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Helmuth Schönauer bespricht:
Peter Sloterdijk
Den Himmel zum Sprechen bringen
Über Theopoesie.

In einem von Pädagogen und Psychologen getränkten Literaturbetrieb bleibt letztlich nur mehr der Infantilismus, um sich auszudrücken. Alles, was sich nicht kindgemäß sagen lässt, scheint überflüssig und wertlos zu sein. Selbst die größten Dinge zwischen Himmel und Erde müssen zu Zwitschern zurechtgestutzt werden, ohne dass daraus wenigstens Vogelklang entstünde.

Peter Sloterdijk gilt mit seiner apokalyptischen Genesis „Kritik der zynischen Vernunft“ (1983) als Jahrhundertphilosoph, legendär ist etwa das Bild von der Atombombe, die man nicht verwenden, schauen oder berühren darf, weil sonst die Erde in die Luft fliegt. Diese Bombe lässt sich nur mehr aus der Ferne anbeten mit der Hoffnung, dass sie nichts hört und ohne Reaktion bleibt.

In einer Welt des Infantilismus und des klimatischen Schreckens schreibt Peter Sloterdijk quasi ohne jeglichen Nutzen über „Theopoesie“, was man mit göttliche Dichtung, Literatur der Götter oder verzückte Sprache übersetzen könnte.

„Den Himmel zum Sprechen bringen“ geht unter anderem der Frage nach, ob es nicht vielleicht literarisch schlaue Menschen gewesen sind, die Götter samt Sprache und Poesie erfunden haben, weil das mehr Wirkung zeigt, als wenn sie selbst ihre Ideen vortrügen. Die Theopoesie beschreibt also das genaue Gegenteil des gegenwärtigen Literaturbetriebs, wo medial aufgeheizte Individuen den Horizont des Alltags besingen; die Saga vom sprechenden Firmament ist daher auf dreihundert Seiten ein einziges monumentales Ereignis für den Leser.

Angesichts der scheinbaren Weltabgewandtheit des Werks versagen die gängigen Methoden des Rezensierens. Alles, was man zusammenfasst, überliest oder assoziiert, wäre letztlich eine Vereinfachung Marke Infantilismus. Daher empfiehlt sich bei solchen Mammuts die „Methode eineinhalb“, man liest das Buch zuerst bis zur Hälfte in einem Zug, ohne Notizen, Ablenkungen oder Ausschweifungen. Es geht vorerst nicht um die einzelnen Sätze, sondern um den Bewusstseinsstrom, der verlässlich zu wallen beginnt, wenn man ihm genug Zeit lässt.

Dieses Lesen führt zu einer Art Trance, man kann zwar das Gelesene nicht beschreiben, aber man versteht: hier spricht etwas, vielleicht ist es gar der Himmel selbst, der spricht.

Nach diesem halben Durchgang kann man mit der genaueren Lektüre beginnen. Das Verfahren lässt sich auch umgekehrt anwenden, zuerst das Ganze in Trance und dann die Hälfte genau lesen. Wichtig ist letztlich die saubere Trennung zwischen Leserausch und Leseernüchterung. Denn darum geht es, wenn die Götter selber sprechen oder durch Reizmittel vom Menschen zum Sprechen gebracht werden.

Was in den zwanzig Kapiteln der Theopoesie genauer drinsteht, tritt vorerst als immenser Lektürespeicher in Erscheinung, der scheinbar frei aus dem Kopf heraus erzählt und abgearbeitet wird. Zwar sind die einzelnen Thesen genau belegt und entsprechen wissenschaftlichem Standard, aber der Erzählfluss überrumpelt jede Fußnote und zieht wie Lava aus dem Kegel talwärts an ein Meer.

Obwohl der Text sich an einen durchgehenden roten (Lava-)Faden hält, sind die einzelnen Erzählungen als Loops oder Kreisel zu verstehen, die ineinander stecken und sich zuarbeiten.

Die Kapitelüberschriften können als Kategorien gelesen werden: Götter am Theater | Götter darstellen | Himmelsbewohner | Plausibilität | Offenbarung suchen und finden | wenn Götter sterben | Götterdämmerung.

Diese Übermotive werden einerseits chronologisch abgearbeitet, also von den Ägyptern bis hin zum Supermarkt, gleichzeitig aber an Personen und Deutern festgemacht, also von Platon über Augustinus bis hin zum „Kinogeher“ von Walker Percy, der etwa den staunenden Peter Handke beeinflusst hat.

Zwei Kapitel sind als klassische Werkdeutungen aufgebaut: mit der Behauptung „Religion ist Unglaube“ kommt der Dogmatiker Karl Barth zu Wort, „im Garten der Unfehlbarkeit“ gewährt den Ideen des Exegeten Heinrich Denzinger Auslauf.

Gleich zu Beginn wird ja der Himmel als etwas definiert, was nichts mit den Astronomen oder Astrologen zu tun hat, sondern mit Zelt, Höhle oder Gewölbe. Wie diese Himmelsausprägungen in der Poesie wirken, zeigen die letzten Kapitel, wo es um Lob, Geduld und Übertreibung geht.

Jede Himmelsgeschichte preist zuerst das Vorhandene nach dem Motto „und sah, dass es gut war“, ehe sie um Geduld bittet, dass das Heil zwar unterwegs ist, aber sich irgendwo verhockt hat, und bis es eintrifft, wird mit Verheißungen und Übertreibungen gearbeitet, alles wird quasi in Cinemascope in Erscheinung treten.

Wie bei einem großen Speicher üblich, ist genug für jeden da, der ihn anzapft. In Peter Sloterdijks beinahe barockem Himmelsgemälde soll sich jeder für sich seinen ansprechenden Teil herausholen. Da die Erzählstrategie eine quer-verbindende ist, wimmelt es von Analogien, die einen von einem Thema ins nächste holen, „die Analogie ist das Bindegewebe zwischen den Dingen“, heißt es lapidar.

Dabei sind sowohl die einzelnen Bilder als auch die Sätze höchst einprägsam und auf Dauer angelegt. Das Wesen des Pharao etwa wird mit einem irdischen Außenposten verglichen, der ununterbrochen mit der Sonne als Cloud korrespondiert. Über das Wunder heißt es, dass es in der heutigen Sprache als Populismus bezeichnet wird. Jemand lässt etwas ohne Grund geschehen, um das Volk zu beeindrucken.

Ein Dreieck wird von einem Dreieck erzählen, wenn es einen Gott braucht, in China ist das Individuum durch digitale Überwachung eingespannt in den Himmel der kollektiven Harmonie, jährlich sterben Dutzende Sprachen aus, und mit ihnen geht auch jeweils ein Gott unter, der in der nun verschollenen Sprache gesessen hat.

Plötzlich hat der Himmel die Regie übernommen und erzählt alles von seiner Warte aus. Peter Sloterdijks Unterfangen ist scheinbar purer Luxus, aber gerade deshalb hilft es beim trockenen Überleben in einer infantilisierten Zeit.


Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie.
Berlin: Suhrkamp 2020. 344 Seiten. EUR 24,30. ISBN 978-3-518-42933-4.
Peter Sloterdijk, geb. 1947, lebt in Karlsruhe. „Jahrhundertphilosoph“

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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