Markus Fenner
Amassas Zeit
19. und letzte Folge
Sonnenbaden

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die weltweiten Aufbruchsbewegungen erreichen auch das Jesuiten-Internat „Regina Caeli“ als fernes Rauschen. 

In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge Anderl, Hugo und der Schmale einen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen. 

Mehr ein Kind dieser schwärmerischen Zeiten ist die Maturantin Anna. Beharrlich sucht sie nach dem Ansatz für ein wahrhaft selbstbestimmtes Leben.

Seit Anna ihren Nachmittagsfreund Anderl an einem feindlichen Ort empfängt, wird sehr deutlich, dass sie doch ein Mädchen ist.


„Herrschaften, lasst mich nur eins sagen: die Sonne scheint und sie liegt mittendrin!“
Anna blies nur die Lippen auf und verharrte reglos in ihrer steinernen Hingabe. Ächzend zog Anderl das andere Bein unter sich. Kein Stuhl weit und breit, aber das war noch das Wenigste.
„Herrschaften, ich will ja nicht nörgeln, aber… auch ich sitze in der Sonne!“
„Mensch, zieh doch wenigstens die Schuhe aus“, sagte sie träge. Eine unverschämte Zumutung, aber er knurrte nur. Das war diese heimtückische Schlaffheit, die sich immer mehr in ihm ausbreitete.
„Äh, Herrschaften… langsam fehlen mir die Worte“.
„Nicht möglich“ spöttelte es neben ihm.

Anderl kapitulierte. Er sank seitwärts um auf die Decke, die Anna hinter dem großen Fliederstrauch ausgebreitet hatte. Man lag hier gut außer Sicht vom Haus; man lag aber auch außerhalb des Schattens, den etwa die Kastanie zur Linken vergeblich anbot.

Die Wange in der braungewürfelten Wolle, stellte er fest, dass die Sonne, im aufrechten Sitzen noch lichtknüppelartig, hier unten auf der Decke eher flüssig wurde: ein seichter Tümpel aus Hitze. Und im Tümpel auf einmal stark fühlbar die Nähe zu ihrer nur vom Bikini interpunktierten Nacktheit. Und Milch und Haselnüsse, ihr Geruch. Und vor seinem ein offenes Auge ein goldbrauner runder Bizeps. Und dahinter quoll es cremig weiß, blau geädert hervor unter der roten Strippe, nicht gerade voluminös, aber quellend.

Anderl zwinkerte einen Schweißtropfen weg und fühlte deutlich, was es mit dieser verdammten Erschlaffung auf sich hatte: erst löste sie auf, dann begann sie zu ziehen.
„Na, siehst du. Jetzt entspann mal“, lobte die träge Stimme. Entspannen? Ein Wort, das Beine macht. Immer!
Er saß wieder aufrecht, ein wenig schwindlig vom Hochfahren, aber fähig und bereit zum Gegenschlag. Tückisch musterte er ihr friedliches Gesicht, dem die Sonnenbrille etwas Maskenhaftes verlieh.
„Da fällt mir ein, ich hab dich gestern gesehen. Nein, vorgestern. Beim Churer Tor“
„Vorgestern?“
„Du bist gerade in den Luxuswagen von deinem Onkel gestiegen. Er hat dir die Tür aufgehalten… ein Kavalier, dein Onkel“
„Was für ein Onkel? Ach, das war ein Bekannter“
„Freund der Familie, was?“
„Ein Bekannter“
„Wie heißt er denn?“
„Er… kann dir egal sein. Warum hast du dich nicht gerührt?“
„Ich bitte dich, soll dein Onkel mitkriegen, daß du Bekanntschaften mit Jungen hast?“
„Das ist nicht mein… okay, von mir aus!“

„Außerdem hab ich die Szene zu sehr genossen. Onkelchen war einfach großartig. Wie er dir den Wagenschlag aufgehalten hat und dieser zarte Griff nach deinem Schulterblatt, toll… aber auch du, so graziös dich zusammenfaltend, wie eine Rose ihre Blütenblätter… und dann erst Onkelchen, wie er vorm Kühler nochmal stehenbleibt, das Marlboro Profil hin und her dreht, mit Siegerblick. Und das zu Recht, bitte sehr! 1a Karre, 1a Rose an Bord, da ruckt die Schulter behaglich im 1a Freizeitjackett und der Schlüssel wird lässig gezückt! Schließlich 1a Start, gedämpft, aber nervig. Onkel und Rose entschwinden mit 1a Beschleunigung tränendem Blick von begeistertem Betrachter.“

