Helmuth Schönauer bespricht:
Rudolf Habringer
Leirichs Zögern
Roman

Eine besonders spektakuläre Art, sein Leben in Aufruhr zu bringen, ist dessen Sedierung durch wohl einstudierte Handgriffe des Alltags und Rituale, die regelmäßig ins Leere führen.

Rudolf Habringer stellt einen Helden vor, der mitten in seiner eigenen Ordnung zu versickern droht. Gregor Leirich ist Zeitgeschichtler an einem Universitätsinstitut, wo sich selbst die Gegenwart bereits in eine vorsortierte Materie verwandelt hat, sodass man ohne Aufregung daran herumforschen kann. Der Schwerpunkt liegt ohnehin bei der Produktion von Bachelors, wodurch der Lauf der Geschichte für die nächste Generation gesichert zu sein scheint. Das alles entscheidende Wort heißt „vorsatzgemäß“. Der gute Historiker steht früh am Morgen auf und hat einen Plan, den er nach seinen Vorstellungen als Tagwerk abarbeiten wird.

Ab und zu gibt es Auftritte an einer Bar, wo der Held seine musische Neben-Ader für den Abend freilegt, indem er sich am Klavier den Evergreens und historisch relevanten Jazz-Nummern hingibt. In wenigen Absätzen ist alles erzählt, denken sich Held, Autor und Leser.

Da fällt einer dieser Sätze, die mitten im Leben einschlagen. Nach einem Referat am Stadtrand teilt eine unbekannte Frau dem abgeklärten Leirich mit, dass es eine Person gebe, die sich auf den gleichen Vater beruft, es handle sich wohl um einen Halbbruder. (16)

Ganz Historiker sucht Leirich vorerst einmal nach Sätzen, die in seinem Leben ähnlich stark auf ihn eingewirkt haben. Eine Liste ist selbst im Unglück von Nutzen, denn man kann es dadurch besser ranken und irgendwie einordnen. Überhaupt sind Listen das Um und Auf für ein geordnetes Leben. Wenn man auf Urlaub fährt, ist es hilfreich, das Ziel aus einer Liste auszuwählen, ähnliches gilt für Städte, die man forschungshalber besuchen möchte. Leirich hat sich daher eine Städteliste angelegt, die er abarbeiten wird. (91)

Der Satz vom Halbbruder scheint tief zu wirken, denn Gregor tritt vor allem die Flucht vor Gewissheit an. Sofort erstellt er eine Liste im Kopf, wer im Institut wovor auf der Flucht ist. In einem imaginären Aufsatz nennt er dieses Verhalten „Die fliehende Uni“. Spitze Sätze haben den Nachteil, dass sie sich nicht abschalten lassen. Der Held füllt seine Wohnung mit Kontemplation aus, bis er hört, wie Gras zu Heu verdorrt. (75)

Allmählich überwuchert die Geschichte vom unbekannten Halbbruder die Gegenwart, die gekennzeichnet ist von einem lauernden Verhältnis zu einer Institutskollegin, mit der sich vielleicht ein Verhältnis ergeben könnte. Aber selbst das längste Zaudern wird abrupt beendet, diese Kollegin „verschaut“ sich einfach in einen anderen, und die Geschichte ist somit aus.

Die andere freilich wird übermächtig. Als Student hat Gregor Leirich einmal ein Stück über die „Existenz eines Nichtvorhandenen“ geschrieben, jetzt forscht er über seinen Vater in der eigenen Erinnerung und anhand eines Aufsatzes, den dieser zur Pensionierung als Gemeindesekretär verfasst hat. Darin wird die Nachkriegszeit blumig als Zeit der Entbehrung und des Aufbruchs beschrieben, die als Belohnung einen guten Posten ausspucken konnte. Für den Helden freilich lassen sich die Fünfziger Jahre zusammenfassen mit jener Petitesse, wonach jeder Hut getragen hat. Die 1950er sind eine Hut-Epoche. (174)

Vater hat also zu Kriegsbeginn ein Verhältnis mit einer Frau gehabt, aus dem der Halbbruder stammt. Jetzt muss nicht nur die Zeitgeschichte, sondern auch die Familiengeschichte neu geschrieben werden. Erster Schritt: Das Anlegen eines Ordners. Zweiter Schritt: Aufsuchen der Landesbibliothek, die den Zeitgeschichtler mit einer Pointe abzulenken versucht: „Eines Tages hatte Wieser plötzlich zu lachen begonnen, direkt an seiner Arbeitsstätte, der Buchausgabe in der Landesbibliothek. Er hatte nicht mehr mit dem Lachen aufgehört und war dann in die Nervenklinik eingeliefert worden.“ (243)

Und dabei ist alles so einfach. Leirich ruft bei seinem Halbruder an, dieser ist sofort zugänglich, als hätten die beiden immer schon zusammengelebt unter dem Erinnerungsdach des Vaters. Die wichtigsten Daten werden ausgetauscht, der Bruder Johann ist VOEST-ler geworden, eine Traumkarriere für diesen Jahrgang aus den 1940er Jahren. Die ersten Gespräche verlaufen nach der Methode Zeitgeschichte: Qualitatives Interview.

Als die Biographien ausgetauscht und die offiziellen Darstellungsweisen ausgewählt sind, kommt es zu einem größeren Verwandtschaftstreffen, wobei alle Generationen mit einander bekannt gemacht und versöhnt werden.

Bei dieser Gelegenheit darf Johannes erstmals seine persönliche Geschichte erzählen, ohne vom Historiker gestört zu werden. Dieser fragt sich bloß, ob man als Sohn den Vater als Alkoholiker bezeichnen darf, wenn die Faktenlage danach ist. Eine Schwester bringt die neue Familienaufstellung auf den Punkt: Es gäbe Dinge, über die wir lieber ein Leben lang schwiegen. (279)

Nachdem alles neu geordnet ist, gilt es, die Zukunft anzutreten. Leirich spielt in dieser Nacht besonders erinnerungsstarke Stücke, denn die Melancholie ist neben den Listen eine gute Methode, eine Sache in den Griff zu kriegen.

Rudolf Habringer erzählt voller Mitgefühl über eine Generation, die nichts erlebt hat, weil alles schon abgegrast und erforscht ist von der großen Aufarbeitungswelle über die Nachkriegszeit. Dabei ist das Bewältigen der puren Zeit die größte Aufgabe, die ein Mensch meistern kann.

Rudolf Habringer: Leirichs Zögern. Roman.
Salzburg: Otto Müller 2021. 300 Seiten. EUR 25,-. ISBN 978-3-7013-1284-9.


Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar