Helmuth Schönauer bespricht:
Waltraud Mittich
Ein Russe aus Kiew
Roman
Merkt es eine Dichterin eigentlich, dass sie aus der Zeit gefallen ist? Und wenn ja, ist sie dann nicht schon wieder in der Zeit drin?
Ein Russe aus Kiew, der Roman von Waltraud Mittich, wirkt auf den ersten Blick, als wäre er marktgerecht, mit einem Paradoxon im Titel, aktuell zum Überfall auf die Ukraine geschrieben. Aber in der Literatur hat selten die Schriftstellerin die Oberhoheit über den Stoff, meistens sind es pure Zeitgeschichte, Literaturbetrieb und Lieferkette, die das Sagen haben.
Hinzu kommt, dass wir spätestens seit der Pandemie eine Veränderung im Literaturbetrieb haben: Wir sprechen von einem Schreibkräfte-Überschuss und einem Lesekräfte-Mangel!
Waltraud Mittichs Roman vom Russen aus Kiew war schon in der Pipeline, als der Überfall geschah und in allen Bereichen eine Zeitenwende auslöste. Vom Titel angefangen, über Quellenlage, bis hin zu Schlussfolgerungen ist nichts mehr so, wie es von der Autorin vielleicht geplant war.
Es ging ihr vielleicht darum, aus der Sicht einer 74-jährigen Vatersuchenden die Geschichte zu erinnern, wonach die Erzählerin aus einem Verhältnis einer Einheimischen in Goisern mit einem Rotarmisten entstammt, bald einmal nach Südtirol transferiert wurde und in der Folge das Land in einer Parallelaktion erlebte.
Sowohl die Ukraine als auch Südtirol waren im letzten Jahrhundert von Grenzverschiebungen, Identitätsproblemen, Mehrdeutigkeit und Mehrsprachigkeit gekennzeichnet. Alle, die darüber reflektieren, stehen vor dem ähnlichen Problem:
Es widerstrebte mir zutiefst, hinter deiner und meiner Mutter Geschichten die Weltgeschichte zu öffnen. (15)
Aus den Erzählungen der Mutter, den Geschichten ähnlicher Jahrgänge aus Südtirol, aus Lektüre und Romantik ergibt sich dann eine letzte Reise in die Ukraine abseits von Nostalgietouristen (25), worin der Krieg Teile des Landes schon zum Sperrgebiet gemacht hat und die Erzählerin bei der Aufzählung der Checkpoints festlegt, keine Kriegsberichterstattung zu schreiben. (65)
Die Schlacht der Narrative findet scheinbar nur zwischen Russland und der Ukraine statt, aber wenn wir unsere Narrative hinzuzählen, spielen diese Deutungen oft auch bei uns nach Ritualen.
Aus den Fallbeispielen lassen sich etwa die drei Stränge herauslesen: Habsburger-Mythos / vernichtetes jüdisches Leben / Tiroler Kriegsteilnehmer (Trakl / Leitgeb).
Ein in den letzten Jahren häufig zur Ukraine aufgebauter Konnex lief über Leihmütter, die in der Ukraine die Wohlstandskinder zur Welt bringen mussten, weil es im Westen nicht erlaubt war. Wenn man frech liest, lässt sich die Darstellung der Erzählerin auch als besondere Leihmutterschaft deuten: Der Rotarmist aus Kiew lässt von der Goiserin das Kind austragen und verschwindet wieder.
Der offene Erzählstil ermöglicht viele Deutungen, die ohne weiteres an den Text andocken. Denn der Text versteht sich als eine Art freie Assoziation über ein Leben, das aus verschiedenen Kulturen und Deutungen geboren ist.
Stets kommt ein Ordnungsruf: Ich will Ordnung machen, Vater. Oder aber auch. Ich muss immer wieder Korrekturen machen, Vater.
Diese sogenannten Vateranrufe sind auf den ersten Blick etwas gewöhnungsbedürftig. Denn was macht es für einen Sinn, wenn eine 74-jährige Erzählerin ihrem Vater ihr Leben darlegen (opfern) will? In einem größeren Umfeld freilich lässt sich dieses Vaterrufen mit den Erzählungen Joseph Roths erklären, der ein Leben lang seinen Vater gesucht und aushilfshalber den Kaiser gemeint hat. Wer in der Ukraine nach dem Vater ruft, meint vielleicht den Kaiser. (In Südtirol ist es lange Zeit nicht anders gewesen.)
Einmal auf die Spur gekommen, finden sich ständig Episoden und Schicksale, die in das Aufwallen Ukrainischer Begebenheiten passen. In einer Ausstellung sieht die Erzählerin weite Baumwollfelder aus dem magischen Erzähl-Reich von Hesses Siddhartha, und schon sind die Verbindungen geknüpft zwischen der Erlösung des Siddhartha-Romans und der ausstehenden Vervollständigung der Familiengeschichte.
Viele Assoziationen sind nach dem Überfall nicht mehr tragbar, aber die Leserschaft hat mittlerweile gelernt, mit diesen politischen Wörtern, historischen Anekdoten oder geographischen Verortungen umzugehen. So lassen sich Begriffe wie Maidan und Krim nicht mehr aussprechen, ohne gleich etwas Epochal-Grauenvolles hinzuzudenken. Mit dem Begriff Tschernobyl hat die Welt schon vor Jahrzehnten gelernt, dass es manche Wörter nur in Verbindung mit Vernichtung gibt.
Erzähltechnisch gesehen entspricht Ein Russe aus Kiew einem Kisten-Roman, wo alles hineingepackt ist, was eine Verbindung zum Thema hergeben könnte. Nicht unklug endet der Roman schlicht mit vier Kindererzählungen aus Kiew.
In verschmitzten Kreisen spricht man auch von einem Brenner-Roman, benannt nach dem Archiv, in das regelmäßig Schachteln transportiert werden mit der Bitte um kurzes Sichten.
Die Ukrainische Zeitenwende hat bereits eine Veränderung in der Literatur bewirkt, man liest wieder Texte für den Ausnahmezustand. Der Russe aus Kiew gehört trotz seines herausragenden Titels nicht dazu.
Waltraud Mittich: Ein Russe aus Kiew. Roman.
Innsbruck: Edition Laurin 2022. 334 Seiten. EUR 25,-. ISBN 978-3-903539-15-0.
Waltraud Mittich, geb. 1946 in Bad Ischl, 1952 Übersiedlung nach Südtirol, lebt in Bruneck.
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