Markus Fenner
Amassas Zeit
13. Folge. Dornbusch mit Frisör
Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die Aufbruchsbewegungen erreichen das Jesuiten-Internat REGINA CAELI nur als fernes Rauschen. In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge ANDERL, HUGO und der SCHMALE einen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen.
Mehr vom emanzipatorischen Zeitgeist beseelt ist dagegen die Maturandin ANNA, die beharrlich nach dem wahren Ansatz für ein selbstbestimmtes Leben sucht. Schwärmerische Ziele, für die etwa ihr schräger Fast-Freund Anderl nur Hohn übrighat.
Die schwere Musikhaus-Tür fiel hinter ihm zu, nach der Helligkeit draußen machte das Dämmerlicht ihn blinzeln. Hugo sondierte das Geweb von Klängen, das im Treppenhaus stieg und sank – schwach besetzt heute. Ein Klavier, eine Klarinette. An so einem sonnigen Ausgangstag blieben nur die Unentwegten am Ball. Am Fußball?…
Hugo schnitt ein Gesicht. Doch es machte ihm nicht mehr soviel aus. Schon fühlte er, wie in ihm der Takt wechselte und es in ihm verflachte, das Wüten über die zwei Fußballspieler, und über sich selbst, der sein Herzblut an solche Troglodyten…
Jetzt schwang es um, Hugo fühlte es, während er die Treppen hochstieg. Schritt für Schritt wurde es kleiner, driftete ab. Der alte Zauber funktionierte immer noch, wie damals, als die vierzehnjährige Hugolaus den allmächtigen Kategorien des Prügelns, Sportelns und Streberns hierher entkommen war, in jeder Freizeit, heimlich, auf huschenden Lausebeinchen… bis er dann unter Getöse als Hugo der Sänger in die allgemeine Aufmerksamkeit zurückgekehrt war.
Hugo empfand etwas wie Schmerz um diese Jahre und diesen Ort, der ihn unverändert und wohltuend jetzt wieder aufnahm. Im zweiten Stock trat er leiser auf, bis er glücklich an der Tür mit dem Piano vorbei war, hinter der Ganthaler sich gerade um Bach bemühte. Ein Musikhaus-Schwätzchen mit dem Ölkopf, das wäre der alten Zeiten doch zu viel gewesen.
Er kam glatt ins Dachgeschoß. Dort blieb er aber noch im Treppenhaus stecken bei dem Gedanken an sein Studio, das hier öde und verwaist auf ihn wartete. Unschlüssig hockte er sich auf die Treppe. Von unten kam ein zischendes Geräusch. Hugo beugte sich übers Geländer. Da unten, im Erdgeschoß, wurde gezischt. Jemand zischte: „Abisssl iwasssjaneta Taaksssi aa no… vülläicht aa no bisssla Taaksssi oda iwasssjanet am End!“
Schritte schlurften Richtung Wäscheabteilung, wo das Zischen verstummte. Eine Pause trat ein, dann kam es wieder, ein Schlurfen und Brabbeln, aus dem die zischende Worte stiegen, besonders deutlich die Worte „abissl“ und „iwassjanet“.
Hugo war das eigentlich nicht neu. Das war nur der Frisör, auch das Taxi genannt. Hugo hatte ihn schon gesehen, klein, angesoffen und sauer, weil er zur Wäscheabteilung musste. Die Haare hatte er, Gottbehüte, sich nie bei ihm schneiden lassen…
All die Jahre im Musikhaus war der Frisör ihm nie weiter aufgefallen, und jetzt auf einmal das! Hugo fühlte eine große Dringlichkeit in sich aufsteigen, ungeheuer und gestaltlos…. er fühlte, es musste etwas getan werden, aber was?
„Abisssliwasssjanet“ flüsterte er ratlos. Sein Blick blieb am Wandtelephon hängen. Er trat näher und da auf der Karte neben dem Apparat, die alle Anschlüsse in der Regina verzeichnete, stand tatsächlich auch „Frisör-Schreinerei: 23!
Hugo schluckte. Ein scheuer Blick zum Treppenhaus und der Hörer war in seiner Linken. Die Rechte wählte an der Drehscheibe die Zwei und die Drei. Das Tuut im Hörer wiederholte sich als fernes Klingeln durchs Treppenhaus. Der untere Apparat hing offenbar auch im Gang draußen.
Ein Türklappen drang in sein rechtes Ohr, dann knackte es in seinem linken und der Frisör sagte überraschend nah:
„Amassa!”
Hugo lauschte.
“Amassa dahier!”
Hugo lauschte. Am anderen Ende der Verbindung geriet Brutwasser in Wallung:
„Wasssjanet…viellächt aa no abisssla Einladung…wasssjanet schriftlich abisssslnodazu?!“
Hugo hängte auf und merkte es kaum. Vor seinen Augen flimmerte es. Der Name! Hatte er ihn denn nicht schon gehört? Aber eben nur deformiert, in der Vorarlberger Aussprache mit dem harten Schluss-R. Jetzt aber, im Wiener Dialekt, in seiner eigentlichen Gestalt – der wahre Name!
