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Helmuth Schönauer
Tierisch
Short Story

Das Nachbarskind ist schon zweimal bei der Maturazulassung angetreten und durchgefallen: Ein typischer Corona-Schaden, sagen alle Pädagogen, die den Fall kennen, ohne aber ihr Tun deswegen zu ändern.

Die Sollbruchstelle ist bei beiden Auftritten in Deutsch aufgepoppt. Einmal war ein Aufsatz über „Meine Lyrik am Handy“ für die Karriere letal, ein andermal etwas über das „Obst beim Nobelpreisträger Peter Handke“, was an der Vorstellungskraft von Unsinn gescheitert ist.

Jetzt versuchst du es mit einem Tier, sagt seine Mutter, dann klappt es! Die beiden sehen sich im Katalog des Alpenzoos online etwas Tierisches an und bitten den Zoo-Direktor um ein Interview, das dieser analog gewähren wird mitten unter Tieren. Da alle gerade nichts zu tun haben, findet das Auskunftsgespräch noch am selben Tag statt.

Gleich zu Beginn wandern alle drei, die Mutter ist wie immer dabei, im leicht verschneiten Lockdown durch das Gehege, und noch vor den Wisenten rückt der Direktor mit einer Sensation heraus: Ich verrate Ihnen was. Die Tiere haben vergessen, Tiere zu sein, und wissen sich nicht mehr zu benehmen. Und daraus resultiert die zentrale Frage, die Sie gut für ihre Facharbeit verwenden könnten: Woher weiß ein Tier, dass es ein Tier ist? Und wenn ja, welches?

Während das Nachbarskind noch verarbeiten muss, dass es hier um Tiere in Echtzeit geht, ist die Mutter ungeduldig. Spucken Sie es schon aus, sagt sie ungehalten, weil sie mit Tieren nichts am Hut hat. Sie ist überhaupt recht ungeduldig, seit sie mit fünfzig ihr Wunschkind gekriegt hat. Jetzt fürchtet sie, dass sie als Pensionistin die Matura des Buben nicht mehr erleben wird.

Also! Die Tiere vertrauen zum Unterschied von den Menschen ihren Genen und sind davon überzeugt, dass sie alles richtig machen. Es handelt sich dabei um ein  fast politisches Gen, das die Selbstsicherheit auslöst. Sie werden daher nie ein Tier verzweifelt oder deprimiert erleben, wohl aber Menschen in der Politik, wenn sie glauben, alles richtig gemacht zu haben.

In diesem Lichte sind auch die Tierpsychologen zu sehen, die den Menschen bloß den richtigen Umgang mit Tier-Psychosen erläutern müssten, nicht aber den Tieren. Wenn also ein Hundepsychiater seinen Klienten auf die Couch setzt, schaut dieser zwar wie ein Hund aus, gemeint ist aber der Mensch, der neben dem Tier auf der Couch auf einem normalen Sessel sitzt.

Sie haben in letzter Zeit sicher die schönen Bilder aus der Türkei gesehen, wo der Präsident sich selbst im Sessel erniedrigt hat, um die europäische Kommissarin auf der Couch zu erhöhen. Gemeint hat er zwar etwas anderes, aber das Unterbewusstsein hat ihn erwischt und die Kommissarin zu einem Hund gemacht.

Der Zoodirektor hat in seinem zweiten Fach Politikwissenschaft studiert, weil er sonst den Job im Alpenzoo nicht gekriegt hätte. Jetzt ist er in Fahrt und kann gegenüber dem schlichten Gemüt des Nachbarskindes mit seinem Wissen auftrumpfen.

Im Innsbrucker Zoo ist nicht der Umgang mit Tieren gefragt, sondern mit hohen Tieren. Daher ist für alle Leitungsposten im Land ein Politikstudium Voraussetzung, sonst würdest du nicht agieren können. Die Politiker in der Provinz regieren fast überall auf der Welt wie Tiere, wodurch auch ein zoologisches Studium für angehende Politikversteher notwendig ist.

Es ist eine Doppelmühle. Wenn du tierisch argumentierst, verstehen dich die Politiker nicht, und wenn du politisch argumentierst, verstehen dich die Tiere nicht, die zusammen das Wahlvolk bilden.

Jetzt mischt sich die Mutter ein und bittet um konkrete Tipps für die Maturazulassung. Wir können ja nicht mit einem Hund zur Matura gehen und diesen vor der Prüfungskommission therapieren lassen!

Gut, sagt der Zoodirektor, die Maturakommission hat wie alles, was in der Öffentlichkeit zusammensitzt, ein ausgesprochenes Kurzzeitgedächtnis. Sie wissen alle nichts mehr vom gestrigen Tag. Nur was heute geschieht, können sie beurteilen. Ich empfehle also, gehen Sie vor der Prüfung noch schnell die Online-Dienste durch und rufen Sie alles ab, was Sie am heutigen Tag unter Tiere aufrufen können.

Der Zoologe nimmt sein Handy heraus und macht es vor. Da haben wir es schon. Pforzheim: Pferd stirbt während der Siegerehrung. Das genügt. Erstens ist es eine tierische Nachricht, die wirklich berührend aktuell ist, und zweitens haben die von der Prüfungskommission diese Nachricht auch zum Frühstück gelesen und können also den ganzen Tag über bestätigen, dass sie richtig ist.

Mehr nicht? Die Mutter ist ziemlich fassungslos. Das Leben ist oft viel einfacher, als man gemeinhin annimmt. Glauben sie mir, ich habe von den Tieren gelernt, dass alles einfach ist.

Der Nachbarsbub, um den es eigentlich geht, ist während des didaktischen Disputs sehr stumm und denkt, dass ihm die Mutter zuhause ohnehin alles noch einmal erklären wird.

Zuhause sitzt auch der Bibliothekar im Garten vor seiner erbärmlichen Parterre-Wohnung und fragt den Nachbarsjungen, wie es so geht. Er brauche nämlich eine Kurzgeschichte, damit ihn seine Kinder nicht ins Altersheim stecken. Da erzählt das Nachbarskind alles mit einem tierischem Tonfall.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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