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Helmuth Schönauer bespricht:
Christian Schacherreiter
Das Liebesleben der Stachelschweine
Roman

Auf der Suche nach seiner Identität wird Österreich oft mit einem Schloss verglichen, das Jahrhunderte überdauert hat (Tumler, Schloss in Österreich). Oder mit einem von der Roten Armee in den Verfall getriebenen Marchfeld-Gütchen (Fritsch, Moos auf den Steinen). Eine gegenwartsbezogene Deutung legte nahe, es mit Österreich als Biomüllanlage zu versuchen.

Christian Schacherreiter zeigt diese Österreichische Seele am Beispiel einer ausgeisternden echten „Nazifamilie“ und eines toten Seitenstumpfs der Sozialdemokratie. Beide Ideologien sind als Familiensaga miteinander verknüpft, wie ein Blick in den Vorspann zeigt, wo im Stile von Doderers Merowingern die Stammbäume ohne Kastrationen ausgerollt sind.

Auf diese ruppige Form des Familienlebens spielt auch der Titel an: die Typen sind alle Stachelschweine, die sich verletzen, wenn sie sich zu nahe kommen, heißt es einmal. (124)

Das Romankonzept ist ironisch angelegt, das lässt den Roman auch in der vom Krieg aufgewühlten Gegenwart aktuell erscheinen. Die dargestellten Themen sind in Wort und Wirklichkeit nämlich relativiert bis hin zur österreichischen Neigung, Probleme so lange zu verniedlichen, bis die Lösung dabei eingeschlafen ist.

Die zwei Hauptthesen der jüngeren österreichischen Geschichte lauten: Die gesellschaftlichen Brüche im Land sind angesichts der Weltlage wirklich lächerlich. Und: Die inoffizielle Staatsform ist die Familie, alles was staatstragend sein sollte, wird familiär geregelt, und umgekehrt werden Familienangelegenheiten leicht einmal zu einer Staatsaffäre.

Der Stachelschweinroman beginnt mit dem furiosen Familienfest einer gestandenen Nazifamilie, zur Sommersonnenwende finden auf „Gut Wutscherhäusl“ seit 1938 diverse Feiern statt. Der Knalleffekt heuer ist, dass das Gut verkauft werden soll.

Die Dynastie der Pernauer spaltet sich auf in die Generation Krieg und Hakenkreuz, Nachkriegszeit und Wiederaufbau, Friedenszeit und Postmoderne. Wortführer ist der Landesbedienstete Dietrich Pernauer, der sich seit seiner Studentenzeit fallweise mit Neugermanen umgibt.

Sein Gegenspieler aus der Studentenzeit ist Hans-Werner Hänsel, der gerade zum Landesobmann der Sozialdemokraten gewählt werden soll. Sein Klüngel heißt schlicht Parteifreundinnen, freilich gegendert.

Zwischen beiden Polen läuft starkes Kino ab, da die Probleme wie in einer Oper kräftig vorgetragen werden.

Der Verkauf des Wutscherhäusls an einen russischen Oligarchen kann gerade noch verhindert werden, indem die reich verheiratete Schwester das Ganze stoppt und die Abbruchbude selbst übernimmt, um daraus eine Bioaufbereitungsanlage zu machen.

Auf der anderen Seite scheitert plötzlich der Aufstieg des sozialdemokratischen „HWH“ wegen einer Me-Too-Affäre. Eine Gretl aus Studientagen soll bei einem Institutsfest vom Hoffnungsträger vergewaltigt worden sein, man spricht in der Presse bald einmal von der besoffenen Geschichte zwischen Hänsel und Gretl.

Der Politiker nimmt sich eine Auszeit und wird von einem Rechtsanwalt, spezialisiert auf sexuelle Übergriffe, für ein paar Tage im Wutscherhäusl untergebracht. Dort kommt es zum verbalen Showdown zwischen Dietrich und Hans-Werner, die baff erstaunt feststellen, dass es egal ist, was man politisch denkt, das Leben macht ohnehin, was es mit einem vorhat.

In diesem Lichte wirken auch Lebensformen außerhalb der ideologischen Festlegung sehr wankelmütig und instabil. Die rechte Seite probiert es mit Esoterik, verspielter Seelenpflege und Ich-Therapie, was aber meist zur Hysterie und psychischer Apokalypse führt, die linke „Gutmenschen“-Seite probiert es mit Patchwork, Gendern und Beziehungen zu geflüchteten Frauen.

Beide bewegen sich in ihren Blasen und ermüden in ihren aufgedunsenen Argumentationsketten, sodass sie letztlich alt und friedlich sich auf den Weg in den Lebensabend machen können.

Begleitet wird dieser Reifeprozess durch eine aufgekratzte Presse, die stündlich ein neues Thema ausgibt und die Nachrichtenseife nass hält.

Am Schluss wirft der Sozialdemokrat seine Parteikarriere hin und wird Direktor eines Abfallunternehmens, das auf einem „rechten“ Grundstück errichtet wurde.

Als Leser ist man hingerissen vom Strampeln der Protagonisten nach Sinn, der Autor bleibt nämlich tapfer auf Kurs und zeigt, wie verzwergt diese österreichischen Probleme in der Welt verankert sind.

Das macht in strengen Zeiten den Roman zu einem ironischen Ausstiegsmittel aus dem Klamauk, der als sogenannte österreichische Seele unterwegs ist, um davon abzulenken, wie defekt die meisten im Wohlstand geworden sind.

Christian Schacherreiter: Das Liebesleben der Stachelschweine. Roman.
Salzburg: Otto Müller 2022. 264 Seiten. EUR 24,-. ISBN 978-3-7013-1294-8.
Christian Schacherreiter, geb. 1954 in Linz, lebt in Linz.



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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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