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Karlheinz Töchterle
Der Humanismus schaut zurück, um voranzukommen.
Kann uns das heute noch helfen?
Essay

Der Begriff „Humanismus“ hat seit seinem Aufkommen vor gut zweihundert Jahren eine derartige Bedeutungserweiterung und Fülle von Anwendungsmöglichkeiten erfahren, dass er Gefahr läuft, der Beliebigkeit und der Inhaltsleere zu verfallen.

Auch seine allgemein vertraute, weil aus dem Lateinischen in viele moderne Sprachen gewanderte Wurzel „humanus“ scheint ihn davor nicht zu bewahren. Denn mit „menschlich“ kann man vieles benennen, bisweilen sogar Unmenschliches, und zudem gerät ja auch der Selbstbezug auf unsere Spezies zunehmend in Verruf, wie uns z. B. der eher negativ konnotierte Begriff „Anthropozentrismus“ nahelegt.

Wenn man also über „Humanismus“ und seine mögliche Relevanz für unsere Gegenwart und Zukunft nachdenkt, kann es sinnvoll und vielleicht ergiebig sein, von der Genese und ursprünglichen Verwendung des Begriffs auszugehen und seine Einbettung in und Bedeutung für die ihn jeweils umgebenden Kontexte zu betrachten. Daraus lassen sich vielleicht Antworten auf die Titelfrage finden, ob hinter dem Begriff stehende Konzepte für uns eine über rein historische Erkenntnisse hinausgehende Wirksamkeit entfalten können. (Dass solche Erkenntnisse nicht auch für sich selbst schon wertvoll sein können, soll damit nicht unterstellt werden.)

Geprägt wurde der Begriff „Humanismus“ erstaunlich spät, in einer Schrift aus dem Jahre 1808 von Friedrich Immanuel Niethammer, der zuerst als Philosoph in Jena mit Größen seiner Zeit wie Goethe, Schiller und Fichte im Kontakt stand und sodann als Schulmann in Bayern wirkte. Als solcher wandte er sich gegen die aus der Aufklärung kommende Strömung des Philanthropinismus, die im Anschluss an Rousseau eine natur- und kindgemäße, auf die Anforderungen des praktischen Lebens hin orientierte Bildung befürwortete, in der körperliche Ertüchtigung, praktische Kenntnisse und Fertigkeiten und die Schulung von Fähigkeiten in Hinblick auf das künftige Berufsleben im Zentrum standen.

Niethammer verunglimpfte diese z. T. sehr heutig anmutenden Ziele als banausisch und utilitaristisch und prägte als Gegenbegriff für den ihnen ebenfalls zugedachten Vorwurf des „Animalismus“ den des „Humanismus“, zu dem es ja mit dem seit der Renaissance gebräuchlichen „humanista“ und dem von Cicero prägnant gefüllten der „humanitas“ bereits eng verwandte Vorläufer gab. Mit jenem bezeichnete man zuerst im Jargon und in der Folge dann regulär und gängig den Betreiber der „studia humanitatis“, also der antiken Literatur, die man in der Nachfolge Ciceros so zusammenfassen konnte, was bis heute in manchen Sprachen so fortlebt, z. B. in den aus dem amerikanischen Englisch kommenden und insgesamt die Literatur- und Geisteswissenschaften bezeichnenden „humanities“ ebenso wie etwa in der französischen Redewendung „faire ses humanités“, was „in der Schule Latein und Griechisch lernen“ bedeutet.

Auch für Niethammer war „Humanismus“ ein Bildungsbegriff, der vornehmlich auf den Unterricht in den Alten Sprachen zielte und ein zentrales Anliegen der Bewegung darstellte, der man ihn und seine Zeit zurechnen kann, nämlich des bald so genannten „Neuhumanismus“ oder „Zweiten Humanismus“.

