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Klaus Schredelseker
Ansichten eines Neoliberalen
Essay

Ich bekenne mich dazu, neoliberal zu sein. Eigentlich sehe ich mich als Liberalen, das ‚neo‘ steht nur da, um mich nicht als Ewiggestrigen brandmarken zu lassen.

Jedes Denken entwickelt sich weiter und diejenigen, die sich in ihm verbunden fühlen, sind sich nicht nur der ideengeschichtlichen Wurzeln bewusst, sondern befinden sich in der Jetztzeit. Insofern haben wir es auch stets mit Neophysikern, Neotheologen und Neofußballfans zu tun.

Doch Schluss mit sprachlichem Gefinkel. Ich sehe mich als (Neo-)Liberalen primär aus drei Gründen:

(1) Ich bin überzeugt, dass der freie Markt die meisten gesellschaftlichen Probleme besser, effizienter, ressourcenschonender und in weniger freiheitsbeschränkender Weise lösen kann als eine auch noch so gut gemeinte Politik.

(2) Ich sehe Freiheit und Gerechtigkeit in einem immanenten Spannungsverhältnis, was zur Folge hat, dass man situationsbedingt einmal dem einen und einmal dem anderen Priorität einräumen muss: Natürlich kann ein Mehr an Gerechtigkeit zu einer Freiheitseinschränkung führen wie auch ein Mehr an Freiheit zu mehr Ungerechtigkeiten. Ein Wertungsprimat darf es nicht geben, die Entscheidung muss situativ, d.h. problemspezifisch getroffen werden.

(3) Sehr wohl gibt es aber eine Rangordnung. Nicht der Markt kann gesellschaftliche Ziele hervorbringen, sondern nur die Politik in Form eines vernunftgetragenen kollektiven Willensbildungsprozesses.

Politik setzt den Rahmen, in dem der Markt seine Leistungsfähigkeit entfaltet, Politik macht die Gesetze, Politik gibt die Ziele vor, etwa, ob Klimaschutz oder äußere Sicherheit priorisiert werden soll. In den meisten Fällen ist die Politik allerdings gut beraten, wenn sie sich zur Durchsetzung dieser Ziele marktwirtschaftlicher Regelungsmechanismen bedient.

Neoliberale im klassischen links-rechts-Schema zu verorten, ist kaum möglich: wirtschaftspolitisch tendieren sie eher nach ‚rechts‘ (Marktwirtschaft, Unternehmerische Autonomie, Privateigentum etc.), gesellschaftspolitisch eher nach ‚links‘ (Selbstbestimmung, Gleichheit, Pressefreiheit etc.).

Liberale, ob neo oder nicht, waren und sind schließlich die Lieblingsfeinde von Autokraten linker oder rechter Provenienz, ob sie nun Kim-Jong, Xi, Trump, Bolsonaro, Orban oder Putin heißen.

Die Verschiebung der Perspektive zeigt sich besonders augenfällig in Italien, wo ich momentan lebe: Die scheidende Regierung des ehemaligen EZB-Präsidenten Draghi vertritt klar eine neoliberale Position und genießt international höchstes Ansehen.

Von den derzeitigen italienischen Parteien ist es das linke Partito Democratico, in dem Draghi das höchste Maß an Zustimmung erfährt, während die geringste Akzeptanz von den rechten Fratelli d’Italia mit der Wahlsiegerin Meloni kommt (Corriere della Sera vom 1.10.2022). Soweit zu der verbreiteten Meinung, Neoliberalismus sei etwas ‚rechtes‘.

Lassen Sie mich anhand einiger Beispiele neoliberale Positionen verdeutlichen.

Kosten des Studiums: Ich teile die politische Wertungsentscheidung der meisten kontinentaleuropäischen Länder, dass die Bildung junger Leute (von der Vorschule bis zur Universität) nicht an mangelnden ökonomischen Mitteln scheitern sollte und der Staat dafür Sorge zu tragen habe.

Dennoch bin ich für Studiengebühren als Lenkungs- und Anreizinstrument. Allerdings müssen sie so hoch sein, dass sie nicht nur die Leistungsnachfrager, sondern auch die Anbieter disziplinieren. Die 2001 von der Regierung Schüssel eingeführte Studiengebühr von 5000 ÖS (Schilling!) war eine Steuer, die die Studierenden an der Finanzierung der Universitäten beteiligte, ohne dabei irgendwelche verhaltensrelevanten Effekte auszulösen; Profiteure waren allenfalls die Kultureinrichtungen und Verkehrsbetriebe, die nicht mehr Studentenrabatte für Personen gewähren mussten, die längst nicht mehr studierten, aber noch immer kostenlos eingeschrieben waren.

Wenn ein Studienjahr den Staat 20.000€ kostet, sollten die Studiengebühren 20.000€ plus 5.000 € betragen. Unsozial? Nein, denn die Medizinische Universität Innsbruck lässt derzeit jährlich 400 Studenten aufgrund eines aufwändigen und europarechtlich fragwürdigen Testverfahrens zu, die dann ‚kostenfrei‘ studieren können. Würde die Regierung die für die MedUni vorgesehenen Mittel um 10 Mio. kürzen und zugleich 400 Stipendien zu je 25.000€ ausschreiben, wäre das budgetneutral.

