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Manfred A. Schmid bespricht
Hochmut kommt vor dem Fall.
Musical „Titanic“ im Musiktheater Linz

Eines der schrecklichsten Beispiele für die verhängnisvollen Folgen schrankenloser wie verantwortungsloser Gigantomanie lieferte 1912 der Untergang der Titanic, des damals größten Schiffs der Welt, auf ihrer Jungfernfahrt von Southampton nach New York. Eine Kollision mit einem im Nebel zu spät wahrgenommenen Eisberg führte zur Katastrophe. Von 2208 Menschen überlebten nur 712. In den Rettungsbooten waren 450 Plätze leer geblieben.

Als 1997 am Broadway zu hören war, dass ein Titanic-Musical in Vorbereitung sei, war viel von angeblichen Pleiten und Pannen die Rede. Die Bedenken waren groß, dass sich eine Schiffskatastrophe derartigen Ausmaßes kaum auf die Bühne bringen ließe. Da müsste schon ein monumentaler Hollywoodfilm her.

Und dieser Hollywood-Blockbuster – mit Leonardo di Caprio und Kate Winslet in den Hauptrollen – feierte tatsächlich im selben Jahr seine Premiere wie das Musical, das mit dem Film bis auf den Titel wenig gemeinsam hat.

Allen Warnungen zum Trotz wurde es ein mit mehreren Tony-Awards ausgezeichneter Erfolg. Am Broadway lief „Titanic“ zwei Jahre durch und wird bis heute in vielen Ländern auf die Bühne gebracht. In Österreich zuerst 2012 auf der Felsenbühne von Staatz im Bezirk Mistelbach, Niederösterreich, exakt 100 Jahre nach der Katastrophe, und nun erstmals indoor in Linz.

Das Autorenduo Peter Stone und Maury Yeston stellt, anders als im Film, nicht das Schicksal eines einzigen Liebespaares in das Zentrum, sondern zeigt anhand einer Vielzahl von handelnden und betroffenen Personen an Bord, warum sie dabei sind, welche Erwartungen und Pläne sie nach New York führen und wie sie mit dem weiteren Verlauf des Dramas umgehen bzw. wie mit ihnen – von Seiten des Personals und der Verantwortlichen – umgegangen wird.

Auffallend ist die Klassentrennung, die in der praktikablen Bühne von Charles Quiggin durch Hochfahren und Absenken der verschiedenen Decks gut vor Augen geführt wird. Da sind einmal Millionäre wie Benjamin Guggenheim (Markus Raab), die sich Luxuskabinen leisten können und aus Prestigegründen bei der sensationellen Jungfernfahrt dabei sein wollen. Auch einige schillernde Figuren sind darunter, etwa der Falschspieler Jay Yates (Ulf Bude) oder die exzentrische Millionenerbin Charlotte Cardoza (Vaida Raginskyté). Ein in die Jahre gekommenes Ehepaar, Isidor und Ida Straus, Besitzer von Macy’s Warenhaus, sind in Liebe so stark miteinander verbunden, dass Ida auf die Möglichkeit, gerettet zu werden, verzichtet. Ida (Luzia Nistler, großartig wie immer) will ihren Isidor (Martin Berger) nicht verlassen. Ihr inniges Duett „Wie vor aller Zeit“ geht unter die Haut, und der Umstand, dass ihre Kabine, in der sie ihre Liebe beschwören, dabei in die Höhe gehoben wird, als ob sie in den Himmel fahren würden, tut ein Übriges.

Ganz unten, in der Dritten Klasse, finden sich die Auswanderer, die im Land der unbegrenzten Möglichkeiten auf einen Neuanfang hoffen. Eine der berührendsten Szenen des Musicals ist der ausgelassene Tanz mit Gesang der irischen Auswanderer (Choreografie Simon Eichenberger), die, das Elend ihrer Heimat hinter sich lassend, von ihren zukünftigen Karrieren in der Neuen Welt träumen.

Als die Katastrophe nicht mehr vertuscht werden kann, immer mehr Wasser eintritt und alle an Deck wollen, werden sie durch Absperrungen daran gehindert: Es gibt zu wenig Rettungsboote an Bord. Eine besondere Aura verströmt die schwangere Kate McGowan (Hanna Kastner), die überzeugt ist, noch an Bord einen Ehemann und Vater für ihr Kind zu finden, und ihn in der Person des Jim Farrell (Gernot Romic) auch findet. Die Frischverliebten verlieren sich im Tohuwabohu aus den Augen, gehören aber zu den Glücklichen, die gerettet werden und einander wiederfinden können.

Im Zwischendeck sind die Gäste der Zweiten Klasse untergebracht, auch sie sind meist von hohen Erwartungen erfüllt. Caroline Neville (Judith Jandl) und Charles Clarke etwa (als Einspringer Konstantin Zander, der auch die Rolle des Schiffskapellmeisters Hartley kurzfristig übernimmt), die in Amerika endlich heiraten wollen. Für Heiterkeit sorgt Alice Beane (komödiantisch fein Daniela Dett), die gesellschaftlich aufsteigen will, sich in die erste Klasse drängt und von ihrem genügsamen Mann Edgar (Sam Madwar) mehr erhofft, als er ihr bisher als Gemüsehändler zu bieten hatte.

