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Markus Fenner
Amassas Zeit
Roman in Fortsetzungen
1. Folge

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die weltweiten Aufbruchsbewegungen erreichen auch das Jesuiten-Internat „Regina Caeli“ als fernes Rauschen. In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten drei Zöglinge ihren eigenen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen. Mehr vom emanzipatorischen Zeitgeist beseelt ist dagegen die Maturandin Anna, die beharrlich nach dem wahren Ansatz für ein selbstbestimmtes Leben sucht. Schwärmerische Ziele, für die etwa ihr schräger Fast-Freund Anderl nur Hohn übrig hat.


Der Frisör

Im Musikhaus gab es einmal einen Frisör.
Warum auch nicht? Zu der Belegschaft des mittleren Dienstleistungs-Unternehmens, das ein Jesuiteninternat unter anderem auch darstellt, gehörten die verschiedensten Arbeitskräfte. Dazu gehörten neben den Lehrern und Erziehern auch Näherinnen, Wäscherinnen, Köche, Putzfrauen, Sporttrainer, Landwirte, Handwerker. Und es gab eben auch einen Frisör.

Zwar war dieser es nur im Nebenberuf, hauptsächlich arbeitete er als Maurer draußen in der Stadt. Doch jeden Mittwoch- und Samstagnachmittag stand sein Goggomobil vor dem Musikhaus und er stand in dem winzigen, klammen Salon im Erdgeschoß und war der Frisör.

Er war klein und schmächtig, ein Hutzelmännchen und wirkte körperlich nicht sehr geeignet für seinen Hauptberuf am Bau. Er war auch kein regulärer Maurer, nur Hilfsarbeiter. Andererseits gab er mit seinen riesigen, ausgearbeiteten Händen auch nicht das ab, was sich man sich unter einem Haarkünstler vorstellt. Das Männchen hatte was Uneigentliches.

Die Maurerseite überwog allerdings bei ihm, zum Beispiel soff er wie nur irgendein vollwertiger Vertreter dieses Berufsstandes. In einer Ecke des Salons stand eine Tasche mit Bierflaschen immer griffbereit, deren Konsum nicht ohne Wirkung blieb. Beim Haareschneiden schwitzt sich das nicht aus und das Männchen war notorisch besoffen – auch wieder untypisch für einen Maurer.

Das Männchen hatte was Uneigentliches.

Gut möglich, dass er sich am Bau wie ein Frisör anstellte. Hier im Salon benahm er sich eher wie ein Maurer, führte den Kamm wie eine Betonmisch-Harke, schob die Schermaschine umher wie einen Hohlziegel. Er hatte auch nicht das Selbstverständnis eines Frisörs.

Gelegentlich sprach er das auch deutlich aus, etwa wenn ein Zögling im Barbierstuhl ein Aufheulen nicht unterdrücken konnte. Dann entstand in dessen Rücken ein Aufruhr. Eine steife Bierfahne entfaltete sich, in der einiger Speichel flog, denn der Frisör zischte. Er zischte „Abisssl“ und „Iwasss-janet“ und das wiederholt, wobei es nur die Einleitung für die eigentliche Äußerung war, die dann schließlich zustande kam:

„Abisssl iwasssjanet…vielleicht no an leiwan-den…wassjanet F i g a r o aa no abissslda?!“

Das war die Sprechweise des Frisörs, geprägt von seiner Wiener Herkunft und von dem Umstand, dass er von allen Worten, welche die Sprache bietet, die zwei Worte „Abisssl“ und „I-wasssjanet“ am besten konnte.

Sie beherrschte er meisterhaft, aller anderen Worte wurde er nur mit ihrer Hilfe habhaft. Dieser beiden Stützworte beraubt, wäre er rettungslos in Stummheit versunken. Mit ihnen kam er so weit ganz gut durch, wenn er etwas sagte. Er sagte ja nicht oft etwas, eigentlich nur, wenn er gekränkt wurde; wenn nämlich das Brutwasser aus Bier und Schmollen, in dem die Kaulquappe seines Ichs umherpaddelte, von außen aufgerührt wurde, etwa durch unbeherrschte Äußerungen eines Kunden.

Eine andere Sorte von Kränkung, die immer wieder in den Innentümpel des Frisörs plumpste, ergab sich aus der Lage des Salons im Musikhaus. Er befand sich ganz hinten im Flügel, am Ende des finsteren Ganges.

Die zum Haareschneiden angemeldeten Zöglinge lehnten es ab, an diesem trübseligen Ort zu warten, bis sie an der Reihe waren. Sie warteten lieber vorne in den hellen, fabelhaft nach Frisch-Wäsche riechenden Räumen der Wäscheabteilung. Dort war Unterhaltung mit den Näherinnen geboten, vor allem der lustigen Frau Thürlimann. Oder mit dem hageren Mann an der Wäschemangel, der in der Fremdenlegion gewesen war und seinen Lebensweg mit „durch die Mangel an die Mangel“ zu umreißen pflegte.