In seinem schwimmenden Blick wurde jetzt das Telefon wieder sichtbar. Von einer sanften, unwiderstehlichen Macht geführt, sah Hugo zu, wie seine Hände den Apparat bedienten. Dann hörte er wieder das Tuten und die Stimme des Frisörs. Gereizt vom vorigen Anruf, nölte sie:
„Abissssl Amassa!“
Plötzlich hörte Hugo eine andere Stimme, die hoch und messerscharf zischte: „Abisssl! Iwasssjanet, Amasssa haasssinet, wasandas wasssinet! Abissssl!“
Damit war Hugo wieder bei sich. Er lauschte auf die schweren Atemzüge im Hörer. Am anderen Ende der Leitung wurde nichts gesagt, auch nicht aufgelegt, es wurde nur geatmet. Schließlich hängte Hugo ein. Er stand in der Nische, blickte blinzelnd ins Treppenhaus, in dem es sehr still war. Jetzt setzte das Klavier wieder ein. Das 5. Präludium und Ölkopf…
Hugo hatte das Gefühl, tief und wunderschön geschlafen zu haben. Er reckte sich ausgiebig. Plötzlich war er richtig glücklich, er fühlte sich großartig…. Das war ja seine eigene Stimme gewesen, die den Spruch gezischt hatte!
Wenn er das Anderl und dem Schmalen erzählte! Dann fiel ihm ein, dass er ja fertig war mit den beiden. Er starrte mit gerunzelter Stirn vor sich hin und begann zu lächeln. Wollüstig dehnte er sich noch einmal. Naja, das war natürlich Unsinn. Er würde ihnen wohl verzeihen müssen. Da war nichts zu machen.
Er stieg langsam und verträumt die Treppe hinab. Er beschloss, den beiden aber nichts davon zu erzählen. Zumindest nicht gleich. Strafe musste sein für die Fußballer…
Es würde ohnehin nicht leicht fallen, davon zu erzählen. Hugo merkte, dass schon jetzt die Erinnerung, was da genau passiert war, verschwommen wurde.
Im Sturmauge
Anderl verstand nicht, was mit ihm los war. Er ging hinter dem schwankenden Frisör den Gang hinab und schaffte es nicht, sein Geschwafel zu stoppen, obwohl dieser unübersehbar besoffene Typ überhaupt nicht darauf reagierte.
Seit dieses Männchen, verbittert vor sich hin zischend, in der Tür der Wäscheabteilung aufgetaucht war, herrschte ein Getümmel aus Beklemmung und Exaltiertheit in Anderl. Es war nicht nur die Angst vorm Haareschneiden, das Männchen selbst übte eine Art Juckreiz auf ihn aus. Und er wusste nicht, wie sich kratzen, außer mit seinem fieberhaften Geschwätz.
„Tut mir wirklich leid, dass Sie mich holen mussten, aber wenn mein Vorgänger nichts sagt, gell, nicht meine Schuld. Mann, was für ein ganger Lang, langer Gang, so ein kleines Taxi, stimmt schon, wäre die Masche…Äh, da hinein?… Sapper-lot, schön eng haben Sie es hier, aha, aha…nicht schlicht, aber einfach, gottseidank nicht schlicht. Da gibt es doch ein Bild von Otto Dax, das zeigt auch einen Frisörsalon und der Frisör, mit Kamm und Schere, der schwebt so halbschräg in der Luft…oder steht er auf dem Kopf? Nein, das ist eher Marc Schakal, jedenfalls, er schwebt, der Dings…“
„Setz di hi abissslda…muaß i di wassjanet neitragn aa no abisssldaeventöi?“
“Nicht nötig, ich sitze schon, ich sitze schon. Ha, nur keine Mätzchen, jetzt kommt das Lätzchen…das Bild heißt übrigens „Der Gott der Frisöre“, aber was ich sagen wollte, mit mir haben Sie nicht viel Arbeit, hinten etwas ausputzen, vorne die Fransen leicht kürzen und in der Mitte lassen wir es wie´s ist, gell…ja, das kämmt sich schwer, ich hab da längst resigniert, haha …schon ein Ding, so ein Frisörstuhl, bin schon ewig nicht mehr in sowas gesessen…erinnert stark an die o-o-minösen Zahnarztstühle, ganz schön verfilzt, was?… Ganz zu schweigen vom elektrischen Stuhl, ich hab da mal ein Foto… huch, jetzt kommt sie, die Schere…also Moment, wiegesagtvorneunuhrwenigundhinten fast- ui! Uii…uiui… naja, seien wir großzügig, wächst ja alles wieder nach ui, ja zappralott…Apropos elektrischer Stuhl, in Amerika haben es die Frisöre es heutzutage wohl noch leichter, da gibt es ja immer noch die Henker, aber bei uns, als Frisör steht man ja konkurrenzlos da auhuuuu!… hu… huhu… in der Tat, sehr schmerzhaft…“
„Bisssliwasssjanet…vielleicht no an leiwanden bissslda Figaro aa no wasssjanetodawia?!“
„Sie haben recht, ich war zu kritisch, wirklich. Was will ich denn, ich lebe noch… hoho, bravo, ein kühner Schnitt!…Wissen Sie, vor Scheren hab ich immer Angst gehabt. Daran ist der Schneider aus dem Struwelpeter schuld, der dem Konrad die Daumen abschnippelt, ich war selber ein bedeutender Daumenlutscher. Das fand ich fürchterlich, dieses eine Bild, wo der grauenhaft dünne Schneider, die grauenhaft große Schere voran, zum Fenster hereinspringt, auf den armen Konrad zu. Der Schneider war für mich nur der ‚Obapier‘ wegen dem einen Vers… warten Sie…“tam-dam schneidet er – ab, als ob Papier es wär“…das geht mir heut noch durch und durch, dieses „ab als ob Papier“, das war das Grauenhafteste von allem. Ich hatte oft Alpträume wegen dem Obapier…da an den Ohren können Sie – haha, was red ich, weg damit!… Klar, der Obapier war ja Schneider, kein Frisör, er kann geradezu als der Gott der Schneider bezeichnet werden…Sie schneiden ja bloß Haare…ich meine, man muss die Unterschiede sehen…er war so dünn und klein und das Schlimmste war – völlig stumm. Springt einfach rein, sagt kein Wort, einfach nur schnipp und schnapp, fertig! Sie reden auch nicht so gern, wie?“
„Bisssliwasssjanet…für de paar Schülling wasssjaneta Konversation aa no abisssldaamEnd?“
„So als Salonlöwe, was? Sie haben schon recht, was soll man groß reden miteinander. Ist ja alles viel zu anonym. Sie kennen mich nicht, ich kenne Sie nicht, weiß ja nicht mal Ihren Namen… so ist das halt an der Regina. Draußen in der Welt würde einfach Ihr Name über dem Laden stehen, zum Beispiel Salon Obapier… nein, das geht nicht, aber sagen wir, keine Ahnung, sagen wir Salon Pielitz und sofort wäre es viel persönlicher. Name ist Macht, wie der Dings sagt… Sie würden natürlich mich auch beim Namen kennen und sofort wären wir in einem angeregten Haarschneide-Gespräch. Dagegen hier…obwohl, vorstellen kann ich mich auch hier! Ich bin der Anderl Am-, äh, Anderl Pielitz heiße ich und wie, sagten Sie, war Ihr Name?“
„Wasssjanet…vielleicht aa no bisssla Visitkartl?“
„Oh, nur keine Umstände, mündlich reicht vollauf. Aber naja, wissen tät ich es schon gerne…“
„Bissslda warum…iwasssjanet alsowia?“
„Warum? Keine Ahnung, man könnte sagen, iwasssjanet… Einfach aus Interesse, oder ist es ein Geheimnis?“
„Wasssjanet Bledsinn abissslda!“
„Ah gut, ich dachte schon, es ist vielleicht ein Geheimnis“
„Wasssjanet Geheimnis…überhauptsnet abisssldahinüber!“
„Warum auch, gell? Von mir kann jeder alles über meinen Namen wissen, ich heiße Albert nach meinem Großvater und Pielitz wie meine Eltern. Was soll daran geheimnisvoll sein?“
„Bisssla Geheimnis…wasssjanet dummes Gred abissldaimEck!“
„Eben, eben.“
„Wasssjanet Geheimnis, so a Bledsinn abissldaherum!“
„Eben, eben.“
„Also Herrgottna…Amassa!“
„Wie bitte?“
„Abisssliwasssjanet, Amassa haass i!“
Der Juckreiz war weg. Anderl fühlte, wie er leer wurde. In ihm war nur mehr Akustik, in der sich der Name ausbreitete:
AMASSA … und dröhnte A und schwang MA und zischte SSA… so ruhig, so hypnotisch.
Es war so stark, dass Anderl das tat, was er bislang peinlichst vermieden hatte: er blickte voll in den Spiegel. Da war ihm gegenüber er und sein bereits brutal gekürzter Schopf und darüber sah er ihn, den Frisör, einwärts geknautschtes Gesicht, etwa faustgroß unter der hohen Stirn, greinende Bewegungen der Kinnlade, irrender Blick. Er fing ihn ein, hielt ihn fest, bis dieser mit flatternden Lidern wieder beiseite kroch. Und dabei immer in ihm der dunkle Gong der drei A, schwingend zwischen Labial und Zischlaut…
„Sind Sie sicher?“, wisperte Anderl in Trance.
Das Gesicht vor ihm stülpte sich wütend einwärts und verschwand aus dem Spiegel. Der Frisör pfefferte die Schere aufs Regal und zischte abgewandt: „Bisssliwasssjanet Frechheit!“
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