Natürlich hat auch jedes Deck sein eigenes Personal, das sich um die jeweiligen Gäste kümmert. Höfliche Autorität strahlt dabei Christian Bartels als Chefsteward der 1. Klasse aus. Zur Schiffsbesatzung kommen weiters die Offiziere und die Mitarbeiter in den niederen Diensten bis hin zu den Heizern. Dean Welterlen ist der Kapitän der Titanic, auf seiner letzten Fahrt, bevor er in Pension geht. Er wehrt sich zunächst gegen die Wünsche seines Auftraggebers, J. Bruce Ismay, Chef der White Star Line, das Schiff bei seiner Jungfernfahrt zu überfordern, lässt sich dann aber auf folgenschwere Kompromisse ein.

Ein Kernstück ist die Auseinandersetzung zwischen dem Kapitän, dem ehrgeizigen, rücksichtslosen Schiffseigner Ismay (Karsten Kenzel) und Thomas Andrews, dem Konstrukteur des Schiffes, kurz nach dem Zusammenstoß. Es hagelt an Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Dass Carsten Lepper in letzter Minute als Einspringer für die Rolle des Konstrukteurs gefunden werden konnte, ist ein Glücksfall, denn Lepper hat diese Rolle bereits 2002 bei der deutschen Erstaufführung gesungen.

Berührend ist Einspringer Domen Fajfar als William Murdoch, der als Erster Offizier beim Zusammenstoß mit dem Eisberg Dienst hat und alle Schuld auf sich zu nehmen bereit ist. Eindrucksvoll und gesanglich top gestalten Christian Fröhlich und Lukas Sandmann die Szene, in der der Heizer Frederick Barrett dem Funker Harold Bride einen Heiratsantrag an seine Freundin diktiert, den dieser kostenfrei übermittelt. Wie in vielen Momenten nimmt man daran Anteil, im Wissen dessen, was noch kommen wird.

So viele Akteure auf der Bühne zu haben und ihnen jeweils Gehör und Aufmerksamkeit zu verschaffen, ist eine große Herausforderung. Denn der Vorzug von Titanic kann sich leicht auch in sein Gegenteil verwandeln. Doch Regisseur Simon Eichberger gelingt es vorzüglich, die Menschen und ihre Schicksale und Nöte aus der Anonymität ans Licht zu bringen (Lichtdesign Michael Grundner) und die Menschenmassen am Beginn beim Einchecken, bei ihren gesellschaftlichen Zusammenkünften (Essen), dann aber auch in der brenzligen Krisensituation gut zu steuern und zu koordinieren.

Bei insgesamt 40 namentlich genannten Akteuren, dazu kommen noch der Chor und die Statisterie, ergibt es sich zwangsläufig, dass der Regisseur diesmal auch als Choreograf gefordert ist. Eichberger macht das vortrefflich, kann sich dabei offensichtlich aber auch auf besonders engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlassen.

Dass in Zeiten hoher Omikron-Fälle eine so personalintensive Produktion überhaupt auf die Bühne gestellt werden kann, ist eine besondere Leistung der Musicalsparte des Landestheaters Linz. Zu den drei Einspringern, die bereits gewürdigt worden sind, gesellt sich noch Nathan Mitterbauer als Robert Hitchens.

Besondere Erwähnung verdienen weiters Juheon Han (Studienleitung) und die Regieassistentin Cecilia Ward. Die beiden müssen in den letzten Tagen und Stunden eiserne Nerven und viel Geschick aufgebracht haben.

Die musikalische Leitung liegt in den Händen von Tom Bitterlich, dem souveränen Chef der Musicalsparte, dem Linz schon viele herausragende Performances an der Spitze des auch in dieser Sparte erstklassig ausgezeichnet ans Werk gehenden Bruckner Orchesters Linz zu verdanken hat.

Ähnlich wie Stephen Sondheims Sweeney Todd ist auch Maury Yestons „Titanic“ eine durchkomponiertes, musikalisch anspruchsvolles Musical mit ganz wenig gesprochenen Dialogen. Manchmal pastos beschreibende Filmmusik, dann wieder an Edward Elgar erinnernd, auch von irisch-schottischer Folklore inspiriert, und natürlich auch amerikanisch beeinflusst.

Es gibt große Nummern mit vielen Sängerinnen und Sängern, die sich darin zu Wort melden. Tom Bitterlich gelingt es stets, die Spannung aufzubauen und in Schwingung zu halten. Kraftvoll und gottvertrauend erklingt der Choral, mit dem die auf Deck verbliebenen Menschen auf Aufforderung des Kapitäns dem Ende entgegensehen.

Besonders wehmütig und zugleich ruhevoll und innig ist die Melodie, mit der ein einsamer Geiger im Stockdunkel von einem Spot erleuchtet den Verbliebenen Trost und Zuversicht spendet: „Näher mein Gott zu dir“. Ganz am Schluss finden sich im Vordergrund die wenigen Überlebenden, Geretteten ein. Dahinter, in einigem Abstand, die große Zahl der Toten, bevor sie, nach unten verschwindend, abtauchen.

Begeisterter, lang anhaltender Applaus des sichtlich ergriffenen Publikums im ziemlich ausverkauften Großen Saal des Linzer Musiktheaters. Vorstellungen gibt es noch bis Anfang Juli. Wer hingeht, wird nicht enttäuscht sein.

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Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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