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Helmuth Schönauer bespricht:
Robert Menasse
Die Erweiterung
Roman

Der sogenannte Europa-Roman ist gleich zweimal definiert. Einmal als Roman, der sich um das politische Europa der Gegenwart kümmert, das seinen Sitz wie frühere Pfalzen überall am Kontinent hat, und zum zweiten als literarisches Genre.

Der Europaroman ist ein auf DIN-A-Brüssel geeichtes Textkonglomerat, das mit austauschbaren Elementen von jeder Übersetzungsmaschine in alle Sprachen der Mitgliedsländer leicht übersetzt werden kann.

Robert Menasse liefert mit voluminösen Bausteinen in „Ziegelgröße“ Material zum Bau dieser Pyramide, die sich EU nennt.

Im Roman „Die Hauptstadt“ (2017) geht es wohl um das historische Fundament der EU. Wie kann ein politisches Gebilde in Europa gelingen, wenn es nicht stets mit seinem größten Desaster, dem Holocaust, in intellektueller Auseinandersetzung steht?

Die Lektüre hat dann auch zu heftigen Diskussionen geführt, weil die Grenze zwischen Fiktion und gesichertem Fakt freizügig gehandhabt wurde. „Mei, er ist halt ein Schlamperer“, lautet die Verteidigung seiner Fans, als debattiert wird, ob man einer scheinbar historisch gesicherten Person aus der Gründerzeit der EU eine Phrase der Wiederbetätigung in den Mund legen darf, weil es einfach gut ins Konzept des Romans passt.

Dieses Konzept könnte man schlampig rezensieren mit: Die Guten sind die Sozialisten, weil sie die internationale Humanität auf die EU anwenden, die Schlechten sind die nationalen Rechten, weil sie im Zweifelsfalle für die Nation zum Schaden der EU plädieren, landläufig wird diese Haltung Populismus genannt.

So wird wohl auch der zweite Teil der nach oben hin offenen EU-Saga wieder heiß diskutiert, ist doch die Thematik von vornherein auf dieses zweischneidige Schwert Nationalismus versus EU angelegt.

Im Roman „Die Erweiterung“ (2022) geht es um die Aufnahme Albaniens in die EU, die dichotome Diskussion ist vorprogrammiert.

Im Prolog wird freilich wundersam verschmitzt erzählt, warum es für manche Themen einfach einen Roman braucht, um eine verzwickte Sache zu erörtern.

In der Eingangsszene steht ein Zwei-Meter-Mann in der Rüstungskammer in Wien und begutachtet den Skanderbeg-Helm. Er ist überzeugt, dass jede Geschichte eine Angelegenheit von Zwergen ist, wenn sie final mit ihren Insignien und Artefakten in der Vitrine liegt.

Geschichte erweist sich als ein eingebildetes Größenverhältnis mit Ablaufdatum. Just als der schauende Riese das Wesen der Geschichte begriffen hat, kommt nämlich eine Aufseherin mit der Meldung, dass in fünf Minuten geschlossen wird.

Alles, was in den nächsten sechshundert Seiten erzählt wird, handelt also von zwergenhaften Verhältnissen mit Ablaufdatum.

Der Plot ist als ausgefranstes Tragseil gedacht, das jederzeit reißen kann. An der weiten Erzähloberfläche spielt sich das dramatische Thema ab, wie kann die EU erweitert werden, ohne zusammenzubrechen.

An der fransigen Tiefenstruktur knabbern an dem Thema hunderte Beamte, die teilweise nichts anderes im Sinn haben, als mit rhetorischen Schwüngen durch die eigene Wohlbefindlichkeit zu surfen.

Empfänge, Liebschaften, Standardsex und Statussex, Hotels, Flüge, Netzverbindungen – wer das alles erzählen müsste, bräuchte mindestens 27 Leben, um dem beamteten Geist Europas auf die Schliche zu kommen.