Innerhalb dieser Sprachen lag der Schwerpunkt ganz eindeutig auf dem Griechischen, das im Laufe des 18. Jahrhunderts als Träger und Vermittler einer als ideal angesehenen Stufe der menschlichen Kulturentwicklung das vom Renaissancehumanismus zum Muster und Bildungsziel erhobene Latein der römischen Klassik abzulösen begann. Nach Vorläufern wie Johann Matthias Gesner, der sich an der Universität Göttingen verstärkt den Griechen zuwandte, war es vor allem Winckelmanns Schrift „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“ von 1755, die der neuen Bewegung Bahn brach. Die antiken Griechen wurden, in Deutschland auch befördert durch die Möglichkeit, sich dadurch von der bisherigen kulturellen Vorherrschaft durch die Romanen zu emanzipieren, nun zum Muster idealen Menschentums gehoben, das es in allen Bereichen, vor allem aber in Kultur und Bildung wieder zu erreichen galt.

Während in Winckelmanns Programmschrift, schon in ihrem Titel sichtbar, sich diese Griechenbegeisterung in erster Linie an der bildenden Kunst entzündet, werden in den neuhumanistischen Bildungsprogrammen Sprache und Literatur der Griechen die zentralen Medien, um sich dem neuen Ideal anzunähern und es schließlich wiederzugewinnen.

Die Hauptgründe dafür liegen einerseits in der grundsätzlichen sprachlichen Verfasstheit des abendländischen Bildungskanons, auf die noch zurückzukommen sein wird, andererseits in den spezifischen Anschauungen des führenden Programmatikers der neuhumanistischen Bildungsreformen, Wilhelm von Humboldt. Für ihn ist Sprache nicht nur Medium und Trägerin geistiger Inhalte, sondern sie konstituiert jene. Die griechische Sprache ist also nicht lediglich Vermittlerin der griechischen Kultur, sondern eine ihrer wesentlichen Erscheinungsformen und als solche herausragend. Sie bildet daher den Kern des von ihm konzipierten „humanistischen Gymnasiums“ und nimmt gemeinsam mit dem Lateinischen mehr als die Hälfte der Unterrichtszeit in Anspruch.

Humboldts Sprachphilosophie verstärkt und spezifiziert allerdings nur einen Grundzug der abendländischen Kulturentwicklung, in der sich das am Neuhumanismus beschriebene Denkmuster immer wieder konstatieren lässt. Das Denkmuster kann so zusammengefasst werden: Eine als ungenügend empfundene Gegenwart wird als Verfall eines einst idealen Zustands interpretiert, dessen Wiedergewinnung Besserung verheißt. Wiederzugewinnen ist vor allem Sprache und Literatur des in Verlust geratenen Ideals.

Die besondere Begründung dieser Fokussierung auf Sprache bei Humboldt und die dortige Verengung auf Bildung ist zwar typisch, hat aber keine generelle Geltung für die Bewegung des Neuhumanismus, der, wie Winckelmann zeigte, durchaus auch andere Felder des altgriechischen Ideals im Blick hatte und auch, wie uns etwa die deutsche Klassik erweist, doch beträchtlich über den engen Bereich der Bildung hinausstrahlte.

Gleichwohl standen Sprache und Literatur in allen Ausformungen des oben skizzierten Musters im Zentrum. Das Muster selbst erscheint natürlich in zahlreichen Varianten, aber die genannten Kennzeichen lassen sich immer mehr oder weniger deutlich ausmachen.

Eine historische Durchsicht könnte mit dem ersten Text der abendländischen Literatur beginnen, mit der Ilias. Schon sie ist auch Rückblick auf eine als vorbildlich empfundene ‚ritterliche’ Adelsgesellschaft, wobei das in Anführungszeichen gesetzte Attribut mit der Absicht gewählt ist, die späteren, ebenfalls unserem Schema nahen Analoga von Heldengedichten zumindest aufzurufen, wenn sie im Folgenden auch aus Gründen der Darstellbarkeit nicht weiter traktiert werden. Sie deckt das Schema allerdings nicht vollständig ab, wenngleich auch die Sprache der Ilias zumindest einen Teil von überkommenen Formeln und Begriffen enthält.

Bereits im sechsten Jahrhundert v. Chr. wird Homers Text übrigens selber schon Objekt eines Rückbezugs, als er unter der Tyrannis der Peisistratiden im Rahmen einer generell forcierten Kulturpolitik die Identität Athens und damit diese Herrschaftsform stützen soll.

Eine ähnliche politische Funktion hat der Rückbezug auf die griechische Textwelt insgesamt dann unter den Nachfolgern Alexanders in Ägypten. Schon deren erster, sein General und Dynastiegründer Ptolemaios, errichtete das „Museion“ in Alexandria, um dort griechische Literatur in ihrer ganzen Breite zu sammeln und für einen Forschungsbetrieb bereit zu stellen. Dieser umfasste primäre philologische Aufgaben wie Echtheits- und Textkritik oder Interpretation, aber auch Lösungsversuche für eine Fülle weiterer Fragestellungen, z. B. auch mathematischer, naturwissenschaftlicher oder medizinischer, die sich aus der Bearbeitung der dort verfügbaren Literatur ergaben. Gleichwohl fungierte als Berufsbezeichnung für die dort tätigen Forscher „philólogos“, was erneut auf die Prävalenz der sprachlich-literarischen Seite dieser Bemühungen verweist.

Die erste vollständige Ausprägung des oben herausgestellten Denkmusters findet sich dann in der Bewegung des Attizismus, die im ersten Jahrhundert v. Chr. einsetzt und ihren Namen eben vom Rückbezug auf Autoren des fünften und vierten Jahrhunderts hat, also aus der großen Zeit Athens. Seinen Ausgangspunkt nimmt der Begriff von einer Sprach- und Stildebatte. Da dient er zunächst als Gegensatz zum „Asianismus“, wie man den Stil vor allem von Autoren des dritten Jahrhunderts aus Kleinasien abwertend bezeichnete.

Dieser Stil weist Kennzeichen auf, die sich auch in späteren Zeiten immer wieder finden und auch dort zur Zielscheibe von Kritik und zum Anlass für Appelle der Umkehr und der Erneuerung werden, z. B. manierierte, schwülstige Ausdrucksweise oder syntaktische Unausgewogenheit zwischen Monstersätzen und abgehackter Redeweise. Auch die in der hellenistischen Epoche nach Alexander in die nun weit verbreitete griechische Sprache (die daher koiné, „Gemeinsprache“ genannt wurde) eingedrungenen Neologismen und Anleihen aus anderen Sprachen sowie ihre naturgemäß erfolgte grammatikalische Weiterentwicklung stießen auf Kritik.

Dagegen setzte man das Ideal des Attischen und erhob dessen Sprecher und Schreiber zu nachahmenswerten Mustern, bisweilen in einer Strenge, die dann auch etwas ‚großzügiger’ schreibende Autoren wie Cicero aus dem engsten Kreis dieser Attizisten auszuschließen drohte. Die Ideale des Attizismus erfassten also auch die lateinische Literatur, wo z. B. Caesar sich der Bewegung zugehörig zeigte und dies in seiner Schreibweise dokumentierte (auch deswegen ist er bis heute Schulautor und gilt als ‚leicht’).

Dieses Phänomen steht in engem Zusammenhang mit der generellen Ausrichtung der römischen Autoren der späten Republik und der frühen Kaiserzeit an den großen griechischen Mustern, womit sie zu Trägern eines „römischen Klassizismus“ werden – ein weiterer Teilaspekt unseres Schemas, der sich ebenfalls auch in anderen Zeiten und Entwicklungen auffinden ließe.

Innerhalb der griechisch schreibenden Kultur bediente der Attizismus aber auch die Sehnsucht nach der einstigen Größe Athens, der man zumindest in Sprachform und Themenwahl wieder nahezukommen strebte, wobei der puristische und auch der nostalgische Furor mit der Zeit zunahmen, sodass bei manchen Programmatikern und Praktikern ab dem späten ersten Jahrhundert n. Chr. nur noch rein attischer Wortschatz und attische Grammatik als erlaubt galten. Das mündete in die sogenannte „Zweite Sophistik“, die in ihrem Rede- und Literaturbetrieb Kennzeichen ihrer ein halbes Jahrtausend vorausgehenden Namensgeberin aufnahm und exzessiv weitertrieb.

