Print Friendly, PDF & Email

Helmuth Schönauer
Schirennen am Adelboden
Stichpunkt

In Adelboden fliegt ein Rennläufer aus der Piste wie eine Computermouse. Beim Abfassen einer dringend erwarteten Rezension über einen australischen Roman mit dem prägnanten Titel Inland gerät mir nämlich die Mouse über den Padrand hinaus und drückt aus Versehen einen Knopf auf der oberen Leiste, wodurch eine Livestream-Verbindung zu Adelboden hergestellt wird.

Es dauert einige Sequenzen, bis das Hirn die Störung in der Rezension verarbeitet und den Kontakt zu Adelboden gecheckt hat. Die Sätze für eine Rezension und die Beschreibung eines Klassikers des Riesentorlaufs sind nämlich ziemlich gleich. Und beide Betätigungsfelder sind am absterbenden Ast.

Schifahren scheint den Zenit hinter sich zu haben wie Lesen, das nur noch von Romantikern und Nostalgikern nach einem Nachmittagsrundgang durch den Garten der Seniorenanlage gepflogen wird. Was wir aus Adelboden sehen, ist wiederum zeitlos gültig wie ein Klassiker.

– Ein weißes Band schlängelt sich durch grünes Gelände, vergleichbar einer Hochzeitsschleife für totes Beziehungsgelände.

– Die Begriffe „Sturz“ und „interrupted“ sind eingeblendet, damit sich die Ereignisse leichter zuordnen lassen.

– Minutenlang sieht man in sogenannter Groß-Lupe, wie der Läufer das Gewicht falsch verlagert und stark von der senkrechten Linie, die graphisch als Falllinie eingezeichnet ist, abweicht.

– Ein Arzt ist auf dem Weg zum eingedrückten Fangzaun mit einem gelben Überwurf behangen, auf dem ungegendert das Wort Arzt steht. Als er beim Gestürzten ankommt, wissen wir nicht, was dieser sagt, wenn er überhaupt bei Bewusstsein ist.

– Der aus der Bahn Geworfene ist offensichtlich ein Cis-Mann, weil er ohne Widerrede in einem Männerrennen gestartet ist.

– Ein anderer bereits Gestürzter steht am Pistenrand und sieht auf der Livewall, dass die Kamera auf ihn zurast. Er hat wegen der milden Dreikönigstemperaturen die Mütze in der Hand und stülpt sich diese schnell auf den Kopf, damit man sein Logo sieht. Er muss die Mütze zweimal rund um den eigenen Kopf drehen, bis das Logo sitzt.

– Der momentan Führende sitzt auf dem Wartestuhl für Sieger und gibt Interviews, er grüßt die Fans und verweist auf den Hals, wo er eine dicke Rennbrille solange gedreht hat, bis man in der Nähe des Ohres das Wort UVEX lesen kann. Vielleicht ein Hörgerät, vermuten die Alten, weil sie etwas mit dem Ohr sehen.

Jetzt hat sich die abgedriftete Mouse wieder gefangen und ist auf dem Weg zurück zur Dokumentenseite, auf der gerade ein Rennen gegen die Rezension gefahren wird. Zuvor aber bleibt sie noch an einer Sequenz hängen, die offensichtlich aus einem Kriegsbunker stammt, ob live oder gestreamt, lässt sich wegen der Qualität nicht sagen.

– Eine Gruppe von Uniformierten schaut auf eine Kriegswall, auf der gerade Sequenzen der letzten Schlacht gezeigt werden. Die Uniformierten analysieren die Bilder, die von mehreren Drohnen stammen.

– Immer wieder werden die Bilder eingefroren und mit einer sogenannten Falllinie unterlegt, woraus sich die Bedeutung des Wortes für Gefallene ergibt. Man sieht die Augenblicke, wo die Abgebildeten schreien, sterben und aus dem Bild fallen.

– Die Analysten sitzen in Uniformen herum und drehen zwischendurch an den Rangabzeichen, damit man sieht, welches Produkt sie verteidigen. Die meisten Inschriften sind ungegendert, dafür aber kyrillisch, sodass unsereins nicht sagen kann, wer an der Front wer ist.

Jetzt hat sich die Maus endlich durchgesetzt und ist wieder beim australischen Roman Inland. Der Titel bedeutet in der Zeit der Eisenbahnpioniere jenes Gebiet, das zwischen zwei Eisenbahnlinien liegt. Das kann wie im Falle Australiens sogar ein ganzer Kontinent sein.


Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar