Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Fortsetzungsroman
Folge 16
Nicht bestanden. Es war unfassbar.
Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.
Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.
16. Kapitel
Auch Vater hatte damals einen Berufswechsel zu absolvieren, da seine befristete Invaliditätspension auslief. Wegen seiner gesundheitlichen Defekte konnte er nicht mehr als Tischler eingesetzt werden. Auch er musste also für den Bleistift umgeschult werden, wie er grundsätzlich die Büroarbeit bezeichnete.
Er wurde zum Heizungstechniker ausgebildet, bekam dann eine Stelle als technischer Zeichner bei einer Heiztechnikfirma. Damals boomte dieser Geschäftszweig, weil überall Ölheizanlagen in die Häuser und Wohnungen eingebaut wurden. Auch die Firma, bei der mein Vater angestellt war, lief recht passabel, aber eines Tages setzte sich der Chef ins Ausland und auf Nimmerwiedersehen ab, sodass sein Unternehmen in die ewigen Jagdgründe einging.
Vater bekam bald wieder eine Anstellung, diesmal bei einer Firma im Tiroler Unterland, was bedeutete, dass er am Sonntagabend mit dem Zug ins Unterland fuhr und am folgenden Wochenende wieder zurückkehrte. Das war nicht unbedingt angenehm. Wegen des Ortswechsels musste er auch seine Tätigkeit bei der sozialistischen Partei und als Mitarbeiter beim Pensionistenverein einstellen.
Einmal erkundigte sich ein Parteifunktionär und Nationalratsabgeordneter nach ihm, weil er schon länger nichts mehr von ihm gehört hatte. Nachdem er die Hintergründe erfuhr, nahm er mit Vater Kontakt auf und vermittelte ihm eine Anstellung an der neu gegründeten Technischen Universität in Innsbruck. Dort wurde ihm die Leitung der Hausarbeiter übertragen. Das war ein großes Glück, immerhin ging er schon auf die Fünfzig zu.
Ich besuchte damals die Dr.-Wagner-Schule. Die Direktorin der Bürofachschule, Frau Dr. Wagner, war eine stadtbekannte Persönlichkeit, allein schon wegen ihres Auftretens in der Öffentlichkeit. Sie trug ausschließlich schwarze Lederbekleidung und war stets in Begleitung von zwei Doggen in der Größe von Kälbern unterwegs.
Sie war eine strenge Dame, die kein Pardon kannte. Am ersten Tag saßen wir Neulinge im überfüllten Warteraum, wo sie plötzlich – ganz in Leder – auftauchte und als erste Aktion gleich zwei Schüler hinausschmiss. Ihr könnt nach Hause gehen. Was sie verbrochen hatten, weiß ich heute nicht mehr.
Aber mich beeindruckte das sehr, auch wenn es wahrscheinlich ein abgekartetes Spiel war, was ich damals aber nicht für möglich gehalten hätte. Jedenfalls absolvierte ich ein Jahr lang die Dr.-Wagner-Schule. Danach meinte die Frau Direktor, dass es für mich das Beste wäre, wenn ich das Schuljahr noch einmal wiederholen würde, was natürlich nicht in Frage kam. Aber zumindest hatte ich Schreibmaschine schreiben im Zehnfingersystem gelernt, und das ganz hervorragend.
Während meine damaligen Freunde ihren vorgegebenen Weg eingeschlagen hatten, einige in höhere Schulen wie die Handelsschule oder in die Handelsakademie wechselten oder einen Beruf erlernten wie Friedl, hing ich neuerlich in der Luft. Wie sollte es weitergehen? Was sollte aus mir werden?
Meine Schwester arbeitete zu der Zeit als Diätassistentin im Landeskrankenhaus. Sie war todunglücklich und hatte dauernd Probleme mit den Vorgesetzten, die vorwiegend Ordensschwestern waren. Sie wollte sich unbedingt verändern. Nach Abschluss der Hauptschule hatte sie die dreijährige Ferrari-Haushaltungsschule, oft auch abfällig als Knödelakademie bezeichnet, besucht. Dieser Lehrgang sah aber keinen Maturaabschluss vor, der ihr die Möglichkeit eines Studiums eröffnet hätte.
Was Schule und berufliches Fortkommen anlangte, war meine Schwester das absolute Gegenteil von mir. Sie war sehr ehrgeizig, schlechte Noten empfand sie als persönliche Beleidigung. Sie hatte selten schulische Probleme, wenn es um die Leistung ging. Aber sie hatte sehr wohl ihre Probleme, vor allem mit ihren Mitschülerinnen, die vorwiegend aus den besseren Familien der Stadt stammten. In dieser Hinsicht fühlte sie sich benachteiligt.
So wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, Töchter von höheren Beamten oder von angesehenen Familien zu uns nach Hause einzuladen. Wir hatten inzwischen zwar auch ein Eigenheim, aber alles war sehr einfach, entsprach nicht den Standards ihrer Schulkolleginnen aus der Stadt. Das zu zeigen wäre ihr unangenehm gewesen. Auf alle Fälle wollte sie ihren Job an den Nagel hängen und eine Möglichkeit finden, die Matura nachzuholen und ein Studium zu beginnen. Deshalb war sie auf der Suche nach einer höheren Schule mit Maturaabschluss, in die sie einsteigen konnte.
Das war damals auch die Zeit, in der ich eigentlich das erste Mal zu Hause bei meinen Eltern wohnte. Ich hatte mein Zimmer im ersten Stock neben dem meiner Schwester. Neben ihrem schulischen Ehrgeiz hatte sie – und das sollte ich erst später erfahren – auch künstlerische Ambitionen. Sie war voller Pläne. Sie nahm Schauspielunterricht, was ich nicht wusste und was mich auch nicht besonders interessiert hätte. Ich hörte sie nur im Nebenzimmer laut Texte sprechen.
Manchmal schien sie geradezu zu schreien, sodass ich mir Sorgen machte und glaubte, dass sie vielleicht übergeschnappt oder gerade dabei sei. Einmal fragte ich meine Mutter, was mit meiner Schwester los sei, und zur Antwort gab es nur ein Lächeln, ohne eine Antwort auf meine Frage.
Aber nach kurzer Zeit war der Spuk ohnehin vorbei, da sie in Wien bei einer renommierten Schauspielschule vorsprechen war, die Prüfung nicht bestand und danach das Interesse für die Bühne verlor. Meine Mutter war froh, dass sie die Künstlerkarriere nicht weiter betrieb, zumal die Schauspielerei für Frauen ihrer Ansicht nach ohnehin nur über Betten und Besetzungscouchen führte, und für ein solches Schauspiel war die Schwester nicht zu haben.
Schließlich ergab sich für sie doch noch eine Möglichkeit, die Matura nachzuholen, wobei sie über die Ferien den Stoff von drei Jahren Französisch nachzulernen hatte. Mit ihrem Fleiß, mit Unterstützung einer Nachhilfelehrerin und geplagt von dauernden Kopfschmerzen schaffte sie den Einstieg in die vierte Stufe und schließlich dann auch auf Anhieb die Matura. Danach ging sie an die Pädagogische Akademie, wurde Volksschullehrerin und sollte dort nicht nur ihr berufliches, sondern auch ihr privates Glück finden.
Für mich hatten die Bestrebungen meiner Schwester ebenfalls Auswirkungen. Auf der Suche nach einer Schule entdeckte meine Mutter das private Aufbaurealgymnasium im Oberland, die Klosterschule in Stams, die bald nach dem Krieg gegründet worden und damals ausschließlich für Spätberufene gedacht war. Es ging um Priesternachwuchs!
Inzwischen war es ein halböffentliches Oberstufenrealgymnasium, bei dem noch Schulgeld zu bezahlen war. Jedenfalls wurde ich dort angemeldet und beim Erstgespräch auch sofort die Frage gestellt, ob ich mir vorstellen könne, einen theologischen Weg einzuschlagen. Bei meinem Vornamen schien das ja naheliegend.
Die Frage überraschte mich. Als ob ich gefragt worden wäre, ob ich den Beruf eines Astronauten anstreben wolle. Meine Antwort war eindeutig, aber das sollte kein Problem darstellen. Das einzige Problem bestand vielmehr darin, dass eine Aufnahmeprüfung notwendig war.
Diesmal wollten meine Mutter und ihr Chef auf Nummer sicher gehen und ich wurde zu einem Nachhilfelehrer geschickt, der mit mir all das paukte, was ich eigentlich schon längst hätte wissen sollen. Die Aufnahmeprüfung dauerte einen ganzen Tag. Das Ergebnis wurde schriftlich mitgeteilt.
Der Brief, der dann zu Hause einflatterte, war niederschmetternd. Nicht bestanden. Es war unfassbar. Was sollte man da noch sagen? Was sollte man mit so einem Menschen anfangen? Trotz der vielen Nachhilfestunden, trotz dieser Vorbereitung, ein hoffnungsloses Unterfangen.
Aber nach einer kurzen Phase der Verzweiflung gab es dann doch eine Lösung. Mutter ließ nicht locker. Nach Rücksprache mit dem Büro des Aufbaurealgymnasiums wurde vorgeschlagen, dass in diesem Jahr das erste Mal die Möglichkeit bestünde, ein Übergangsjahr zu belegen. Dafür war keine Aufnahmeprüfung notwendig. Hier wurden nur die Hauptgegenstände unterrichtet und bei positivem Abschluss war der Auf- und Einstieg in die Oberstufe ohne Prüfung möglich.
Das war die Lösung! So kam sogar ich noch in eine höhere Schule
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