Helmuth Schönauer bespricht:
Friederike Gösweiner
Regenbogenweiß
Roman

Seit allenthalben sogenannte Trauerratgeber in Schrift und Therapie den Markt überschwemmen, muss man sich in der Literatur einen Ruck geben, um sich auf einen Roman einzulassen, in dem es um die Veränderung des Hinterbliebenen-Lebens durch den Tod des Voraussgängers geht.

Friederike Gösweiner verknüpft die Sinnsuche ihrer Helden anhand jenes Knotens, der durch einen plötzlichen Herztod des Vaters auftritt. Die Kunst des Erzählens besteht bekanntlich darin, die Neugierde der Leser zu erhalten, und weniger, eine These abzuarbeiten. Ein erster Blick auf das Figurenset von „Regenbogenweiß“ bremst freilich die Lust, sich ungeniert auf den Psycho-Roman einzulassen.

Gleich zu Beginn schaut die angehende Pensionistin Marlene ihrem Mann Hermann zu, wie er in der Garageneinfahrt zusammenbricht und stirbt. Noch aus dem Schock heraus werden die beiden Kinder angerufen, die in aller Welt verstreut leben. Tochter Filippa ist Philosophin in Paris und arbeitet schon seit geraumer Zeit daran, schwanger zu werden. Sohn Bob ist Physiker und Zeitforscher und wartet in der Ödnis Griechenlands darauf, zu sich selbst zu finden und wieder einen Job an einem Institut zu ergattern.

Wenn man noch hinzufügt, dass Marlene Lehrerin gewesen ist und sich jetzt stark um die aufkeimende Flüchtlingswelle kümmert, so verstärkt sich der Eindruck, dass mit diesen wie im Schachspiel aufgestellten Leitfiguren alles erzählt werden kann, was so in den letzten zehn Jahren an Ideen und Lebensentwürfen durch Literatur und Journalismus gegeistert ist.

Der Roman spielt vom Herbst 2014 bis ins Jahr 2016 hinein, eine ideale Zeit also, um die Gegenwart abkühlen zu lassen und noch nicht in fertige historische Abbildungen zu verfallen. Die Dramaturgie ist zudem global und verengt in einem, ist doch die Familie über den Globus verstreut, aber beim Ausräumen des Nachlasses auf einen winzigen Punkt eines Hausidylls verengt.

Das Aufräumen und Abklären geschieht in drei Stufen. Im ersten Halbjahr besteht die Trauerarbeit aus Zeremonien und Handgriffen, die es für das Begräbnis braucht. Bob etwa versucht in Fernwartung die Heizung zu steuern, da im leeren Haus allmählich die Kälte einzieht. Als er dann zum Begräbnis anreist, schlüpft er für ein paar Stunden in einen Traueranzug, den er für immer in einem Schrank entsorgen wird.

Filippa verbringt einen Großteil ihres Lebens auf Flughäfen und wundert sich bei jedem Check-in, dass sie kein Kind zustande bringt. Vielleicht hängt es auch mit ihrem Partner zusammen, dem sie ständig in Abschiedspose zuwinkt, ehe die Körperkontrolle am Airport beginnt.

Die Treffen der Restfamilie finden nach dem Begräbnis immer seltener statt, meist wird die Trauer über Facebook erledigt oder in Erinnerungsschüben beim Laufen. Bob vergleicht sich als Physiker mit seinem Vater, der ebenfalls in dieser Sparte gearbeitet hat, aber die fachliche Verbindung bleibt lose, hat doch der Verstorbene immer von seinem Institut und seiner Arbeit gesprochen, die niemanden etwas anging.

Eine alte Trauerregel sagt: Du musst das erste Weihnachten hinkriegen, dann hast du es geschafft. Tatsächlich erklärt man sich die trüben Stellen des Familienzusammenlebens damit, dass jeder nur das Beste will. „Niemand hat was falschgemacht.“ (78) Dieser Satz von Politikern, die gerade eine Katastrophe erklären müssen, wirkt auch in der Familie.

Der zweite Trauerabschnitt dauert etwa ein Jahr. Darin versuchen die Helden ihr gewöhnliches Leben wieder aufzunehmen, bestärkt durch Erinnerungen an den Toten, der das alles so gewollt hätte.