– Da die Stipendien nach demselben Test vergeben würden, kämen die gleichen Personen in den Genuss eines ‚kostenfreien‘ Studiums. Unter ihnen wären sogar mehr Österreicher als derzeit, da das europäische Recht zwar Diskriminierung verbietet, nicht aber die Förderung von Ausländern aus Staatsmitteln einfordert.

– Weitere Vorteile: Den Studenten würde der Wert des Studiums bewusst und es gäbe einen Anreiz, das Studium in der Regelstudienzeit (u.U. mit einem Toleranzsemester) zu beenden.

– Wichtiger wären allerdings die Auswirkungen auf das Verhalten der Universität: Auf Druck der Studierenden müsste sie dafür sorgen, dass die Einhaltung der Regelstudienzeit auch tatsächlich möglich ist. Da jeder Student zur Universitätsfinanzierung bei Kosten von 20.000 € ein Plus von 5000€ beisteuert, gäbe es höchstwahrscheinlich schnell mehr als die derzeit ‚maximal bereitstellbaren‘ 400 Studienplätze.

– Einem qualifizierten Ausländer, der in Innsbruck studieren will, würde der rote Teppich ausgerollt anstatt ihm zu signalisieren, dass er eigentlich unwillkommen ist, weil er den österreichischen Bewerbern den von Österreichern steuerfinanzierten Studienplatz wegnimmt.

Vor einigen Jahren habe ich ähnliche Überlegungen in der Zeitung DER STANDARD geäußert und erntete einen shitstorm ungeheuren Ausmaßes. Neoliberales Denken ist out.


Freiheit, Gerechtigkeit und Effizienz

Ich finde es ungerecht, dass im Profifußball die Frauen deutlich weniger verdienen als die Männer: beide geben schließlich für zweimal 45 Minuten ihr Bestes. Dass das so ist, ist nicht Folge frauenfeindlicher Vergütungspolitik, sondern Folge asymmetrischer Marktnachfrage, und es ändern zu wollen, hätte fatale bürokratische Konsequenzen: Um ein Männerspiel sehen zu können, müsste man den Nachweis erbringen, ein Frauenspiel gesehen zu haben; jeder Fußballverein wäre zu verpflichten, auch ein Damenteam zu betreiben. Bandenwerbung bei einem Herrenspiel wäre nur dann zulässig, wenn der Werbetreibende gleichviel Fläche bei einem Damenspiel bucht etc.

Da dies blanker Horror ist, bleiben wir lieber bei den Marktgesetzen des „res tantum valet quantum vendi potest“ (eine Sache ist so viel wert, für wieviel sie verkauft werden kann). Dass dieser ökonomische Wert (Nachfrage) sich vom moralischen (erbrachte Leistung) unterscheidet, ist hinzunehmen.



Ich finde es nicht ungerecht, dass Vermieter bei der Vermietung von Wohnungen Einschränkungen ihrer Vertragsfreiheit akzeptieren müssen. Ein Wohnungswechsel ist für Mieter wie für Vermieter mit Kosten verbunden, nur sind diese für Mieter unvergleichlich höher.

Dies hat zur Folge, dass der Vermieter über ein Erpressungspotential verfügt, das es ihm erlauben würde, jede Mieterhöhung durchsetzen zu können, solange sie unter dem Barwert der Wohnungswechselkosten liegt. Wenn man, wie Hobbes, die Aufgabe des Rechts darin sieht, Kooperationsprobleme kostengünstig zu lösen, liegen die Grenzen der Vertragsfreiheit dort, wo dieses Recht mit den Rechten anderer in Widerspruch gerät.

Neoliberalismus ist zuvörderst eine Geisteshaltung. Er ist ein ganzheitlicher Zugang zu Problemen, der stets die ökonomische, die soziale und die gesellschaftspolitische Dimension vor Augen hat.

Neoliberalismus ist auch eine Denkmethode, bei der dem Begriff der Freiheit ein gewisses Primat, aber kein Absolutheitsanspruch zukommt. Ein Neoliberaler entscheidet sich im Zielkonflikt zwischen ‚sozial‘ und ‚effizient‘ allerdings eher für das letztere, weil er weiß, dass gesellschaftliche Ineffizienzen fast immer auch unsozial sind.

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Klaus Schredelseker

Prof. Klaus Schredelseker: 1962 – 1968, Studium der Betriebswirtschaftslehre und der Rechtswissenschaften in Paris, Mannheim, Berlin und Mailand; 1968 – 1976 Assistent bei Prof. Dr. Klaus v. Wysocki in München; 1976 – 1986 Professor an der Bergischen Universität - GH Wuppertal; seit 1986 Professor an der Universität Innsbruck; 1973 – 1999 Gastprofessuren in Poznan, Strasbourg, Bergamo, Trento, Siena. Begründer und Leiter des Studiengangs Internationale Wirtschaftswissenschaften und Gründungsratsmitglied an der Freien Universität Bozen.

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