Oder man konnte Hagspiel, den zwergwüchsigen Wäschediener, in dessen übergroßem Schädel die Wäschenummern aller Zöglinge der letzten vierzig Jahre gespeichert waren, wieder einmal auf die Probe stellen; eine Aufgabe, derer er sich mit müder Meisterschaft entledigte (so richtig warm wurde er erst, wenn bei Maturatreffen grauhaarige Herren bei ihm auftauchten – „Kennst mich noch, Hagspiel? Spoerri, Matura 34…Wie? 205? Genau! Schön, dass du mich nicht vergessen hast, Hagspiel“).

War ein Kunde vom Frisör abgefertigt, sollte er vor dem Verlassen des Musikhauses den nächsten in der Reihe aus der Wäscheabteilung nach hinten schicken. Das wurde fast immer vergessen und im Schurbetrieb trat Stockung ein; Gelegenheit für den Frisör zu ein paar ausführlichen Zügen.

Frisch nachgefüllt geriet das Brutwasser in gekränkten Aufruhr angesichts der Notwendigkeit, den nächsten Kunden selbst holen zu müssen. Der Frisör machte sich auf den Weg und schlingerte durch den Gang, hier und da an die Wand stoßend. Solche Erschütterungen rührten das Brutwasser noch mehr auf, ganze Buketts der zischenden Stützwörter stiegen daraus hoch und räumten den Weg frei für die eigentliche Aussage, die spätestens, wenn der Frisör aus dem Gang ins Treppenhaus torkelte, mit Macht erfolgte:

„Wasssjanet…vielleicht aa no abissssla – Taxi?!“

Die glänzende Akustik im Treppenhaus trieb ihn zu immer heftigeren, dann schon gräulichen Wiederholungen, während er sich der Wäscheabteilung näherte. Dort rief dann Frau Thürlimann, wobei ihre Pfunde vor Lachen hüpften, dem säumigen Zögling zu: „Din Tacksi chummt!“

Die Tür ging auf, der Frisör lehnte sich, leicht schwankend, an den Pfosten und brachte die unterwegs eingeübte Frage vor: ob er vielleicht auch noch ein Taxi schicken müsse?! Doch da er zu allem anderen auch noch an würgender Feigheit litt, fragte er es viel leiser als im Treppenhaus und mit niedergeschlagenen Augen.
„Scho rächt, Herr Amassrr“, rief Frau Thürlimann versöhnlich, der das Männchen schon deshalb leidtat, weil er kaum die Hälfte ihres Gewichts auf die Waage brachte, „er chummt glich!“

„Bisssla Taxi?“ bockte der Frisör im Abtorkeln, gänzlich unversöhnt. Denn er war durch nichts zu versöhnen. Er war ebenso wenig versöhnbar wie jemals nüchtern. Er war dauernd besoffen und ein für allemal beleidigt.
In dieser Verfassung schluckte, schmollte und zischte Herr Georg oder, wie man in Wien sagt, Schurl Amasser sich durch sein uneigentliches Leben.


Originale

Der größte Feind der Eigenart ist der offene Raum. In einer Gesellschaft von „strangers“ verliert dieses Wort seine zweite Bedeutung: all diese Fremden sind nicht mehr seltsam, gar nicht merkwürdig. Die Distanz wäscht auch die gefurchteste Physiognomie zum Strichmännchen-Gesicht aus und von den Versuchen der Strichmännchen, sich durch noch stärkere, exzentrische Zeichen auszudrücken, bleiben nur die angestrengten Gebärden wahrnehmbar, mit denen sie Eigenart signalisieren. Und diese Gebärden wirken so auffallend uniform.

Nur Nähe und Geschlossenheit ermöglichen die Eigenart, je näher, desto eigenartiger. Und wenn es ganz eng wird, dann entsteht das Bizarre – dieses zarte Pflänzchen, das am besten in gut abgedichteten Treibhäusern blüht. Dann entsteht das Original, unverwechselbar und unvergesslich.

Im Vergleich zur offenen Außenwelt, wo der Frisör als völlig transparente Null unter den anderen Strichmännchen herumlief, hatte er an der REGINA eigentlich gute Voraussetzungen, ein kapitales Original zu werden. Freilich war die Konkurrenz im Internat groß; vor allem bei den Patres.

Der legendäre P. Weißenfluh, der vor dem Verbot des Kollegs in der Nazizeit und dann wieder in den Nachkriegsjahren Rektor gewesen war, hat die Gründe dafür einmal gegenüber dem Deutschlehrer Prof. Stocker auf einen prägnanten Nenner gebracht. Stocker erzählte das gerne, wie er, blutjunger Student damals, dem Pater sein Geheimstes offenbart hatte – er wolle in den Orden eintreten – und Weißenfluh nur schrill gelacht und gekräht hatte: „Aber Stocker, was für ein Unsinn – du Jesuit?! Schau mich an, schau uns alle an, wir haben doch alle einen kompletten Vogel! Lass gut sein, Stockerle, dafür bist du viel zu normal!“

Stocker ließ gut sein, heiratete glücklich (fünf Töchter), ging als weltlicher Lehrer an die REGINA und überließ sich in jeder Beziehung seiner Normalität; allerdings mit sehr geringen Aussichten, ein in die Legende abhebendes Original zu werden wie etwa P. Weißenfluh selbst. Dessen Person, ein schmächtiger, feuriger, wie von dauernden Windstößen gebeutelter Falke von einem Mann mit heller Schrillstimme, war auch zehn Jahre nach seinem Tod im kollektiven Bewusstsein immer noch ganz präsent.

Keine Rückkehr aus dem öffentlichen Freibad von Valduns, ohne dass nicht irgendeiner, sardonisch fistelnd, Weißenfluh zitierte: „War viel Fleisch im Bad?“.
Und sein schriller Empörungsruf über den Vater des langen Culk, der im Unterricht zu brabbelnder Aufsässigkeit geneigt hatte – „Culk! Murrst du?“ – wurde noch von Hugo als Stimmbildungs-Übung benutzt.

Einen Vogel zu haben, ist eine wichtige Voraussetzung, um sowohl ein Jesuit als auch ein Original zu werden. Denn das muss man erst werden.Niemand ist von sich aus schon ein Original. Man wird dazu gemacht von der Umwelt, die eifrig die mitgebrachten Anlagen ins Relief fräst. Und dabei hatten die Patres, die das kollektive Bewusstsein naturgemäß stärker beschäftigten, sicher einen Vorteil.

Trotzdem konnte auch ein Angestellter in Randfunktion sehr wohl die schöpferischen Kräfte des Bewusstseins erregen. Was war denn mit Hagspiel, dem Genie der Wäschenummern?

Der kleinwüchsige Wäschediener stellte ein beachtliches Original dar, dessen Unsterblichkeit in der Legende längst gesichert ist. Sein Computergedächtnis war zunächst seine eigene Fähigkeit. Doch hätte er es zu solcher Meisterschaft gebracht ohne die öffentliche Aufmerksamkeit? Ohne all die Erfolgs-Erlebnisse, wenn ergraute Herren wässerige Augen bekamen, weil er ihnen nach dreißig und mehr Jahren ihre Wäschenummer auf den Kopf zusagte?

Auch das veranlagteste Original braucht die Ermunterung. Hagspiel bekam sie und er wurde er selbst, indem er die unübersehbare Reihe von Zöglingen, die vielen Tausenden von einzelnen Gesichtern, die im Lauf der Jahrzehnte vor seinen Wäschestapeln vorbeizogen, in einen Index von zeitloser Gültigkeit auflöste – bestehend aus einer ultimaten Anzahl von Wäschenummern, dem jeweiligen Namen und dem Maturajahr.

Doch Hagspiel ging weiter und überschritt vollends die Grenze zum Philosophischen, indem er seinen Ordnungswillen auch in sein Privatleben verlängerte. Er war nämlich begeisterter Bergsteiger und sah sich dabei vor ähnlichen Problemen wie im Beruf. Auch wenn er sich auf die Ostalpen beschränkte und dort eine ganze Reihe von Bergen durch eine gewisse Kurzgliedrigkeit nicht in Frage kamen, blieb doch eine unübersehbare Anzahl möglicher Touren übrig. Das war zu unordentlich.

Hagspiels wahrhaft ordnungschaffende Lösung bestand darin, dass er auf den Rest der Alpen verzichtete und sich auf die ‚Drei Schwestern‘ oberhalb von Valduns spezialisierte. Diesen Gipfel bestieg er nicht nur einmal, nicht nur zehnmal, auch nicht fünfzigmal… die kollektive Aufmerksamkeit war ihm dabei sicher. Das ganze Internat und die Gemeinschaft der Alt-Caelaner zwischen Basel und Buenos Aires zählten gewissermaßen mit.

Und der Frisör?

Der hatte doch noch ganz Anderes zu bieten! Da war bittesehr seine Doppelexistenz, seine gewalttätige Schertechnik, sein Suff, sein Schmollen, sein… sein Goggo! Ganz zu schweigen von seiner rahmensprengenden Sprechweise. Was hätte daraus gemacht werden können!

Wurde aber nicht. Das kollektive Bewusstsein, sonst so kreativ, beim Frisör blieb es untätig. Das Bewusstsein schlief, wie betäubt vom Dunst der Uneigentlichkeit, der über dem Manne lag.

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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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