Die Tochter fängt zu fotografieren an und zeigt die Bilder am Handy dem Grabstein, der für ein paar Sekunden die Kontur des Vaters annimmt. Der Sohn wartet mit philosophischen Gedanken über die Gleichheit im Universum in Griechenland auf einen Job. Als sich ein Angebot meldet, ist es das falsche Institut, und Bob merkt, dass er sich in der Warteposition eigentlich ganz wohl fühlt.

Die Mutter arbeitet ihre Emotionen mit der Unterstützung von Flüchtlingen ab, die um 2015 gerade ins Land strömen. Solange es jemandem schlechter geht als einem selbst, gibt es keinen Grund zu trauern. Und der ehemalige Institutskollege des Mannes befreit sich von seiner Altlast-Ehe und wäre bereit für die nächste, so blieben die Themen im Haus.

Im allgemeinen Entsorgen von Hausrat, Erinnerungen und Sprüchen fällt dann das Titel-gebende Wort „regenbogenweiß“. Als Physiker sind Vater und Sohn versunken in diesen Begriff, führt er doch alle Farben ad absurdum und narrt die Netzhaut. Das Weihnachtsgeschenk für Vater wäre ein regenbogenweißes Rennrad gewesen. Was für ein sprachliches Geschenk! „Exakt sei nur die mathematische Sprache, die Formelsprache, nie die Lautsprache.“ (157) Diesen Satz des Vaters kriegt der Sohn lange nicht mehr aus dem Ohr.

Im dritten Schritt ist alles für die Zukunft geordnet. Im konkreten Fall sind Einbrecher in das Familienhaus eingedrungen und haben das Interieur verwüstet. Jetzt lassen sich alle Erinnerungen zusammen mit der Polizei archivieren und entsorgen. Das Haus ist stubenrein.

Während der Lektüre lässt man sich von diesem Setting allmählich überzeugen und entdeckt dahinter allerhand Metaebenen. Markante Rollen haben im Thesenroman stets klischeehafte Züge, es ist die verquere Anwendung, die sie zu einmaligen Identitäten macht. Im Wesentlichen prallen die Segmente bodenständig – global, Familie – Institut, Technik – Philosophie aufeinander.

Friederike Gösweiner orientiert sich von der Erzählmethode her an dem Klassiker „Homo“ faber (1957) von Max Frisch, worin ebenfalls diese Dichotomien angesprochen werden. Mit etwas Optimismus könnte man prognostizieren, dass „Regenbogenweiß“ vielleicht der Homo faber der Zwanzigzwanziger Jahre sein wird.

Eine Alternative zu dieser bewährten Erzählform wäre es gewesen, die eine oder andere angesprochene Theorie sprachlich zu verwirklichen. Eine Schlüsselstelle dazu geht Bob durch den Kopf, als er ins Weltall schaut: „Alles war 1. agierend und dynamisch und 2. nur bestimmt durch Relationen zu all dem anderen Agierenden. 3. Nichts stand außerhalb der Realität, 4. und alles, womit man sie beschrieb, musste selbst Teil von ihr sein.“ (99)

Der Roman rammt jedenfalls einen beträchtlichen Pflock ins Erzählen von 2022, und sei es, dass er, auf Sicherheit angelegt, nur erzählt, was der Markt der Gegenwart für professionell hält.

Friederike Gösweiner: Regenbogenweiß. Roman.
Graz: Droschl 2022. 344 Seiten. EUR 24,-. ISBN 978-3-99059-106-2.
Friederike Gösweiner, geb. 1980 in Rum, lebt in Schwaz.


PS:
„Bestseller bespreche ich nicht, die hat schon jemand gelesen!“ Dieser Satz kann als Leitmotiv für jene 6000 Buchbesprechungen gelten, die Helmuth Schönauer seit 1986 verfasst hat und die als einmaliges Zeitdokument in einer mehrbändigen Buchfassung vorliegen. Schönauer bedient mit seinen Rezensionen nicht den Markt, sondern wendet sich an 2000 vor allem österreichische Bibliothekare und deren Leserschaft, aber auch an etwa 500 Autoren, von denen er die meisten persönlich kennt. Dieses Rhizom ist der Nährboden, aus dem seine deskriptive literarische Anthropologie erwächst, ein breit dahinfließender Strom des Zeitgeists und seiner Mythen, von dem besonders markante Beispiele den Lesern des schoepfblog allwöchentlich zur Verfügung gestellt werden.  (A.S.)

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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