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Manfred A. Schmid
Barockmusik als Sedierungsmittel
Zur Aufführung von Kirill Serebrennikovs
Festwochen-Spektakel
BAROCCO
am Wiener Burgtheater

Kirill Serebrennikovs im deutschen Exil entstandenes Manifest für eine künstlerische Revolte gegen eine Welt, die an ihren gesellschaftlichen Zwängen zu ersticken droht ist eine Art musikalische Revue, die, kreuz und quer durch die Jahrhunderte springend, zeigt, wie gegen politische Unterdrückung protestiert und gekämpft wurde und bis heute gekämpft wird. 

Daniil Orlov, musikalischer Leiter.

Im Mittelpunkt steht das Feuer als Fanal des Aufstands, das immer wieder in gleißenden Videoinstallationen, aber auch auf der Bühne, real entfacht und brennend zu sehen ist. Berichtet wird u.a. von Fällen politisch motivierter Selbstverbrennungen, wobei sich vor allem die medial weltweit beachtete Aktion Jan Pallachs, 1969 in Prag, wie ein rotglühender Faden durch die Fülle der assoziativen Beiträge zieht. 

Damit das alles aber nicht allzu weh tut, erklingt dazu ausdrucksstark gesungene Live-Musik: Glanznummern aus der Barockzeit, begleitet auf dem Keyboard, auf der E-Gitarre, wie auch auf der Trompete, einer Melodica oder von einem Streichquartett: Trost durch Schönheit, Zuflucht in der Welt barocker Töne, in der Lebenslust und Todesahnung, Liebe und Schmerz, Glück und Verzweiflung wundersam und herzergreifend amalgamiert werden. 

Da geht es dann, zumindest musikalisch, zuweilen recht pathetisch zu. Das erfordert Mut zum Kitsch, den man dem russischen Theatermann und Filmregisseur, der in seiner Heimat selbst der Verfolgung ausgesetzt war und eine Zeitlang Regiearbeiten im Westen nur von der Zelle aus leiten konnte, schwerlich zugetraut hätte. 

Doch er steht dazu: Proletarier aller Länder, vergnügt euch! heißt es einmal. Und das erreicht man wohl am besten mit elektronisch aufgepeppter Barockmusik, von Monteverdi über Händel und Telemann bis Rameau und Purcell, aber auch mit einem Musikclown, der über die Bühne, vor allem aber durch die Zuschauerreihen fegt und sich in einem für eine Varieté-Bühne idealen kabarettistischen Medley über musikalische Klischees lustig macht und das Publikum – erfolgreich – zum Mitsingen und Mitklatschen auffordert.

Daniil Orlov, musikalischer Leiter.

Für den magisch wirkenden musikalischen Teil zuständig ist Daniil Orlov, der vom Keyboard aus leitet und erst gegen Ende spektakulär in Erscheinung tritt, wenn er, mit der rechten Hand an einen Polizisten angekettet, zum Flügel geht und mit der linken Hand Bachs Chaconne virtuos zum Besten gibt. Ein beeindruckender Beitrag zur Devise: Die Überwindung der Langeweile wird endgültig sein oder gar nicht! Langweilig wird einem bei all dem so kunstvoll Dargebotenen tatsächlich nicht.

Arien, Tänze und Videoprojektionen machen den Hauptteil des Programms aus, dazwischen eingestreut sind politische und historische Exkurse über Beispiele politischer Unterdrückung und Auflehnung. Aus den jeweiligen Kopfbedeckungen und Kleidungen der auftretenden Akteure lässt sich schließen, ob es sich um Episoden aus der 1968er Bewegung (Pullover) oder etwa den 1990er-Jahren (glänzendes Outfit) handelt. 

Auch ein aus Brasilien stammender Straßensänger, den Serebrennikov in Hamburg entdeckt hat, ist Teil der Show. Jovey, so sein Name, wärmt sich seine Hände am Feuer einer Mülltonne auf, singt und erzählt ein wenig aus seinem Leben und deutet an, warum er emigrieren musste. 

Wärmendes Feuer als kleiner Hoffnungsschimmer in einer ansonsten gar nicht schönen neuen Welt, wenn in Videoeinspielungen Häuser en masse gesprengt werden und in Flammen aufgehen. Da bleibt dann doch wieder nur die Musik als Trostpflaster übrig. Das erinnert an die Operettenseligkeit vor dem 1. Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit, nur dass man bei Serebrennikov nicht räumlich in exotische Länder ausweicht (wie etwa in Die Blume von Hawaii), sondern in der zeitlich noch entlegeneren Barockmusik Zuflucht sucht und diese dort – wie es der begeisterte Schussapplaus nahelegt – offenbar auch dankenswerterweise zu finden glaubt.

Serebrennikovs Manifest entpuppt sich als eine Revue und Show, die zwar auf krasse Missstände hindeutet, gleichzeitig aber die Musik als probates Mittel zur Sedierung und Beruhigung einsetzt. Immerhin nicht als Schlaftablette.

Fotonachweis   Wiener Festwochen / Fabian Hammerl

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Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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