Man könnte in der Antike weiteren Ausprägungen unseres Schemas nachgehen, wenn es dort auch nicht jeweils in vollem Umfang und vor allem nicht in einer so starken Durchdringung von Kultur und Gesellschaft auffindbar ist. Zu erwähnen wären etwa der Ciceronianismus Quintilians nach einer manieristischen Stilepoche unter der Leitfigur Seneca oder die pagane Reaktion auf die Ausbreitung des Christentums in der Spätantike, wo man im Rückgriff auf die Gipfelpunkte römischer Literatur, die mit jenen römischer Macht einhergehen, nochmals gegen die neue, nun auch von den Kaisern unterstützte Bewegung anzukämpfen sucht.

Exemplarisch ist etwa die Vergilverehrung in den „Saturnalia“ des Macrobius. In den dort vorgeführten Gesprächen gebildeter und hochstehender Römer aus der Zeit um 400 nach Christus wird Vergil zum herausragenden Künder römischer Kultur und seine Rezeption zum erhofften Hilfsmittel für den Weiterbestand römischer Größe.

Hier zeigen sich die in dieser Argumentation herauszustellenden Züge antiken Denkens nochmals in besonderer Dichte: Der Vergangenheitsbezug als Rettungsanker in einer in die Irre gehenden Zeit und als dessen Medium ein exemplarischer und daher als klassisch empfundener Text.

Vergil als von Macrobius empfohlenes Heilmittel weist aber erneut auch auf ein generelles Signum der antiken Kultur, dass nämlich in ihrem Zentrum Texte standen, insbesondere Homer bei den Griechen und Vergil bei den Römern. Sie sind Identitätsstifter und Lehrer, deren sich schon der Schulunterricht bediente. Dieser selbst wurde – folgerichtig – spätestens ab dem fünften Jahrhundert v. Chr. immer einseitiger ein Sprach- und Literaturunterricht und blieb dies – mit Abstrichen und Einsprengseln und beträchtlichen Varianten – zumindest in Europa bis heute. Einsprüche, wie der Hinweis auf die Welt der Dinge bei Comenius, der schon erwähnte Praxis- und Berufsbezug der Philanthropinisten oder auch verschiedene neuere Gegenentwürfe setzten sich nicht durch, zumindest nicht breitflächig. Erst heute scheint diese Textkultur allmählich zu verschwinden: Vor diesem Hintergrund erhält Lyotards Metapher vom Ende der großen Erzählungen eine wörtlich zu nehmende Bedeutung.

Das Signum der Textkultur wird durch das Christentum noch verstärkt, durch die Bibel als dessen Basis sowie durch deren Auslegung und Verkündigung als den wichtigsten Obliegenheiten seiner Kultur. Schon von dieser formalen Seite her gibt es also keinen Bruch in der Kulturtradition, die aber auch inhaltlich gefestigt bleibt:

Gerade Vergil, aber etwa auch Cicero oder Seneca gelten über die erst viel später gelegte Epochengrenze des Mittelalters hinweg auch den Christen als wichtige Autoren. Bei Vergil konnte als äußerliche Legitimation einer heidnischen Lektüre dessen vierte Ekloge dienen, die gemeinhin als Prophezeiung für das Kommen des Erlösers gedeutet wurde, bei Cicero und Seneca waren es neben dem sprachlichen Glanz die Nähe ihrer vor allem stoisch geprägten Positionen zur christlichen Ethik, die ihrerseits ja ganz wesentlich von der antiken, insbesondere eben jener der Stoa, geprägt ist.

So blieb über das ganze Mittelalter hinweg die antike Literatur (die griechische im Westen Europas allerdings vornehmlich nur durch Übersetzungen) nicht nur eine bedeutende, ja unersetzliche Quelle für fast alle Wissensgebiete, sondern auch des Lesevergnügens und bot zudem zeitgenössischen Autoren nahezu unerschöpfliche Anregungen zu Nach- und Neuschöpfungen. Als prägnanter Beleg dafür mag der Hinweis auf das Phänomen genügen, dass man ganze Epochen nach den jeweils dominierenden lateinischen Vorbildern benennen und so eine aetas Virgiliana, Horatiana und Ovidiana unterscheiden konnte.

Zudem finden sich durch das ganze Mittelalter hindurch Manifestationen unseres Rückgriffs- und Erneuerungsschemas, die man dann bisweilen auch mit den entsprechenden Termini einer „Renaissance“ oder eines „Humanismus“ versehen hat. Die geläufigste unter ihnen, die „karolingische“, nähern auch einzelne Züge an die spätere Namensgeberin an, und auch sie hat das Bemühen um eine an antiken Vorbildern ausgerichtete Sprachreform in ihrem Kern.

