Helmuth Schönauer
Alt und weiß sterben
Rudis Videobotschaft nach Papua Neuguinea
Stichpunkt

Wenn ein Kamerateam vor dem Tagesheim parkt, wissen die meisten im Haus, dass etwas mit Papua Neuguinea los ist. Aus Altersscham habe ich nämlich meinen echten Namen abgelegt, wenn ich im Tagesheim bin, und lass mich einfach Rudi nennen.

Schau Rudi, deine Filmcrew von der anderen Seite der Welt ist wieder da, rufen sie mir dann am Gang zu, dabei weiß ich schon, dass ich um 14 Uhr eine kleines Statement abgeben muss.

Wir treffen uns zweimal in der Woche für motorische Übungen im Tagesheim, dabei machen wir das, was die Voll-Einlieferung in ein Pflegeheim hinauszögern soll. Einige spielen Schach gegen sich selbst, andere versuchen am Tablet mit dem Finger Choreographien berühmter Ballettaufführungen nachzufahren, andere essen Kekse und versuchen die Rezeptur auswendig zu lernen.

Ich habe mich für die alte Füllfeder Montblanc entschieden. Mit ihr schreibe ich schon seit Jahrzehnten echte Sätze auf echtes Papier, obwohl die Schulschrift 1946, mit der ich unterwegs bin, nicht mehr unterrichtet wird. In der Hauptsache schreibe ich Sachen aus den 1970er Jahren auf, als ich ein Jahrzehnt lang einen durchgehenden Weltorgasmus erlebte.

Unter anderem habe ich ein halbes Jahr lang in Papua Neuguinea Buchhaltung unterrichtet, was damals noch als Unterzweig der Entwicklungshilfe gelehrt wurde.

Auf diese Zeit gehen auch meine Kontakte zur dortigen Bevölkerung zurück, die unbändig und heftig die Unabhängigkeit ihres Landes gefeiert hat. Zu dem Zweck bekam das Land auch eine eigene Fluglinie, deren einzige Maschine aus einer ausgemusterten Boeing 707 der Lufthansa bestand. Ich bin mehrmals damit von Port Moresby nach Brisbane geflogen.

Mit meinen Projektkollegen und den Schülern von damals ist immer noch vereinbart, dass sie mich exklusiv interviewen können, wenn sie einen Video-Beitrag über Tirol für das Papuanesische Fernsehen brauchen. Mittlerweile streamt das Technikzentrum Wewak am Sepic meine Interviews, aber aus rituellen Gründen tun wir immer noch so, als ob es Fernsehbeiträge wären.

Jetzt ist das Aufnahmeteam der Europa-Crew aus Augsburg da. Der Grund für das Interview ist ein entführter Pilot aus Neuseeland, der in West-Papua gefangen gehalten wird. Ich kann aber nichts dazu sagen, weil der Westteil zu Indonesien gehört und ich keine Kontakte dorthin habe.

Aber wenn ihr schon einmal da seid, sag ich zur Crew, möchte ich, dass ihr ein kurzes Statement eines alten weißen Mannes zum Thema Sterben aufnehmt.


Das Statement

Wir, die 1953 Geborenen, haben einen verwüsteten Kontinent vorgefunden. Im ersten Reflex haben wir alles hinuntergeschluckt, was uns aufgestoßen ist. Und als wir merkten, dass man auch große Sachen hinunterschlucken kann, haben wir die Nazizeit als Ganzes hinuntergeschluckt.

Wir vertrieben uns die Zeit mit Aufbau und Integration. Wir bauten wie die Deppen Wohnungen und integrierten uns gegenseitig, denn jeder von uns war damals ein Flüchtling. Später bemerkten wir, dass wir im Unterbewusstsein alle den gleichen Traum hatten: Ein großes Auto zu besitzen und damit quer durch den Kontinent zu rasen wie Jack Kerouac, den wir anbeteten.

Mit der Zeit wurde es aber voll am Kontinent. Wir hatten alles zubetoniert und wunderten uns, dass auch von außerhalb immer mehr junge Männer kamen und bei uns Autofahren wollten, wie wir es in der Jugend getan haben.

Inzwischen sind wir alt und grau, werden aber immer noch Weiße genannt, wenn wir etwas über das Auto sagen. Die ersten unseres Jahrgangs sind schon gestorben, aber wir haben keinen Platz mehr, um sie zu bestatten. Es ist alles zubetoniert.

Mein weißer Rat  an euch Kids in Papua Neuguinea: Vermeidet wenn möglich das Autofahren. Noch könnt ihr eure Toten standesgemäß bestatten und ein PigPig-Fest machen, damit die Ahnen ihren Frieden finden. Sterben ist überall okay, dadurch kann man der Welt entkommen.

Wenn es aber in der landesweiten Betondecke keinen Ausgang mehr gibt, durch den man sterbend fliehen kann, wird es schlimm. Und es wird auch nicht besser, wenn man das alles mit einer Füllfeder in Schulschrift von 1946 niederschreibt.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. c. h. huber

    bewundernswert, deine fantasie, lieber helmuth! wie du politisches, auch deinen aufruf zum umweltschutz in diesem text verpackt hast, ist erstaunlich.

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