wach.

Finster war´s, der Mond schien helle durchs offene Fenster auf den Wandschrank gegenüber seinem Bett. Im Absinken war er über das Dach des Studienflügels gewandert, jetzt schrägte er mit einer milchigen Bahn durchs Zimmer. 

Schon mehrmals in dieser Nacht war Anderl an die Oberfläche geraten, gerade so weit, dass sein Bewusstsein den Bauch nach oben drehte und wieder abtauchte, doch jetzt war er wach. Unruhige Nacht, Herrschaften, vergleichsweise unruhig, wenn man bedenkt, der bedeutendste Schläfer der Neuzeit…

Er hatte sich nicht bewegt, sein rechtes Auge, das über den Kissenrand lugte, fuhr die Licht- und Dunkelzonen des Zimmers ab, einem großen Raum mit altertümlich hoher Decke. Er sah vom Nachtkasten, auf dem nur die Lampe stand, zum Regal, in dem nur einige Schulbücher ein Bord besetzten, zum Schreibtisch, auf dem gar nichts lag: alles leer. 

Es war beruhigend, dass er gestern Abend noch seine Kleider in den Wandschrank gestopft hatte, einem über die ganze Zimmerlänge reichenden Einbaumöbel, in dem er alle seine Sachen verstaute.

Das Zimmer war sorgfältig geleert, als hätte er geahnt, dass ihm die neuesten Nachrichten von der Heimatfront nächtens zu schaffen machen würden: vorgestern der Brief seiner Mutter, gestern der seines Vaters. Unverhoffte Gemeinsamkeit. 

Getrennt prozessieren, vereint schreiben. Die Mutter schrieb regelmäßig, der Vater sporadisch, meist nur, wenn wieder ein Prozess gelaufen war. Und dann nur sehr verhaltene Lebenszeichen mit verstecktem Tremolo, in dem anklang, dass Juristerei und Vaterliebe doch zwei ganz verschiedene Dinge seien. 

Um die Besucherregelung für die Geschwister, Quatsch, den Zwangsverkauf des Ferienhauses, Quatsch, die Berufung gegen das Scheidungsurteil war es diesmal gegangen, ausnahmsweise einmal ein Erfolg für die Mutter. Das Schuldverhältnis von 40 zu 60 Prozent auf glorreiche 30 zu 70 gemindert, hosianna! Nun ja, nur ein kleiner Wirbel, vergleichsweise…

Trotzdem war es erleichternd, aufzuwachen und festzustellen, dass er nicht zuhause war, sondern eben hier, abgetrennt durch Bergesmauern in seiner Vorarlberger Kleinstadt und noch einmal abgetrennt durch Internatsmauern in seinem alten Jesuitenknast. 

Dass er draußen war, tief und sicher drin steckte in diesem Draußen. Und geradezu befreiend war es, in diesem leeren Zimmer aufzuwachen. Denn Trennung war ja ganz schön, Löschung war besser!

Im vorigen Schuljahr, einige Monate nach seinem Eintritt ins Internat, hatte Anderl diese Entdeckung gemacht, als er die besondere Eigenart des Lebens unter dem Taktell der jesuitischen Dienstordnung immer deutlicher begriffen hatte. Die Dienstordnung, die sein Zöglings Dasein bis in jede Stunde umgriff, war unpersönlich, sie meinte niemanden persönlich. 

Und in einer ersten Ahnung der Möglichkeit, die darin steckte, hatte er seinen engen Schlafalkoven im alten Turnsaal auf der anderen Fluss-Seite dann noch einmal umgestaltet. Diese eine von insgesamt sechzig, nach oben offenen, nach vorne mit einem Vorhang zu schließenden Nischen, die damals Anderl Amerangs einzigen persönlichen Ort darstellte, hatte er von Postern, Sprüchen und sonstigen privaten Symbolen gesäubert.

Drei kahle Pressspan-Wände, ein Spind und ein Bett – das war die erste Skizze gewesen. Erst in diesem neuen Schuljahr hatte es sich voll durchführen lassen, nach seinem Aufstieg in die erlauchte Oberabteilung, in das Licht und die Freiheit des Gipfelgeschoßes im jesuitischen Zuchtstock. Jede gesichtslose Termite in den unteren Rängen fieberte diesem privilegierten Dasein entgegen, wobei das größte aller Privilegien das eigene Zimmer war. 

Nach sechs ausschließlich in allgemeinen Diensträumen verbrachten Jahren die erste Tür, die man ungestraft hinter sich zumachen durfte, der erste Raum, aus dem man mit Liebe und Improvisationskunst einen so lange unterdrückten Satz bilden durfte. Den Satz, der dann laut und deutlich zu jedem sprach, der nur den Kopf zur Tür hereinstreckte: „Hier wohne ich“.

Anderl sah durch sein Zimmer mit dem anstaltseigenen Sortiment Dienstmöbel, den zwei Dienstlampen und dem Stapel Dienstbücher und fühlte mit einer bis ins Innerste rieselnden Befriedigung, was der Raum aussagte: „Unbewohnt. Niemand da“. Nur das mit dem Bett störte…

Während ihm die Augen zufielen, zog noch die hübsche Idee vorbei, zum Schlafen vielleicht in die leere andere Hälfte des Wandschranks umzuziehen. Dann würde auch das Bett frei. Aber das war wohl nicht zu machen…

Anderl schlief, das Gesicht mit den kindlich runden Wangen ins Kissen gedrückt, die Augen festgeschlossen in den rissigen, violetten Höhlen, die auch die gesunde Lebensweise unter der Dienstordnung nicht wegzubringen vermochte.

Er schlief inbrünstig und tief, während der Mond aus dem Zimmer verschwand. Durchs Fenster rauschte gedämpft der Fluss herauf. Eine der alten Bohlen des Bodens erleichterte sich mit einem sonoren Knacken. Im Wandschrank war der Pullover mit dem weiten Ausschnitt auf seinem stundenlangen Weg endlich über die rechte Schulter des Kleiderbügels gerutscht und fiel weich auf die Schuhe am Schrankboden. Der Bügel schaukelte knarrend, kam zum Stillstand. Das Zimmer sank in die atmende Stille zurück, die in den Gängen, Sälen und Zimmern des Studienflügels stand.

Der Mond war hinter dem Stadtschrofen untergegangen. In der tiefen Dunkelheit über dem Internatsgelände tat die Dienstordnung ihren Schlag. Ein grelles Schrillen zerriss die Stille. Überall, im Hauptgebäude auf der anderen Fluss-Seite und im Studienflügel schrillten die Klingeln und lösten die Arretierung am eisernen Taktell, das den Lebensrhythmus der Zöglinge schlug. 

Die Klingeln verstummten, in einem zitternden Moment senkte sich der Zeiger zur Seite und gab den ersten Schlag – Viertel nach Sechs. Licht An! In allen Schlafsälen flammten die Neonröhren auf und die Präfekten fuhren mit „Gu-uten Morgen“-Rufen durch die Reihen der Betten und Schlafalkoven. Mit einem Schlag war der Studienflügel, in dem der Großteil der Schlafräume lag, taghell.

Eine Ausnahme machte der zweite und der dritte Stock. In den Einzelzimmern der erlauchten Oberabteilung erhellten sich die Fenster erst nach und nach.

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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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