Diese in erster Linie soll den Grund legen für eine in allen Bereichen des religiösen und mit ihm eng verbundenen staatlichen Lebens angestrebte ‚korrekte’ Einheitlichkeit. Sogar die vor allem von der Scholastik vorangetriebene – oder auch in sie mündende – Hochzeit der lateinischen Literatur insbesondere im Frankreich des 12. Jahrhunderts konnte später als mittelalterlicher „Humanismus“ bezeichnet werden, ungeachtet der scharfen Gegnerschaft, die der spätere und ‚eigentliche’, nämlich jener der Renaissance, dann zur Scholastik bezog.

Die Scholastik bediente sich eines modernen Lateins, das im Laufe seiner mehrhundertjährigen Weiterentwicklung sich natürlich in allen Bereichen, die Sprachen kennzeichnen, von denen der Antike unterscheiden musste. An Besonderheiten kommen hier hinzu, dass es den Einflüssen aus unterschiedlichsten Sprachkulturen ausgesetzt war und insbesondere in den überaus differenzierten theologischen und philosophischen Diskussionen des späten Mittelalters eine spezielle Begrifflichkeit entwickeln musste.

Diese Sprache geriet ab dem Spätmittelalter im Verein mit der dadurch vermittelten Denkweise allmählich in Verruf und wurde als Entartung gesehen, die es durch den Rückgriff auf ihren Ausgangspunkt, nämlich die Sprache und Literatur der römischen Antike, zu überwinden galt. So lautet der Grundzug des humanistischen Programms der Renaissance, immer wieder verkündet seit ihrem Beginn bei Petrarca bis hin zu späteren und klassisch gewordenen Vertretern wie Erasmus, der es schon in einer seiner frühesten Schriften, den „Antibarbari“ so formuliert, wobei er in seinem späten „Ciceronianus“ auch vor dem Überschwang einer zu engen und zu sklavischen Nachahmung warnt, die der neuen Zeit keinen Raum, weil keine Begriffe mehr gebe.

Mit dem Rückgriff auf die Sprache der Antike hoffte man auch deren Höhe auf anderen Feldern, natürlich auf dem der Bildung insgesamt, aber auch dem der Moral und der Politik und, am wichtigsten, auf dem der Religion wiederzugewinnen: Anders als dann im paganen Neuhumanismus lief vieles auf dieses Ziel hinaus, wie etwa die hier nur anzudeutende Linie von Lorenzo Vallas „Elegantiae linguae latinae“ über das bilingue Neue Testament des Erasmus bis hin zu Luthers Bibelübersetzung und die Reformation insgesamt bezeugen möge.

Im Humanismus der Renaissance findet sich das in der europäischen Geistesgeschichte verortete und hier exemplarisch herausgestellte Schema am deutlichsten ausgeprägt. Dort entfaltete es auch seine weitreichendste Wirkung, weil seine Reformansätze auf breiter Front der insgesamt religiös grundierten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verfasstheit entsprachen. Der Rückgriff auf Ursprünge oder auch einmal schon erreichte höhere Entwicklungsstufen konnte auf vielen Feldern als Besserung oder Fortschritt gelten.

Zur Veranschaulichung mag genügen, auf die von den drei höheren Fakultäten der damals entstehenden Universitäten beackerten zu verweisen. Auch der Fokus auf Sprache und Literatur ist zumeist, etwa in Theologie oder Recht, noch überaus schlüssig. Wo nötig und angebracht, treten aber auch neue hinzu, wie etwa die Hereinnahme von Empirie und unmittelbarem Zugriff auf der Basis antiker Vorläufer in der dritten Fakultät, der medizinischen, zeigen. Sie beginnen, wie viele andere Phänomene der Renaissance, schon im Spätmittelalter, wie die Darstellung einer Sezierung auf einer Oxforder Miniatur aus der Mitte des 13. Jahrhunderts oder der Bologneser Anatom Mondino de’ Liucci Anfang des 14. Jahrhunderts belegen können, und finden ihren wohl anschaulichsten Beleg in den „anatomischen Theatern“ ab dem 16. Jahrhundert. Hier wird der Weg zu einer modernen, erstmals nicht mehr nur antiken Konzepten geschuldeten Weltanschauung und Weltaneignung mit entsprechenden Folgen auch für Wissenschaft und Bildung geöffnet.