Annas Gesicht war ausdruckslos; mit der verdammten Sonnenbrille auch kein Kunststück. Doch als sie dann etwas sagte, klang es nicht mehr so ganz träge, nicht mehr völlig entspannt: „Du bist doch ein Idiot“.
„Ja, ich geb zu, das mit dem Marlboro Profil stimmt nicht ganz“, sagte er angeregt, „Marlboro ist zu ungehobelt, zu cowboymäßig für dieses Profil. Peter Stuyvesant? Zwar lackierter, aber doch auch ordinär! Etwas Gediegenes, Kultiviertes… sehr viril, aber mit Stil… ha, Dunhill! Ein Dunhill Profil!“
„Hihihi, das ist auch seine Zigarettenmarke!“ Anna brach ab und sagte kalt: „Hör auf mit dem Quatsch!“
„Ja natürlich. Sag mal, beim Aussteigen flitzt er immer außen rum und macht dir die Tür auf, gell, weil Frauen verstehen doch nichts von Technik. Und er geht immer vor dir ins Lokal und knurrt gleich mal die Rivalen an, damit die wissen, das, was jetzt reinkommt, das ist seins, und beim Rausgehen geht er hinter dir, damit sie dich nicht im letzten Moment noch wegschnappen, die bösen Rivalen.“
„Hiiiihihi, hör auf, du Blödmann!“
„Ja gleich. Du, wenn du was gesagt hast, dann macht er doch gern eine kleine Pause, bevor er den sonoren Bronzegong seiner Stimme erklingen lässt, und du wirst schon ganz unruhig – wieder mal was Blödes gesagt? Aber dann lösen sich seine scharfgeschnittenen Züge in einem jungenhaften Lächeln, denn du hast ihn gerührt. Es war zwar doof, was du gesagt hast, aber bezaubernd, so – weiblich eben! Und auch du bist gerührt, was für ein kleiner Junge immer noch in ihm steckt.“

„Mensch, hör endlich auf damit!“
„Klar, sofort, ich meine ja nur, dass so ein ganzer Mann viele Seiten hat, nämlich zwei. Er ist dein Herr, aber auch dein Diener. Weil andererseits macht er sich dann auch wieder ganz klein und unterwürfig, apportiert den Mantel, rückt den Stuhl heran, gibt Feuer, führt dich über jede Stufe wie ein Krankenpfleger, denn dein bezaubernder, wundervoller Körper ist ja so zerbrechlich, eigentlich fast hinfällig.“
„Anderl!“
„- im Grunde für alles ungeeignet, außer für eines, dafür ist er ja sehr gut geeignet, auf dem Kreuz lie-„
„Halt den Mund!“, schrie Anna, steil aufgerichtet. Er schnappte nach Luft und verkniff sich ein Grinsen. Sie starrte ihn durch die Brille an und sagte langsam, sorgfältig zielend:
„Das tut mir wirklich leid. Ich wollte dich nicht eifersüchtig machen“.

Krähend warf er die Arme in die Luft. „Haa, das musste ja kommen! Wenn ein männliches Wesen sich über andere Männer mokiert, gibt es immer nur einen Grund. Tut mir leid, mein Schatz, aber Eifersucht geht bei mir nicht. Dafür bin ich doch viel zu unmännlich. Ich studiere bloß viriles Verhalten, ich finds eben so interressant!“
„Schönes Studieren… mit Schaum vor dem Mund, was?“
„Na ja, sicher nicht ohne ira et studio. Es ist ja auch eine Landplage. Äh, findest du mich zu wenig – objektiv?“
Sie machte „Hach“ und ließ sich auf die Decke zurückfallen. Anderl betrachtete sie friedlich und fand auf einmal, dass er es sich jetzt auch bequem machen könnte. Er legte sich neben sie, zog einen Deckenzipfel über den Kopf und blinzelte in die Sonne. Die schien übrigens auch noch. Aber sonst war es gar nicht so übel. Man fühlte sich ja nahezu wohl…

Plötzlich tauchte ihr Gesicht über ihm auf. Sie sah ernst auf ihn hinab, die Sonnenbrille hatte sie netterweise abgenommen. „Du… vielleicht war das nicht richtig, mit der Eifersucht“, sagte sie tastend. Er nickte vergnügt.
„Aber du hast auch nicht recht damit, dass du so unmännlich bist“
„Willst du mich trösten?“, kicherte er, „echt nicht nötig“.
„Will ich gar nicht“, beteuerte sie, „es ist eben bloß nicht wahr. Im Ernst. Ich finde nämlich, na ja, klingt ein bisschen blöd, aber ich finde dich ziemlich männlich!“
„Was?!“ Er fuhr hoch.
„Wirklich“ beteuerte sie, „schon mal deine Stimme, sie ist so tief und klangvoll.“
„Spinnst du? Gaumig! Sie ist gaumig, weil sie so weit hinten sitzt!“
„Ja-a, so richtig guttural! Und deine Schultern-„
„Meine Schultern sind ganz schmal!“
„Nicht gerade schmal, feingliedrig, ja. Trotzdem wirken sie so – stark. Überhaupt ist es mehr deine Ausstrahlung“, sagte Anna versonnen, „du verhältst dich zwar nicht so, aber du strahlst etwas aus, das ist eben ziemlich männlich“
Er schluckte an seiner Wut. Klar, das war ein Trick, nur ruhig!

