Helmuth Schönauer
Termitendemokratie
Stichpunkt


1.

Ein welterfahrenes Paar um die siebzig kommt nach vier Monaten Lateinamerika wieder nach Innsbruck in den Föhn zurück und erzählt den Nachbarn in kurzen Sätzen das wichtigste, was man so in Innsbruck über den fernen Kontinent wissen sollte. Der Rest ist im Netz nachzulesen.

Die beiden haben in Lateinamerika vor Ort geplant und jeweils am Vortag entschieden, wie am nächsten Tag die Reise durch Argentinien, Uruguay und Chile (AUCH-Länder genannt) weitergehen soll.

Haupterlebnis ihrer Reise im eigenen Körper durch einen fremden Kontinent:
In jeder Sekunde besteht die Gefahr, überfallen zu werden. Und anders als bei der virtuellen Reise kann man in Echtzeit vier Monate lang nicht offline gehen.


2.

Der Sinn einer Lateinamerika-Reise 2024 besteht also im Gefühl, dass das Leben gefährlich ist. Zwar kann die Liste über den Demokratie-Index einen guten Eindruck über die Gefährlichkeit der Länder vermitteln, nichts jedoch von der Anstrengung, die es für Einheimische und Touristen bedeutet, den Tag lebend zu beenden.

Das Reisen im eigenen Körper dient indirekt dazu, stellvertretend für die Daheimgebliebenen einen Kontinent am Abgrund abzuarbeiten und durch Vergleich mit früheren Reisen die Welt-Entwicklung zu beschreiben.

Das Paar wird nach seiner Rückkehr überhäuft mit Dankesbotschaften, jeder ist froh, dass er nicht nach Lateinamerika fliegen muss, und sei es auch nur als Pensionist, um irgendwo in einem Touristen-Ressort in der Anden-Sonne zu hocken.

Mehrfach versichert das Paar, dass es die letzte Reise gewesen sein wird.
Denn jedes Mal, wenn es ein südamerikanisches Land gerade noch lebend verlässt, bricht dieses hinterher zusammen. Das war bei Ecuador und Venezuela so und wird jetzt wieder bei den „AUCH-Staaten“ der Fall sein.


3.

Was es bedeutet, in einer Gefahrenzone zu reisen, zeigt jeweils der Körperabstand, den die Einheimischen zu Fremden und wohl auch untereinander halten. Alles was unter drei Metern ist, gilt als unsicher, man könnte geschlagen oder ausgeraubt werden. Die Gesprächspartner weichen abrupt zurück, wenn diese gefühlte Grenze unterschritten wird.

Immer wieder ruft jemand von der anderen Straßenseite herüber, dass man die Seite wechseln soll, weil man auf der gefährlichen Seite unterwegs sei. Oft winkt jemand abweisend, ja nicht diese oder jene Gasse zu betreten, da werde man überfallen.

Das Handy trägt man am besten subkutan wie einen Herzschrittmacher, alles andere ist eine Einladung zum Überfall. Wenn schon ein Foto entstehen soll, muss es mit einer Kleinbildkamera aus dem Ärmel heraus geschossen werden. Aber es gibt ohnehin nichts zu fotografieren außer Inflation.

Und wie knipst du die Inflation, wenn sie so galoppierend ist, fragt das Paar die staunenden Innsbrucker, die im Radio etwas von Inflationsbekämpfung durch den Landeshauptmann gehört haben. Wie in einem Witz ist es günstiger, die Speisen gleich beim Eintritt ins Restaurant zu bezahlen, denn beim Abgang ist schon alles teurer geworden.


4.

Als die ersten Eindrücke aus dem Fundus der Erschöpfung heraus erzählt sind, entwickelt sich ein kleiner Diskurs darüber, wie das alles entstehen konnte? Dass Länder zusammenbrechen und Menschen mit dem bloßen Überleben zu kämpfen haben.

Im Falle von Lateinamerika sind es oft die Militärdiktaturen, die das Land unversöhnlich in zwei Teile gespalten haben. Jetzt sind die ehemaligen Nutznießer der Diktaturen selbst in der Armutszone und können sich nicht mit den anderen Armen verbünden, weil noch nichts aufgearbeitet ist. In jeder größeren Familie gilt es immer noch jemanden als verschollen zu betrauern.

Mit dieser Spaltung einher geht das wirtschaftliche Desaster. Oder umgekehrt: das wirtschaftliche Desaster geht auf die Spaltung zurück.

Entscheidende Theorien zu diesem Thema werden unter dem Titel Termitendemokratie zusammengefasst. Insbesondere der argentinische Politologe Horacio Verbitsky wird nicht müde zu beschreiben, dass das Ende der Demokratie dem Vorgehen von Termiten gleicht, wenn das Staatsgebilde von innen heraus zerfressen wird.


5.

Ein beliebter erster Schritt zur Vernichtung von Demokratien ist die Schaffung sogenannter Sonderzonen. Im Falle von Lateinamerika werden ganze Landstriche ausländischen Konzernen an den Hals geworfen, die oft ihr eigenes Personal mitbringen und die eigenen Gesetze, nach denen sie Streitfälle behandeln.

Insbesondere die Schweizer haben sich einen schlechten Ruf erworben, weil sie die Verträge oft unkündbar mit Diktaturen abgeschlossen haben, aus denen es kein Entrinnen gibt.

Aber auch die moralisch so gefeierten Deutschen sind nicht ohne, wenn es um ihren geheimen Gott geht: Das Auto. Wenn dieser Gott Lithium braucht, um elektrisch zu fahren, werden ihm ganze Landstriche und Kulturen geopfert.


6.
In diesem Lichte ist das jüngste Attentat auf die Giga-Factory Tesla in Berlin-Brandenburg zu sehen. Das Werk ist exterritorial und unterliegt den privaten Gesetzen des Besitzers, was jegliche Gewerkschaftstätigkeit ausschließt.

Das Grundgesetz mit seinen Rechten auf Demonstration und Gewerkschaftsbildung ist also ausgeschaltet, um dem Werksziel nicht im Weg zu stehen. Dieses ist nur vage definiert und beinhaltet auf jeden Fall das Streben nach Gewinn.

Wenn man sich nun ein paar solcher Giga-Factorys als eine Verknüpfung vorstellt, ergibt sich eine passable Größe an Fläche, Personal und Ressourcen-Nutzung, die dem Grundgesetz entzogen sind.

Die Demokratie wird von innen her aufgefressen, die Termitendemokratie beginnt ihr Tagwerk.

Spätestens jetzt, wenn Teile der Gesellschaft nicht mehr unter dem Dach der Demokratie agieren, werden jene Vorgänge plastisch vorstellbar, von denen das deprimierte Paar den Innsbruckern berichtet.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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