Während die Wissenschaft diesen Weg weitergeht, wenn auch anfangs nur vereinzelt und kaum an den Universitäten, verengt sich jener der Bildung im Neuhumanismus wieder auf den Fokus von Literatur und Sprache und verlängert damit letztlich antike Traditionen sowie jene der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lateinschule bis in die Moderne, besonders deutlich nach dem Abklingen des neuhumanistischen Schwungs mit einem nochmals erstarkenden und auf aktive Sprachbeherrschung zielenden Lateinunterricht in der Restaurationszeit des 19. Jahrhunderts.

In Wechselwirkung tritt die Reform der Ausbildung der Sekundarschullehrer hinzu, in der sich neben den schon erwähnten Programmatikern Gesner und Humboldt vor allem der oft als Begründer der modernen Klassischen Philologie apostrophierte Friedrich August Wolf hervortat. Er sieht sein „philologisches Seminar“ als die nun adäquateste Ausbildungsstätte für Lehrer des neuen „humanistischen Gymnasiums“ und begründet damit nicht nur einen für fast eineinhalb Jahrhunderte das deutsche Bildungsbürgertum prägenden Stand, sondern auch das Paradigma für eine als ideal angesehene, vor allem an einer jeweiligen Fachwissenschaft ausgerichtete Ausbildung von Sekundarschullehrern.

Im Laufe seiner nunmehr über zweihundertjährigen Geschichte hat der einstige Idealtypus des humanistischen Gymnasiums, das von Preußen aus das Sekundarschulwesen vieler anderer Länder und Regionen prägte oder zumindest stark beeinflusste, weitgehend an Bedeutung verloren. In ihm selbst ist der einstige Kern, die Alten Sprachen, ganz an den Rand gedrängt, und dazu ist eine große Fülle anderer Formen getreten.

Gleichwohl ist im deutschen Kulturraum, in den ich hier Österreich einschließe, das erst in den Reformen von 1848/49 den preußischen (und bayerischen) nachfolgte, das einstige Ideal, genauer: der ihm zugrundeliegende, aus der Antike stammende Fokus auf Sprache und Literatur, noch fühlbar, und zwar im Verein mit anderen Einseitigkeiten mit oft ähnlich langer Tradition. Als Beleg führe ich nur die schlichte Tatsache an, dass Sprachfächer immer noch als „Hauptfächer“ gelten, während solche, die „Realien“ traktieren (ein Begriff aus der neuhumanistischen Philologie, wo jene letztlich nicht um ihrer selbst willen, sondern nur als Hilfsmittel der Textinterpretation bedeutend waren), sich mit der Rolle als Nebenfächer mit deutlich geringerem Stundendeputat zufrieden geben müssen.

Die ‚Welt der Dinge’, die einst schon ein Comenius, dann die Aufklärung und in neuerer Zeit nicht wenige reformpädagogische Strömungen ins Zentrum des Unterrichts rücken wollten, ist, zumindest konzeptuell, immer noch nicht vollständig dort angekommen.

Als wichtigste weitere Einseitigkeit sei die mit obigem Fokus einhergehende (wenn mit ihm auch nicht unbedingt notwendig verbundene) Verengung auf eine kognitive Bildung genannt, die zur Abwertung oder gar völligen Absenz anderer Bereiche führt, die man, da gesellschaftlich bedeutsam, durchaus auch als Gegenstände schulischer Bildung erwägen könnte.

Ganz am Rande steht etwa die körperliche Bildung. Sie war im frühgriechischen Adelsideal der „Kalokagathia“ noch wichtiger und selbstverständlicher Bestandteil von Bildung und lebt im Begriff des „Gymnasiums“ ja sogar bis heute fort. Aus der ursprünglich damit bezeichneten Übungsstätte, in der man nackt Sport und Wettkämpfe betrieb, entwickelte sich schon in hellenistischer Zeit ein Schultyp mit vor allem musischen und sprachlichen Fächern. Diese begannen dann allmählich so zu dominieren, dass „grammaticus“ zur Bezeichnung für „Lehrer“ werden konnte.