„Natürlich hast du schlechte Manieren“, seufzte Anna, „aber macht das allein dich schon unmännlich?“
„Quatsch! Ich hab wundervolle Manieren. Einfach wundervoll!“
„Wo denn? Wann denn?“
„Wann immer es nötig ist“. Er fing ihre Hand ein und beugte sich, gedämpft sprechend, darüber. „Gnädigste haben mich mit Ihren Worten so glücklich gemacht und darf ich zum Zeichen meiner Verehrung-„
Er hob die Hand zum Mund. Sie ließ ihn gewähren mit einem Kichern, das in einen schrillen Schrei umschlug.

„Du altes Schwein!“
Fassungslos hob sie ihre abgeschleckte Hand und stürzte sich auf ihn, um sie in seinem Gesicht abzuwischen. Er kippte nach hinten, bekam noch ihre Handgelenke zu fassen. Als Anna auf ihm landete, bog er mit letzter Kraft ihre Hände auseinander.
„Lass los, du Schleckschwein“, zischte Anna ganz nah über ihm, die Arme auf die Decke gespreizt, „loslassen!“
Sie zerrte und wand sich. Sie war kräftig und er ganz schwach vor Lachen, aber Festhalten war Ehrensache.
„Lass los… du, ich schleck dich!“, keuchte sie. Eine rote Zunge kam zum Vorschein.
„Probier’s doch“, ächzte er und streckte die seine heraus. Drohend machten sie „Ö-Ö“ und fintierten mit gebleckten Zungen hin und her. Anna täuschte rechts an und erwischte ihn mit einem breiten nassen Wischer an der linken Wange. Gleichzeitig zerrte sie, hinterlistig wie sie war, an ihrem rechten Arm. Doch er hatte aufgepasst. Ihre Hand blieb auf der Decke und im Gegenstoß traf er ihren Hals. „Aah“ schrie Anna und stieß auf ihn herab; ein Volltreffer über sein ganzes Auge, während er nur obenhin an ihrem Kinn vorbeiwischte.

Anna wurde dann immer erfolgreicher, denn er konterte nur mehr halbherzig; hauptsächlich, um sie von dem abzulenken, was ihr nackter Körper bei ihm anrichtete. Je länger sie sich auf ihm wand und zappelte, desto schlimmer wurde es. Er war schon gleichmäßig nass im Gesicht, als Annas siegreiche Zunge mit der seinen, die nur mehr ehrenhalber rausgestreckt war, zusammenstieß. Und dann dauerte es eine Zeit, bis sie wieder den Kopf hob.
„Das gilt eigentlich nicht“, sagte sie nachdenklich.
„Strenggenommen“ flüsterte er und suchte in ihrem Gesicht zu lesen, ob sie es merkte. Ihre breiten, abgeflachten Lippen glitzerten vor Nässe, die Bachkieselaugen – grau, grün, gelbe Sprenkel – waren ganz dunkelgrau. Sie sahen ihn ernst an, obwohl sie leichthin sagte:
„Mund, das ist ja ne andere Abteilung“.

Er war ein Idiot, natürlich hatte sie es längst gemerkt! Sie war ja breit und weich geworden wie eine Teigmulde, in die er klopfend hineinwuchs. Sie ruckte und zappelte auch nicht mehr. Behutsam löste sie ihre Hände aus seinem schlaffen Griff und verschob sich gleitend – äh, nicht so – und schleckte langsam, mit Bedacht über seine Stirn. „Weiche-weiche Baby Haut“, flüsterte sie und glitt – nicht so gleiten – zurück und kam wieder zu seinem – du, lieber nicht – Mund. Die zitternden Wellen, die sie jetzt schon bei ganz kleinen Bewegungen in ihm aufrührte, wurden sahnig und fingen an zu rollen. Er riss den Kopf beiseite und rief erstickt:
„Mund gilt doch nicht, oder!“

Er hörte sie atemlos kichern und spürte ihre Finger an seinem Mund und das war zu viel, die Welle bäumte sich auf.
„Aber das gilt, was?!“ flüsterte sie heiser und dann spürte er, wie sie ihm ihre Finger in die Nasenlöcher rammte. Er keuchte auf vor Schreck, die Welle plattete sich ab und rollte ohnmächtig davon, gleichzeitig mit Anna, die von ihm herunterrollte. Er krümmte sich zusammen in einem Krampf von Erleichterung und Enttäuschung. Sie lag neben ihm und atmete hörbar.
„Na ja“ meinte sie mit krächzender Stimme und räusperte sich hart. „Wenigstens sind wir jetzt quitt“


Ende des Fortsetzungsromans im schoepfblog

Da das Interesse an den Fortsetzungsromanen, unabhängig von ihrer Qualität, aufgrund des Leseverhaltens in Online-Medien zu gering ausfällt, wird die Veröffentlichung des Romans „Amassa“ in Absprache mit dem Autor Markus Fenner an dieser Stelle beendet. Interessierte Leserinnen und Leser bekommen das gesamte Manuskript kostenlos vom Autor auf Wunsch elektronisch zugesandt.

Kontaktadresse: amassa@t-online.de


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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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