So verliebt sich bei der Vorbereitung auf Albanien ein Beamter gleich einmal in eine einheimische Frau, die wahrscheinlich kalkuliert auf ihn angesetzt ist. Auf höherer Ebene spielt das polnische Aktivismus-Paar Adam und Matteusz das Schwarzweiß-Spiel national gegen europäisch. Die beiden sind im Geiste der Solidarność eine Blutsbrüderschaft eingegangen und müssen feststellen, dass sie jetzt mit ihrem Widerstandsschwur von damals beide am Ende sind.

Und auf ganz höchster Ebene treten staatstragende Figuren auf und legen ein Veto ein. In diesem Fall ist es der französische Präsident, der sich gegen eine Aufnahme Albaniens ausspricht.

Die Maßnahmen sind auf allen Ebenen vorgegeben, unten wird mit Hilfe des Hormonspiegels intrigiert, oben wird auf Konferenzen und Kreuzfahrten öffentlich geglänzt.

So wird eine Konferenz in Posen vorbereitet, die der literarisch lüsterne Leser durchaus mit einer Musil’schen Parallelaktion aus dem Mann ohne Eigenschaften deuten könnte. (Menasse ist ausgewiesener Musilist!)

Bei der Vorbereitung kommt es zu einer unangenehmen Szene, ein Widerstandskämpfer schreibt einen Brief an die Regierung, lässt ihn am Postamt abstempeln und verbrennt sich anschließend samt seinem Kanister.

Diese unrunde Kommunikation zwischen den regionalen und hierarchischen Achsen durchzieht den Roman wie die hochgelobte Marmorierung eines besonders fleischigen politischen Proteinstücks.

Der Plot wird zu einem makaberen Gag, als die albanischen EU-Aspiranten die Brüsseler Spitzen auf ein Kreuzfahrtschiff einladen und jene Route abfahren, auf der üblicherweise Migrierende in die EU zu gelangen versuchen. Europa als gepanzertes Kreuzfahrtschiff – auch hier lässt es sich wieder jahrelang erzählen.

Das Besondere am europäischen Stoff ist es, dass er Tag und Nacht über uns hereinbricht und unser Leben verkleistert zu einem politischen Überlebensbrei, den wir ähnlich dem Schlaraffenland Tag für Tag zu durchfressen haben.

Während der zweiten Lektüre im Advent 2022 tauchten an einem Tag drei Meldungen am Display des Rezensenten auf:
– Wolf frisst Pony der Präsidentin der europäischen Kommission. Hoffnung auf Abschussmöglichkeit für Wölfe wächst.
– Österreichischer Innenminister macht ein Veto gegen Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens in der Hoffnung, die Balkanroute zu schließen. Sparer in den betroffenen Ländern ziehen ihr Geld von der Raika ab.
– Hausdurchsuchung bei einer von vierzehn Vizepräsidentinnen des europäischen Parlaments. Behörde hofft, noch mehr Geldsäcke mit vermutetem Schmiergeld in den diversen Dienstwohnungen zu finden.

Der EU-Roman erzählt sich in Realität weiter, während man die fiktionale Fassung Menasses studiert.

Für beide Welten, die tagespressliche und die romanhafte, sind freilich die sechs Thesen gut zu verwenden, mit denen der Autor seinen Romanziegel in Kapitel untergliedert hat.

Erster Teil. Das Ganze und seine Gegenteile. (15)
Zweiter Teil. Als Tragödie, als Farce, als ob. (113)
Dritter Teil. Fügungen. (307)
Vierter Teil. Wenn das Lose abblättert vom Besinnungslosen. (385)
Fünfter Teil. Der Exkurs ist die kürzeste Verbindung von zwei Fluchtpunkten. (431)
Sechster Teil. Code Alpha. (553)

Der im Prolog angesprochene Schutzhelm des Kriegsherrn Skanderbeg (1405–1468) soll heute noch in Albanien massenwirksam sein, gilt er doch als Nationalheld, der einem Fußballgott ähnlich das Land in die nächste Liga führen kann.

Robert Menasse: Die Erweiterung. Roman.
Berlin: Suhrkamp 2022. 652 Seiten. EUR 28,80. ISBN 978-3-518-43080-4.
Robert Menasse, geb. 1954 in Wien, lebt in Wien.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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