Der schon bei Platon angebahnte Dualismus von Geist und Körper mit Abwertung des zweiten verstärkte sich in der spätantiken Askese und im Christentum beträchtlich und führte zur nahezu gänzlichen Eliminierung körperlicher Ertüchtigung aus den Bildungszielen. Adelsgesellschaften lagerten sie in vormilitärische Übungen aus, solche und bürgerliche dann, von England aus, in den Sport. Sozial tiefer stehende Schichten verspürten nach ihr aus naheliegenden Gründen kaum Bedürfnis.

Ähnliches gilt von der Antike bis weit in das 19. Jahrhundert hinein für den handwerklichen, technischen und künstlerischen Komplex. Er hatte insgesamt geringes Ansehen, was für die Antike schon die sehr negativ konnotierte Berufsbezeichnung bánausos ausreichend belegt. Das erstaunt einerseits angesichts des hohen Renommees von Spitzenleistungen etwa im Bereich der bildenden Kunst, das sich auch narrativ niederschlug (Dädalus, Pygmalion, Apelles …), andererseits auch in Hinblick auf die einheitliche Begrifflichkeit für die entsprechenden Kenntnisse und Fertigkeiten, téchnai bzw. artes.

In ihnen wurde aber zwischen gesellschaftlich niedereren und höheren unterschieden, und diese zweiten erhielten ab der späten römischen Republik das Attribut liberales („zu einem freien Mann passend“ bzw. „seiner würdig“) und wurden dann in einer Siebenzahl zusammengefasst und kanonisch. Als solche tradierten sie das antike Wissen und dienten als Sammlung und Strukturierung von dessen Stoffen. In den höheren Schulen wurde davon fast nur das sprachliche Trivium Grammatik, Rhetorik und Dialektik gelehrt, an der propädeutischen Artistenfakultät der Universitäten dann auch das Quadrivium Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik.

Schon diese Zusammenstellung zeigt, dass Musik hier in erster Linie als mathematisches, theoretisches Fach verstanden wurde, wie es vor allem Boethius an das Mittelalter weitergegeben hatte. Musik war allerdings auch als betätigte und aufgeführte Kunst stets schulisches Bildungsgut, insbesondere wegen ihrer Präsenz in Ritus und Kult, was sich wiederum in christlicher Zeit einerseits verstärkte, andererseits verengte und heute an den Rand gerät.

Als Unterhaltung hingegen war auch sie über lange Zeiten vornehmlich das Geschäft niederer Schichten und daher niemals Schulfach, und auch heute führt sie, trotz ihrer beträchtlichen gesellschaftlichen und auch ökonomischen Bedeutung, in der Schule nur ein Schattendasein.

Man könnte auf diese Weise noch weitere Bereiche aufspüren, deren Fehlen im Fächerkanon heutiger Schulen unseres Kulturraums angesichts ihrer sonstigen Präsenz verwundert oder verstört. Genannt seien nur, beispielshalber, Ökonomie, Politik oder Gegenstände aus dem weiten sozialen oder dem psychologisch-emotionalen Feld. Nicht alles davon kann in einem Fächerkanon angemessen Platz finden. Aber zumindest eine verstärkte Diskussion um dessen Umgestaltung im Wissen um seine historische Bedingt- und Beschränktheit und auch über die daraus resultierenden Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung, z. B. ganz schlicht, was Fächer- oder Stundengrenzen betrifft, sollte angestoßen werden.

Wie viel Raum aber bliebe in diesem neuen Kanon noch für Humanismus? Wenn man den Begriff weiter fasst, etwa im Sinne von Julian Nida-Rümelin als – insgesamt wohl doch europäische – „Leitkultur“, wäre er zweifellos beträchtlich, sowohl stofflich als auch vom Bildungskonzept her, wobei beides interferierte. Denn dessen Signum läge ja in einer möglichst allseitigen Bildung des Individuums ohne spezielle Zurichtung auf mögliche spätere Brauchbarkeit, und da bietet die – auch hier skizzierte – europäische Bildungstradition eine Fülle von Anschlüssen.

Auch die Alten Sprachen könnten noch Platz in diesem Kanon beanspruchen, wobei die Erfüllung zweier Bedingungen förderlich wäre: Erstens muss ein solcher Kanon angesichts seiner Fülle nach und vielleicht auch neben dem Erlernen der wenigen für alle unentbehrlichen Kulturkompetenzen sich wohl schon in der Sekundarstufe I in verschiedene Typen differenzieren, die nach Begabung, Interesse, Leistungswillen und vielleicht doch auch nach späteren Berufsabsichten gewählt werden.

In diesen Typen sollte es, zweitens, natürlich auch weiterhin einen mit sprachlich-literarischem und historischem Schwerpunkt geben. Er sollte mit gleicher Berechtigung und Wertschätzung neben allen anderen stehen, etwa auch neben einem mit handwerklichem Schwerpunkt, der dann ins Künstlerisch-Kreative oder ins Technisch-Innovative ausgriffe.

Die zu erwartende Selektion brächte für alle Typen einen tauglicheren Kreis von Adressaten. Im sprachlich-literarisch-historischen Typus könnte man auch den Alten Sprachen wieder mehr Raum und mehr Gewicht beimessen. Dann kämen ihre auch für unsere Zeiten wichtigen Bildungsleistungen, wie etwa das Aufsuchen der uns bis heute mitprägenden griechischen Geistes- und Kulturwelt oder die reflexive und mikroskopische Arbeit an einer Sprache wie dem Lateinischen, dessen Kenntnis in lexematischer und struktureller Hinsicht eine treffliche Basis für die erwünschte Mehrsprachigkeit im heutigen Europa lieferte, wieder besser zur Geltung. So würde in diesem Typus wieder eine humanistische Bildung erworben, die diesen Namen verdiente, auch im hier bevorzugten engeren Sinn.


Bibliographie

Die sehr enge Auswahl enthält nur für diesen Beitrag Grundlegendes und mehrfach Herangezogenes sowie jüngere eigene Arbeiten zum Thema, in denen hier nur Angedeutetes ausführlicher behandelt wird.

Florian Baab, Was ist Humanismus? Geschichte des Begriffes, Gegenkonzepte, säkulare Humanismen heute, Regensburg 2013.

Rudolf Burger, Das Elend des Kulturalismus. Antihumanistische Interventionen, zu Klampen 2011.

Manfred Fuhrmann, Latein und Europa. Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland: von Karl dem Großen bis Wilhelm II., Köln 2001.

Julian Nida-Rümelin, Humanismus als Leitkultur. Ein Perspektivenwechsel, München 2006.

Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, Hamburg 2013.

Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, 2 Bde., 3. Aufl. Berlin und Leipzig 1919-1921.

Karlheinz Töchterle, Braucht es einen Vierten Humanismus? Oder: Haben die Alten Sprachen in den Schulen Europas noch Zukunft?, in: „Die Mutter aller Übel ist die Unwissenheit“. 30 Jahre Gedächtnisstiftung Peter Kaiser (1793 – 1864), Vaduz, Innsbruck/Wien/Bozen 2015, 134-143.

Karlheinz Töchterle, Zur Klage von der vermeintlichen Fachferne in der neuen Lehrerbildung und zur Rolle des Qualitätssicherungsrates, in: Maria-Luise Braunsteiner/Christiane Spiel (Hrsg.), PädagogInnenbildung. Festschrift für Andreas Schnider, Heiligenkreuz 2019, 78-83.

Karlheinz Töchterle, Einige utopische Gedanken zu den Reformbestrebungen im Sekundarschulbereich und zur Rolle der Alten Sprachen darin, in: Latein-Forum 97 (2019), 1-5.

Karlheinz Töchterle

Karlheinz Töchterle ist österreichischer Altphilologe und Politiker. Er war von 2007 bis 2011 Rektor der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und vom 21. April 2011 bis zum 16. Dezember 2013 Bundesminister für Wissenschaft und Forschung. Von Oktober 2013 bis November 2017 war er Abgeordneter zum Nationalrat. Privat: Konditionsstarker Bergsteiger, begeisterter Flügelhornist und Fußballtrainer der dörflichen Jugendmannschaft.

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